Die Lehre von der Seelenwanderung.

[90] Chândogya-Upanishad 5,3–10.


Entsprechend dem Goethe'schen Worte: »Des Menschen Seele gleicht dem Wasser, vom Himmel kommt es, zum Himmel steigt es und wieder nieder zur Erde muss es, ewig wechselnd«, wird hier 1. das Herabkommen der Seele vom Himmel (die fünf Opferungen), 2. ihr Emporsteigen nach dem Tode auf dem Götterwege und Väterwege und 3. ihre notwendige Rückkehr vom letzteren zum Erdendasein geschildert.


1. Es begab sich, dass Çvetaketu, Sohn des Âruṇi, zu einer Versammlung der Pañcâla's ging. Da sprach zu ihm Pravâhaṇa, Sohn des Jîbala:

»Knabe, hat dich dein Vater belehrt?«

– »Jawohl, Ehrwürdiger«, sprach er.

2. »Weisst du, wohin von hier die Geschöpfe gelangen?«

– »Nein, Ehrwürdiger«, sprach er.

»Weisst du, wie sie wiederum hierher zurückkehren?«

– »Nein, Ehrwürdiger«, sprach er.

»Weisst du die Wegscheiden der beiden Pfade, des Götterweges und des Väterweges?«

– »Nein, Ehrwürdiger«, sprach er.

3. »Weisst du, wie es kommt, dass jene Welt nicht voll wird?«

– »Nein, Ehrwürdiger«, sprach er.[90]

»Weisst du, wie bei der fünften Opferung die Wasser mit Menschenstimme redend werden?«

– »Auch nicht, Ehrwürdiger«, sprach er.

4. »Nun denn, wie hast du behauptet, belehrt worden zu sein? Wer diese Fragen nicht beantworten kann, wie kann der erklären, belehrt worden zu sein?«

Da ging er erhitzt dorthin, wo sein Vater war, und sprach zu ihm:

»So hast du also, ohne mich belehrt zu haben, behauptet, Ehrwürdiger, du habest mich belehrt!

5. Fünf Fragen hat mir der Königsmann gestellt, von denen habe ich nicht eine beantworten können.«

Jener erwiderte: »Wie du mir soeben dieselben mitgeteilt hast, [muss ich bekennen,] dass ich deren auch nicht eine weiss. Wenn ich sie selbst gewusst hätte, wie würde ich sie dir nicht gesagt haben?«

6. Da ging der [Vater] Gautama dorthin, wo der König war. Der empfing ihn, als er anlangte, ehrenvoll. Am andern Morgen, als der König zur Audienzhalle ging, trat jener zu ihm heran. Und der König sprach zu ihm: »Ehrwürdiger Gautama, vom Gute, wie Menschen es begehren, wähle dir eine Gabe.« – Er aber sprach: »Das Gut, o König, wie Menschen es begehren, behalte für dich. Aber die[91] Rede, die du in des Knaben Gegenwart vorbrachtest, die erkläre mir!«

7. Da kam der König in eine schlimme Lage und bedeutete ihn, dass er noch eine Zeitlang warten möge. Dann sprach er zu ihm: »Weil, wie du mir, o Gautama, gesagt, diese Lehre vordem und bis auf dich nicht bei den Brahmanen in Umlauf ist, darum eben ist in allen Welten das Regiment bei dem Kriegerstande geblieben.«

Und er sprach zu ihm: 4,1. »Fürwahr, jene Welt, o Gautama, ist ein Opferfeuer; die Sonne ist sein Brennholz, die Strahlen sein Rauch, der Tag seine Flamme, der Mond seine Kohlen, die Sterne seine Funken. 2. In diesem Feuer opfern die Götter den Glauben. Aus dieser Opferspende entsteht der König Soma.

5,1. Fürwahr, Parjanya, o Gautama, ist ein Opferfeuer; der Wind ist sein Brennholz, die Wolke sein Rauch, der Blitz seine Flamme, der Donnerkeil seine Kohlen, die Schlossen seine Funken. 2. In diesem Feuer opfern die Götter den König Soma. Aus dieser Opferspende entsteht der Regen.

6,1. Fürwahr, die Erde, o Gautama, ist ein Opferfeuer; das Jahr ist sein Brennholz, der Äther sein Rauch, die Nacht seine Flamme, die Himmelspole die Kohlen, die Zwischenpole die Funken. 2. In diesem Feuer opfern die Götter den Regen. Aus dieser Opferspende entsteht die Nahrung.[92]

7,1. Fürwahr, der Mann, o Gautama, ist ein Opferfeuer; die Rede ist sein Brennholz, der Odem sein Rauch, die Zunge seine Flamme, das Auge seine Kohlen, das Ohr seine Funken. 2. In diesem Feuer opfern die Götter die Nahrung. Aus dieser Opferspende entsteht der Same.

8,1. Fürwahr, das Weib, o Gautama, ist ein Opferfeuer; der Schoss ist sein Brennholz, dass man sie anspricht der Rauch, die Scham die Flamme, die Einfügung die Kohlen, das Lustgefühl die Funken. 2. In diesem Feuer opfern die Götter den Samen. Aus dieser Opferspende entsteht die Leibesfrucht.

9,1. Also geschieht es, dass bei der fünften Opferung die Wasser mit Menschenstimme redend werden.

Nachdem der Embryo, von der Eihaut umhüllt, zehn Monate, oder wie lange es ist, im Innern gelegen, so wird er geboren.

