6. Friede auf Erden

[52] Damit, daß die Befriedigung der Welt auf der Ordnung des Staates beruht, ist folgendes gemeint: Wenn die Oberen die Greise ehren, so blüht im Volk die Kindesehrfurcht. Wenn die Oberen die Ältesten achten, so blüht im Volk die Brüderlichkeit. Wenn die Oberen sich der Waisen erbarmen, so vernachlässigt das Volk sie nicht. So hat der Edle den Weg der Anlegung des Winkelmaßes14.

Was du an deinen Oberen hassest, das tu nicht deinen Untergebenen an! Was du an deinen Unteren hassest, damit diene nicht deinen Oberen! Was du an deinem Vorgänger hassest, das hinterlasse nicht deinem Nachfolger! Was du an deinem Nachfolger hassest, damit folge nicht deinem Vorgänger! Was du an deinem Nachbar zur Rechten hassest, das füge nicht deinem Nachbar zur Linken zu! Was du an deinem Nachbar zur Linken hassest, das füge nicht deinem Nachbar zur Rechten zu! Das ist der Weg zur Anlegung des Winkelmaßes. – In den Liedern steht15 (II, II, 7, 3):


»Wie freut sich jeder an euch Fürsten,

die ihr des Volkes Eltern seid!«


Eltern des Volkes sein heißt: lieben, was das Volk liebt, und hassen, was das Volk haßt. – In den Liedern heißt es16 (II, IV, 7, 1):
[52]

»Wie steht der Südberg steil und hoch!

Wie ragen seine Felsengipfel!

Wie stolz und furchtbar seid Ihr, Herr!

Das ganze Volk sieht, was Ihr tut.«


Die leitenden Männer des Staates können nicht vorsichtig genug sein; wenn sie Übles tun, so geschieht Schreckliches in der Welt. – In den Liedern steht17 (III, I, 1, 6):


»Solange Yin das Volk nicht entfremdet,

stand dieses Herrscherhaus bei Gott in Gnaden.

Am Beispiel dieses Hauses mag man sehen,

wie schwer zu wahren dieses hohe Amt.«


Das heißt: Wer die Menge für sich hat, hat den Staat; wer die Menge verliert, verliert den Staat.

Darum achtet der Edle zuerst auf die Geisteskräfte; hat er die Geisteskräfte, so hat er die Menschen; hat er die Menschen, so hat er die Erde; hat er die Erde, so hat er die Güter; hat er die Güter, so hat er, was er braucht.

Die Geisteskraft ist die Wurzel, die Güter sind die Verzweigungen. Wer die Wurzel für etwas Äußerliches nimmt und die Verzweigungen für etwas Inneres, der streitet mit dem Volk und macht es zu Räubern. Darum: Wer die Güter sammelt, der zerstreut die Menschen; wer Güter ausstreut, der sammelt die Menschen.

Wie ein unrechtes Wort, das von uns ausgeht, uns ein unrechtes Wort einbringt, so werden Güter, die unrecht gewonnen sind, auch unrecht zerrinnen.

Im Rat an Kang heißt es (Schu Ging IV, 9, 23): »Die Bestimmung des Himmels ist nicht unabänderlich.« Das heißt: Wer gut ist, erlangt sie; wer nicht gut ist, verliert sie.

In den Urkunden von Tschu18 heißt es: »Im Lande Tschu gilt solches nicht für köstlich, nur die Güte gilt für köstlich.«

Fan, der Oheim des vertriebenen Fürsten Wen von Dsin19, sprach: »Ein landesflüchtiger Mann darf nichts für köstlich achten, nur die Liebe zu den Nächsten ist für ihn köstlich.«

