Kapitel LXXXVI.
De anatomistica
oder
Von der künstlichen Zerteilung menschlicher Gliedmassen

[99] Die Chirurgie aber wird von der Anatomie mit ihrer Grausamkeit weit übertroffen, und ist diese eine rechte Carnifizin oder Schlächterei und Stockmeisterei der Heilkunst und Wundarzneikunst, dadurch vor Zeiten diejenigen, so öffentlich zum Tode verdammet worden, lebendig, und da sie noch ihre Lebensgeister gehabt, mit erschrecklichen Peinigungen sind sezieret und anatomieret worden. Heutiges Tages aber ist man wegen schuldiger Reverenz zur christlichen Religion etwas gelinder worden, und erst wann der Mensch durch den Arzt selbst oder durch des Henkers Hand ist ums Leben gebracht, dann erst wird in des Menschen Kadaver mit dieser unverantwortlichen Sünde grassieret und gewütet, des Menschen Leib zerfleischet, und insonderheit der Gliedmassen Sitz, Ordnung, Grösse, Wirkung, Natur und was sonsten verborgen ist, durchwühlet und durchgrübelt, und haben sie dadurch, wie man recht kurieren solle, lernen wollen, aber fürwahr mit einem schändlichen Fleiss und zu einem abscheulichen und ganz grässlichen Spektacul.[99]

Quelle:
Agrippa von Nettesheim: Die Eitelkeit und Unsicherheit der Wissenschaften und die Verteidigungsschrift. München 1913, Band 2, S. 99-100.
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