Kapitel XXI.
De rhetorismo
oder
Von Gebärden und Bewegungen beim Reden

[93] Ja, es war auch eine rhetorische Springkunst, dieser nicht gar ungleich, jedoch etwas gelassener, welche Sokrates, Plato, Cicero, Quintilianus und die meisten unter den Stoikern sehr für nützlich und denen Rednern für notwendig gehalten, nämlich daferne dieselbe in einer feinen geschickten Gestalt des Leibes, und zugleich in einer hübschen Miene des Gesichtes bestehet, also wenn dasjenige, was vorgebracht, mit einem sonderlichen Blick der Augen und gravitätischem Gesichte durch die Aussprache der Stimme artlich akkommodiert wird.

Diese Kunst aber ist endlich bei den Rednern so hoch gestiegen, dass der Augustus den Tiberius erinnert, er sollte mit dem Munde und nicht mit den Fingern reden, dahero sie nunmehr ganz abgeschaffet und nur noch von etlichen Pfaffenkomödianten (ob schon für Zeiten Schauspieler von der Kirche zu dem heiligen Abendmahl nicht sind zugelassen worden) geehret wird, welches wir doch noch heutiges Tages sehen, dass viele von den Kanzeln mit einer sonderlichen[93] Stimme, mit veränderlichem Gesicht, mit rumvagierenden Augen, mit erhobenen Armen, mit springenden Füssen und leichtfertig zuckenden Lenden und andern Sitten, mit Umdrehungen und Verkehrungen, Beugungen und Bewegungen des ganzen Leibes und Gemütes die gemeinen Predigten zu dem Volke abgehen lassen; und gedenken vielleicht an den Schlusssatz des Demosthenis, welcher, als er gefragt wurde, welches im Reden das Kräftigste wäre, hat geantwortet: die Heuchelei. Und als er zum andern und drittenmal gefragt worden, hat er geantwortet: die Heuchelei, welche hierin die meiste Kraft hat. Aber damit wir von der Messkunst nicht zu weit abkommen, so wollen wir wiederum zur Geometrie eilen.[94]

Quelle:
Agrippa von Nettesheim: Die Eitelkeit und Unsicherheit der Wissenschaften und die Verteidigungsschrift. München 1913, Band 1, S. 93-95.
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