In der Beschwörung von Tsin heißt es: »Wenn ich einen Diener habe, der wahr und einfach ist, ohne andre Fähigkeiten, aber mit einem offenen Sinn, der andre duldet, so daß er, wenn ein andrer eine Fähigkeit hat, sie ansieht, als hätte er sie selbst, wenn ein andrer eine besondere Weisheit zeigt,[53] er ihn im Herzen liebt, nicht nur es mit dem Munde äußert, sondern ihn wirklich gewähren läßt: der kann meine Söhne und Enkel und Volksscharen schützen, und es ist zu hoffen, daß er Nutzen bringt. Wenn aber einer auf die Fähigkeiten, die andre haben, eifersüchtig ist und sie haßt und einen, der eine besondere Weisheit zeigt, verfolgt und unterdrückt, so daß er nicht bekannt wird, und ihn nicht gewähren läßt: der kann nicht meine Söhne und Enkel und Volksscharen schützen. Er bedeutet eine Gefahr.«

Aber ein vollkommen gütiger Mann verbannt einen solchen zu den Wilden ringsum und erlaubt ihm nicht, gemeinsam mit andern in den mittleren Staaten zu leben. Das ist damit gemeint, wenn es heißt: »Nur ein gütiger Mensch kann die Menschen lieben und die Menschen hassen.«

Wer einen Würdigen sieht und nicht imstande ist, ihn zu erheben, wer ihn erhebt, aber nicht bevorzugen kann, der macht sich einer Unterlassung schuldig. Wer einen Untüchtigen sieht und kann ihn nicht absetzen, wer ihn absetzt, aber nicht entfernen kann, der macht sich einer Übertretung schuldig.

Wer aber liebt, was die Menschen hassen, und haßt, was die Menschen lieben, der empört sich gegen die menschliche Natur. Und das Unheil kommt sicher über seine Person.

Darum kennt der Edle einen großen Weg: Wer stets gewissenhaft und zuverlässig ist, dem gelingt es; wer stolz und hochmütig ist, dem mißlingt es.

Für die Erzeugung von Gütern gibt es einen großen Weg: Die Erzeugenden müssen möglichst zahlreich sein; die Verbrauchenden müssen möglichst wenig sein; die Herstellung muß möglichst rasch, der Verbrauch unterbrochen sein. So werden die Güter dauernd in genügender Menge vorhanden sein.

Dem Gütigen dienen die Güter zur Förderung des Lebens; dem Ungütigen dient das Leben zur Förderung der Güter.

Wenn die Oberen die Gütigkeit lieben, so werden die Unteren stets ihre Pflicht hochhalten. Wenn sie aber ihre Pflicht hochhalten, so werden sie sicher nicht ihre Arbeiten unvollendet liegenlassen. Und die Güter, die dann in Scheunen und Kammern liegen, sind alle ihre Güter.[54]

Mong Hiën Dsï20 sprach: »Wer Pferd und Wagen hält, sucht seinen Lebensunterhalt nicht mit der Zucht von Hühnern und Schweinen zu verdienen. Ein Haus, das für seine Ahnenopfer Eiskeller zur Verfügung hat, sucht seinen Lebensunterhalt nicht mit der Zucht von Rindern und Schafen zu verdienen. Eine Adelsfamilie mit hundert Kriegswagen hält keine erpresserischen Beamten. Lieber als erpresserische Beamte nimmt sie solche, die ihr sogar gelegentlich etwas entwenden.« Das ist damit gemeint, wenn es heißt: »Nicht Gewinn ist für ein Land Gewinn, sondern Gerechtigkeit ist Gewinn.«

Wer als Leiter eines Staates darauf aus ist, Güter für seinen Gebrauch zu erwerben, der gerät sicher unter den Einfluß von Gemeinen. Wenn er sie auch für tüchtig hält: wenn man Gemeine zur Leitung eines Staates benützt, so kommen mit ihnen zusammen Unheil und Schaden. Da kann dann auch der beste Mann nichts dagegen machen.

