Der zweifache Weg

[95] ›Die, welche diese Kenntnis haben, und jene, die im Walde Glauben und Wahrheit üben, diese gehen in die Flamme ein, aus der Flamme in den Tag, aus dem Tage in die lichte Hälfte des Monats, aus der lichten Hälfte des Monats in die sechs Monate, während denen die Sonne nordwärts geht, aus den Monaten in die Götterwelt, aus der Götterwelt in die Sonne, aus der Sonne in das Blitzfeuer. Daraus naht diesen ein geistiger Mann und bringt sie in die Brahmawelt. Sie wohnen[95] in den Brahmawelten bis in die weitesten Fernen. Von dort kehren sie hierher nicht mehr zurück.

Aber die, welche durch Opfer, Freigebigkeit und Askese die Welt gewinnen, diese gehen in den Rauch ein, aus dem Rauch in die Nacht, aus der Nacht in die dunkle Hälfte des Monats, aus der dunklen Hälfte des Monats in die sechs Monate, während denen die Sonne südwärts geht, aus den Monaten in die Manenwelt, aus der Manenwelt in den Mond, sie gelangen in den Mond und werden Speise. Wie den König Soma mit den Worten »Schwill an«, »Nimm ab«, so genießen die Götter diese dort. Wenn das für sie zu Ende ist, so gehen sie in den Äther ein, aus dem Äther in den Wind, aus dem Wind in den Regen, aus dem Regen in die Erde; wenn sie zur Erde gelangt sind, so werden sie Speise. In dieser Weise bleiben sie im Kreislauf. Aber die, welche diese beiden Wege nicht kennen, diese werden zu Würmern, Vögeln und Insekten aller Art.‹


(VI, 1)


In der Chândogya-Upanishad V, 10 lautet der parallele Abschnitt, der den Götter- und Manenweg beschreibt, folgendermaßen:


Die Leibesfrucht liegt zehn Monate oder wie lange es grade dauert in ihrer Hülle verborgen und wird dann geboren.

Ist einer geboren, so lebt er, solange er eben lebt. Wenn er gestorben ist, tragen sie ihn1 von hier zum Feuer, aus dem er gekommen ist, aus dem er entstanden ist.

Die, welche so wissen und im Walde Glauben und Kasteiung üben, die gehen in die Flamme (des Scheiterhaufens) ein, aus der Flamme in den Tag, aus dem Tage in die lichte Hälfte des Monats, aus der lichten Hälfte des Monats in die sechs Monate, während denen die Sonne nordwärts geht.

Aus den Monaten in das Jahr, aus dem Jahr in die Sonne, aus der Sonne in den Mond, aus dem Monde in den Blitz. Da bringt sie ein geistiger Mann zum Brahman. Das ist der Pfad, auf dem die Götter gehen.

Die, welche im Dorf Opfer, fromme Werke, Spenden üben,[96] diese gehen in den Rauch ein, aus dem Rauch in die Nacht, aus der Nacht in die dunkle Hälfte des Monats, aus der dunklen Hälfte des Monats in die sechs Monate, während denen die Sonne südwärts geht: diese erlangen nicht das Jahr.

Aus den Monaten in die Welt der Manen, aus der Welt der Manen in den Äther; aus dem Äther in den Mond. Das ist König Soma. Das ist die Speise der Götter. Ihn essen die Götter.

Wenn sie in ihm bis zum letzten Rest (ihrer früheren Werke) gewohnt haben, kehren sie auf demselben Wege, wie sie gekommen sind, wieder in den Äther zurück, aus dem Äther in den Wind; zu Wind geworden, werden sie zu Rauch; zu Rauch geworden, werden sie zu Nebel. Zu Nebel geworden, werden sie zur Wolke; zur Wolke geworden, regnen sie herab und werden als Reis oder Gerste, Pflanzen oder Bäume, Sesam oder Bohnen geboren. Daraus ist schwer zu entkommen. Wenn einer Speise ißt und Samen ergießt, dann entstehen sie aufs neue.

Die, welche hier lieblichen Wandels sind, haben die Aussicht, daß sie in einen lieblichen Schoß gelangen; in den Schoß eines Brahmanen, Kshatriya oder Vaishya. Die aber, die einen anrüchigen Wandel führen, haben Aussicht, daß sie in einen anrüchigen Schoß gelangen, den eines Hundes, Schweines oder Cândâla.

Aber auf keinen dieser beiden Pfade gehen diese kleinen, oftmals wiederkehrenden Wesen. ›Werde und stirb‹: das ist der dritte Ort. Darum wird jene Welt nicht voll. Darum soll man sich hüten. Hier sagt ein Shloka:

›Einer, der Geld stiehlt, der Surâ trinkt, das Lager seines Lehrers besteigt, einen Brahmanen tötet, diese vier gehen ihrer Kaste verlustig. Zu fünft der, der mit ihnen verkehrt.‹

1

dishtam lasse ich als zweifelhafte Lesart weg.

Quelle:
Upanishaden. Altindische Weisheit aus Brâhmanas und Upanishaden. Düsseldorf/Köln 1958, S. 95-97.
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