Die vier Zustände des Âtman

[216] Der Purusha hat vier Stätten: Nabel, Herz, Kehle, Kopf. Dort erglänzt das viergeteilte Brahman: im Wachen ist es Gott Brahman, im Schlaf Gott Vishnu, im Tiefschlaf Gott Rudra, als Turîya (»als Viertes«) ist es das Unversiegliche. Es ist Âditya und Vishnu und der Herr; es ist Purusha, der Hauch, Leben, das wachsame Feuer, was in dieser (vier) Mitte als das höchste Brahman selbst glänzt, manaslos, ohrlos, handlos, fußlos, ganz Licht1. Dort sind Welten nicht Welten, Götter nicht Götter, Veden nicht Veden, Opfer nicht Opfer, Mutter nicht Mutter, Vater nicht Vater, Schwiegertochter nicht Schwiegertochter, Cândâla nicht Cândâla, Asket nicht Asket, Büßer nicht Büßer, einzig erglänzt dort das höchste Brahman als Wonne. In dem Raum des Herzens wohnt es als Erkenntnis2... Nicht üben dort Götter, Propheten, Manen die Herrschaft. Allkundig ist der Erweckte. Im Herzen wohnen alle Götter, auf das Herz gründen sich alle Hauche, im Herzen ruhen Âtman und Licht[216] und die dreifache große Opferschnur [›im Herzen‹: im Intellekt ruht sie].

Er lege die Opferschnur an, das höchste Mittel der Läuterung, mit Prajâpati zusammen einst entstanden, das Leben gewährende, beste, reine. Die Opferschnur sei Kraft und Glut. Nachdem er sich bis auf den Schopf geschoren, mag ein Weiser die äußere Opferschnur ablegen. Das unversiegliche höchste Brahman ist die Opferschnur, die er anlegen soll ... Wer diese kennt, ist ein Weiser, der den ganzen Veda studiert hat. Alles ist in sie verwoben, wie Perlen in eine Schnur. Der Yogin, der den Yoga kennt und die Wahrheit erschaut, soll sie tragen. Die äußere Opferschnur mag der ablegen, der dem höchsten Yoga sich hingibt. Wer die Vertiefung in das Brahman als Opferschnur anlegt, ist einsichtig; nach deren Anlegung kann er nicht mehr befleckt und unrein werden. Die, die die Kenntnis als Opferschnur tragen und die Opferschnur im Herzen bewahren, das sind in der Welt die wahren Kenner der Lehre3 und die Träger der wahren Opferschnur ... Diejenigen Brahmanen u.a., die sich den vedischen Zeremonien hingeben, die sollen die gewöhnliche Opferschnur tragen; denn sie wird als Teil des Werkdienstes gelehrt. Wer einen Schopf aus Erkenntnis und eine ebensolche Opferschnur trägt, besitzt, wie die Brahmakundigen wissen, das ganze Brahmareich. Diese Opferschnur ist das höchste Gut; der dessen Kundige ist der Träger der wahren Opferschnur, der ist das Opfer, den kennt man als Opferer.

Der einzige Gott ist in allen Wesen verborgen, durchdringt alles und wohnt als Seele in allen Wesen, er wacht über alle Werke, wohnt über allen Wesen, ist Zeuge, Wächter, ganz für sich allein und frei von den (drei) Grundbestandteilen (guna) (= Shvet. VI, 11, S. 176). Der einzige Herr wohnt in allen Wesen; er macht die eine Form vielfach. Die Weisen, die ihn in ihrem Inneren wahrnehmen, haben ewiges Glück, nicht andere (= Shvet. VI, 12).[217]

Er mache sein Ich zum Unterholz, den Omlaut zum Oberholz und durch eifrige Anwendung der als Reibholz dienenden Versenkung wird er den Gott, wie das verborgene Feuer gewahren (= Shvet. 1, 14). Wie das Öl in Sesamkörnern, wie Butter in der Milch, wie Wasser im Stromlauf, wie Agni in den Reibhölzern, so entsteht in dem individuellen das bedingungslose Selbst, wenn man mittels Wahrhaftigkeit und Askese seinen Blick darauf richtet. Wie eine Spinne die Fäden aus sich spinnt und wieder in sich zurücknimmt, so geht und kehrt die Seele wieder im Traum und Wachen. Im Auge ruht sie beim Wachen, in der Kehle beim Schlaf, im Herzen beim Tiefschlaf, im Haupt als Turîya (als Zustand reinster Geistigkeit). Vor dem die Worte samt dem Verstande, ohne ihn zu erreichen, versagen, das ist der Wonnezustand der Einzelseele, nach dessen Erkenntnis der Weise Erlösung findet. Der Âtman, der alles durchdringt und, wie Butter in der Milch, in der Erkenntnis des Selbst und in dem Tapas wurzelt – das ist das Ziel der Brahma-Upanishad, das ist das Ziel der Brahma-Upanishad.


(II)

1

Schrader liest, was ich nicht für richtig halte, varjitam für viditam: ›als Licht bekannt‹.

2

Ich lasse einige Worte aus; die Lesarten in der Schraderschen Ausgabe scheinen teilweise aus Glossen zu bestehen. Die Worte yasminn idam sam ca vicarati usw. sind aus dem Verse yasminn idam sam ca vi caiti sarvam sa otaḥ usw. VSamḥ. 32, 8; Katha (L. v. Schroeder-Bühler, Wien 1898) und ähnlich Taitt.-Âr. X, 1, 3 entlehnt; tat sushiram â-kâsham ist eine Glosse zu âkâsham. Ich wage die verstümmelten Sätze nicht wiederzugeben.

3

Sûtra: Wortspiel; Sûtra ist ebensowohl ›Opferschnur‹ als Lehre (»Leitfaden«).

Quelle:
Upanishaden. Altindische Weisheit aus Brâhmanas und Upanishaden. Düsseldorf/Köln 1958, S. 216-218.
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