Das ist damit gemeint, wenn es heißt: »Nicht Gewinn ist für ein Land Gewinn, sondern Gerechtigkeit ist Gewinn.«

14

Es ist dies das Prinzip des Sittengesetzes in seiner negativen Ausprägung. Ebenso wie in dem Spruch: »Was ihr wollt, daß euch die Leute tun, das tut ihr ihnen« das Negative: »Was du nicht willst, daß man dir tu, das füg auch keinem andern zu« selbstverständlich mit enthalten ist, so in dem hier gegebenen negativen Ausdruck die positive Ergänzung. Es hängt diese Ausdrucksweise mit der Psychologie der chinesischen bzw. westlichen Sprachen zusammen. Wir reden von »Fehler«, d.h. etwas Negativem, als Gesamtbezeichnung für eine unrichtige Handlung, während der Chinese von »Überschreitung« redet. Die Meinung ist aber in beiden Fällen dieselbe.

15

Das Zitat enthält das Lob des Großkönigs für seine Gäste, die Lehensfürsten. Es zeigt sich, wie sich aus der beigefügten Erklärung ergibt, auf welche Weise sich der Einfluß auf die Menschen gewinnen läßt, nämlich dadurch, daß man sich in ihre Stimmungen zu versetzen weiß und innerlichen Anteil daran nimmt.

16

Das Zitat stammt aus der Zeit des schlimmen Königs Yu (Yu = der Finstere) aus dem Hause Dschou und handelt von dem Großkanzler Yin, der durch Schrecken und Einschüchterung zu wirken suchte. Während innere Anteilnahme die Herzen dem Einfluß öffnet, schließt sie der Versuch der Einschüchterung zu. Wie ein steiler Berg als unzugänglich gemieden wird, wenn er auch weithin sichtbar ist, so ein Tyrann, der durch Einschüchterung wirken will.

17

In dem Zitat wird gezeigt, worauf das Gottesgnadentum in Wahrheit beruht, nämlich auf der Liebe des Volkes. Die altchinesische Auffassung kennt nicht das Dilemma: entweder König von Gottes Gnaden oder von Volkes Gnaden; sondern die Zuneigung des Volkes ist das Zeichen göttlicher Berufung. Der Staat ist für den Konfuzianismus res publica im Sinn von Kants »Zum ewigen Frieden«.

18

Die Stelle aus den Urkunden von Tschu bezieht sich nach Dschong Kang Tschong auf eine Anekdote zur Zeit des Königs Dschau von Tschu. Der Staat Tsin hatte die Absicht, den Staat Tschu zu bekriegen, und sandte einen Spion mit dem öffentlichen Auftrag, die Schätze von Tschu besichtigen zu dürfen. Der Bote wurde von dem Minister Dschau Hi Sü empfangen und mit einer Anzahl bedeutender Staatsmänner bekannt gemacht, wobei der Minister die Bemerkung machte, daß in Tschu weise Männer als Schätze gälten, nicht äußere Wertgegenstände. Der Gesandte kehrte darauf nach Tsin zurück, und der geplante Angriff auf Tschu unterblieb.

19

Das Zitat bezieht sich auf die Zeit, da der spätere Fürst Wen von Dsin, der das Weltreich unter seiner Hegemonie einigte, noch landesflüchtig verstoßen als Thronkandidat umherwandern mußte. Als er nach Tsin kam, wo ihm Hilfe angeboten wurde, hat einer seiner Verwandten, der sich in seinem Gefolge befand, die erwähnte Antwort gegeben.

20

Mong Hiën Dsï war Haupt einer der großen Familien von Lu vor Kung Dsïs (Konfuzius') Zeit. Hühner- und Schweinezucht ist eine Erwerbsquelle, die geringen Kapitals bedarf und darum den ärmeren Bevölkerungsschichten überlassen werden sollte. Das Recht, Eis im Keller zu haben zur Kühlung der Opfer- und sonstigen Festspeisen, war ein Vorrecht vornehmer Familien, die damit moralisch vom Erwerb des Lebensunterhalts durch Viehzucht zu Verkaufszwecken ausgeschlossen waren. Eine noch mächtigere Familie sollte selbst bei der Steuererhebung, zu der sie ein Recht hatte, auf allzu genaues Eintreiben verzichten und lieber den Beamten eine Bereicherung auf Kosten des Herrn als auf Kosten der Zinsbauern durchgehen lassen.

Quelle:
Li Gi. Düsseldorf/Köln 1981, S. 52-55.
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