2. Nachdem einer geboren, so lebt er, solange die Lebenszeit ist. Nachdem er gestorben, so tragen sie ihn von hier zu seiner Bestimmung ins Feuer, woher er gekommen, woraus er entstanden ist. 10,1. Die nun, welche solches wissen, und jene, welche im Walde mit den Worten: ›Der Glaube ist unsre Askese‹ Verehrung üben, die gehen ein in die Flamme [des Leichenfeuers], aus der Flamme in den Tag, aus dem Tage in die lichte Hälfte[93] des Monats, aus der lichten Hälfte des Monats in das Halbjahr, wo die Sonne nordwärts gehet,

2. aus dem Halbjahre in das Jahr, aus dem Jahre in die Sonne, aus der Sonne in den Mond, aus dem Monde in den Blitz; – daselbst ist ein Mann, der ist nicht wie ein Mensch, der führet sie hin zu Brahman. Dieser Pfad heisst der Götterweg.

3. Hingegen jene, welche im Dorfe mit den Worten: ›Opfer und fromme Werke sind unser Tribut‹ Verehrung üben, die gehen ein in den Rauch [des Leichenfeuers], aus dem Rauche in die Nacht, aus der Nacht in die dunkle Hälfte des Monats, aus der dunkeln Hälfte des Monats in das Halbjahr, wo die Sonne südwärts gehet; diese gelangen nicht in das Jahr, 4. sondern aus dem Halbjahre in die Väterwelt, aus der Väterwelt in den Äther, aus dem Äther in den Mond; der ist der König Soma, und er ist die Speise der Götter, die verzehren die Götter.

5. Nachdem sie dort, solange noch ein Bodenrest [ihrer guten Werke] vorhanden ist, geweilt haben, so kehren sie auf demselben Wege wieder zurück, wie sie gekommen, in den Äther, aus dem Äther in den Wind; nachdem einer Wind geworden, wird er zu Rauch, nachdem er Rauch geworden, wird er zu Nebel,

6. nachdem er Nebel geworden, wird er zur Wolke, nachdem er Wolke geworden, regnet er[94] herab. Solche werden hienieden als Reis und Gerste, Kräuter und Bäume, Sesam und Bohnen geboren. Daraus freilich ist es schwerer herauszukommen; denn nur wenn ihn einer gerade als Speise verzehrt und als Samen ergiesst, so kann er sich daraus weiter entwickeln (tad bhûya' eva bhavati).

7. Welche nun hier einen erfreulichen Wandel haben, für die ist Aussicht, dass sie in einen erfreulichen Mutterschoss eingehen, einen Brahmanenschoss oder Kshatriyaschoss oder Vaiçyaschoss; – die aber hier einen stinkenden Wandel haben, für die ist Aussicht, dass sie in einen stinkenden Mutterschoss eingehen, einen Hundeschoss, oder Schweineschoss, oder in einen Caṇḍâlaschoss.

8. Aber auf keinem dieser beiden Wege befindlich sind jene winzigen, immerfort wiederkehrenden Wesen, bei denen es heisst: ›werde geboren und stirb‹. Dieses ist der dritte Ort.

Darum wird jene Welt nicht voll.

Darum soll man sich hüten! – Darüber ist dieser Vers:


9.

Der Dieb des Goldes und der Branntweintrinker,

Brahmanenmörder, Lehrers Bett Beflecker,

Die vier und fünftens, wer mit ihnen umgeht, stürzt.


10. Aber hingegen, wer also diese fünf Feuer kennt, der fürwahr, und wenn er mit ihnen umginge, wird vom Bösen nicht besudelt,[95] sondern lauter bleibt er und unbefleckt in der Welt der Reinen, wer solches weiss, – wer solches weiss.«

Quelle:
Die Geheimlehre des Veda. Leipzig 1919, S. 90-96.
Lizenz:

Buchempfehlung

Hoffmann, E. T. A.

Die Serapionsbrüder

Die Serapionsbrüder

Als Hoffmanns Verleger Reimer ihn 1818 zu einem dritten Erzählzyklus - nach den Fantasie- und den Nachtstücken - animiert, entscheidet sich der Autor, die Sammlung in eine Rahmenhandlung zu kleiden, die seiner Lebenswelt entlehnt ist. In den Jahren von 1814 bis 1818 traf sich E.T.A. Hoffmann regelmäßig mit literarischen Freunden, zu denen u.a. Fouqué und Chamisso gehörten, zu sogenannten Seraphinen-Abenden. Daraus entwickelt er die Serapionsbrüder, die sich gegenseitig als vermeintliche Autoren ihre Erzählungen vortragen und dabei dem serapiontischen Prinzip folgen, jede Form von Nachahmungspoetik und jeden sogenannten Realismus zu unterlassen, sondern allein das im Inneren des Künstlers geschaute Bild durch die Kunst der Poesie der Außenwelt zu zeigen. Der Zyklus enthält unter anderen diese Erzählungen: Rat Krespel, Die Fermate, Der Dichter und der Komponist, Ein Fragment aus dem Leben dreier Freunde, Der Artushof, Die Bergwerke zu Falun, Nußknacker und Mausekönig, Der Kampf der Sänger, Die Automate, Doge und Dogaresse, Meister Martin der Küfner und seine Gesellen, Das fremde Kind, Der unheimliche Gast, Das Fräulein von Scuderi, Spieler-Glück, Der Baron von B., Signor Formica

746 Seiten, 24.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon