5. Ordnung des Staates

[50] Damit, daß, um den Staat zu ordnen, man unter allen Umständen erst sein Haus regeln muß, ist folgendes gemeint: Daß jemand, der seine Hausgenossen nicht erziehen kann, andere Menschen erziehen könnte, das gibt es nicht. Darum geht der Edle nicht hinaus über den Kreis seines Hauses und vollendet doch im ganzen Staat die Erziehung.[50]

Die Sohnesehrfurcht ist die Gesinnung, mit der man dem Fürsten dienen soll; die brüderliche Unterordnung ist die Gesinnung, mit der man seinen Vorgesetzten dienen soll; die väterliche Liebe ist die Gesinnung, mit der man die Menge leiten muß.

Im Rat an Kang12 heißt es (Schu Ging IV, 9, 9):


»Sei zu ihnen, wie man kleine Kindlein hütet!«


Was man wahrhaft mit dem Herzen sucht, das kann man vielleicht einmal nicht treffen, aber man kommt nicht weit davon ab. Ein Mädchen braucht nicht erst zu lernen, wie man Kinder aufzieht, ehe sie heiraten kann.

Wenn im Haus des ersten Mannes die Menschlichkeit herrscht, so blüht im ganzen Staat die Menschlichkeit. Wenn im Haus des ersten Mannes die Verträglichkeit herrscht, so blüht im ganzen Staat die Verträglichkeit. Wenn der erste Mann habgierig und hart ist, so kommt der ganze Staat in Aufruhr. So lösen sich die Wirkungen aus.

Das ist damit gemeint, wenn es heißt: »Ein Wort kann alles verderben; ein Mann kann den ganzen Staat festigen.«

Yau und Schun13 gingen der Welt voran mit Menschlichkeit, und das Volk ahmte ihnen nach. Gië und Dschou Sin gingen der Welt voran mit Grausamkeit, und das Volk ahmte ihnen nach. Was sie befahlen, widersprach dem, was sie (innerlich selbst) liebten; darum richtete das Volk sich nicht nach ihren Befehlen (weil kein persönlicher Wille hinter ihnen stand).

Darum sorgt der Edle dafür, daß er (eine Eigenschaft) erst selbst besitzt, ehe er sie von andern verlangt, und daß er einen Fehler erst selbst abgelegt hat, ehe er ihn an andern tadelt. Wenn er in seiner Persönlichkeit etwas birgt, das nicht mit dem Gesetz der Übertragung und des Mitgefühls stimmt, so ist es ausgeschlossen, daß er andere darüber aufklären kann. Darum beruht die Ordnung des Staates auf der Regelung des Hauses. – In den Liedern steht (I, I, 6, 3):


»Der junge Pfirsichbaum so schlank

steht dicht im Schmucke grünen Laubs.

Es zieht die Braut ins neue Heim.

Sie wird dem Haus zum Segen sein.«
[51]

Erst muß man seinen Hausgenossen zum Segen sein, dann erst kann man die Leute des Staates erziehen. – In den Liedern steht (II, II, 9, 3):


»Heil den Brüdern treu in Eintracht.«


Erst muß unter den Brüdern Heil in Eintracht sein, dann erst kann man die Leute des Staates erziehen. – In den Liedern steht (I, XIV, 3, 3):


»Sein Wandel frei von Fehlern

bringt alle Welt zurecht.«


Wer als Vater, Sohn, älterer oder jüngerer Bruder ein nachahmenswertes Beispiel gibt, dem ahmen die Leute nach.

Das ist damit gemeint, daß die Ordnung des Staates auf der Regelung des Hauses beruht.

12

Das Zitat aus dem Rat an Kang erläutert die rechte Gesinnung den Untertanen gegenüber, die für die Ordnung des Staates das Wichtigste ist. Zum Behüten von kleinen Kindern ist vor allem Liebe nötig. Das Volk muß ebenso liebevoll behandelt werden wie kleine Kinder. Eine Mutter, die für ihr Kind zu sorgen hat, läßt sich sein Wohl recht angelegentlich am Herzen sein, und so trifft sie instinktmäßig das Rechte.

13

Wie Yau und Schun die Vorbilder guter Herrscher waren, so waren Gië, der letzte Herrscher der ersten, und Dschou Sin, der letzte Herrscher der zweiten Dynastie, die Urbilder aller Schlechtigkeit. Beide haben durch ihre an Größenwahn grenzende Willkür und Grausamkeit ihre Dynastie zugrunde gerichtet.

Quelle:
Li Gi. Düsseldorf/Köln 1981, S. 50-52.
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