6. Sitte und Bedürfnisse der Menschen

[63] Der Heilige sieht in der ganzen Welt seine Familie und im ganzen Reich der Mitte seine eigene Person. Dazu genügt nicht die bloße Absicht; er muß die Gefühle der Menschen verstehen, er muß sich nach ihrem Rechtsgefühl richten, er muß ihnen klarmachen, was zu ihrem Nutzen dient, er muß ihnen zeigen, was verderblich ist. Nur auf diese Weise ist es möglich.

Was sind nun die Gefühle der Menschen? Freude, Zorn, Trauer, Furcht, Liebe, Haß, Lust: diese sieben Dinge braucht ein Mensch nicht erst zu lernen, um sie zu kennen.

Was verlangt das Rechtsgefühl der Menschen? Daß der Vater gütig sei und der Sohn ehrfürchtig, der ältere Bruder[63] nachsichtig und der jüngere sich unterordne, der Gatte pflichttreu und die Gattin gehorsam, das Alter freundlich und die Jugend fügsam, der Fürst milde und der Diener treu: diese zehn Dinge sind die Menschenpflichten.

Die Wahrheit reden und die Eintracht pflegen dient zum Nutzen der Menschen. Streiten, rauben und einander töten, das bringt die Menschen ins Verderben.

Damit aber der berufene Heilige die sieben Gefühle der Menschen in Ordnung bringen kann, die zehn Menschenpflichten pflegen, Wahrhaftigkeit fördern und die Eintracht pflegen, Höflichkeit und Nachgiebigkeit wichtig machen und Streit und Zank beseitigen: welches andere Mittel vermag das auszurichten als die Sitte?

Trank und Speise und der Liebesgenuß, darin bestehen die wichtigsten Triebe der Menschen; Tod und Elend, Armut und Bitternis, dagegen richtet sich die hauptsächliche Abneigung der Menschen. Diese Triebe und diese Abneigungen, das sind die beiden Pole des menschlichen Wesens. Die Menschen verbergen aber ihre Gesinnung, so daß man sie nicht erraten kann. Gutes und Böses ist im Herzen, ohne daß es sich in den Mienen zeigt. Wie will man das alles erschöpfend ans Licht bringen außer durch die Sitte?

Quelle:
Li Gi. Düsseldorf/Köln 1981, S. 63-64.
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