11. Die Fragen des Dsï Gung an den Musikmeister I

[93] Dsï Gung trat vor den Musikmeister I und fragte ihn: »Ich habe gehört, daß Töne und Lieder alle zu bestimmten Menschen[93] passen. Was für eine Art von Liedern paßt nun zu mir?«

Der Musikmeister I sprach: »Ich bin ein geringer Musiker; wie wäre ich es wert, danach gefragt zu werden, was für Euch paßt? Ich bitte wiederholen zu dürfen, was ich gehört habe, und Ihr mögt dann selber wählen. Wer breit und ruhig ist, sanft und korrekt, für den paßt es, die Preislieder (Sung) zu singen. Wer weit und groß und ruhig ist, fernblickend und aufrichtig, für den paßt es, die großen Psalmen (Da Ya) zu singen. Wer ehrfurchtsvoll bescheiden ist und die Sitte liebt, für den paßt es, die kleinen Psalmen (Siau Ya) zu singen. Wer schlicht und recht ist und ruhig, pflichttreu und bescheiden, für den paßt es, die Volkslieder zu singen. Wer gerade ist und liebevoll, für den paßt es, die Lieder von Schang zu singen. Wer freundlich und gutmütig ist und doch entschlossen, für den paßt es, die Lieder von Tsi zu singen. Beim Singen entfaltet man dadurch, daß man sich selbst richtig macht, seine Lebenskräfte. Dadurch, daß man sich selbst bewegt, bringt man Himmel und Erde zur Antwort, die vier Jahreszeiten zur Harmonie, die Sterne in ihre Bahn und alle Dinge zur Entwicklung. Die Musik von Schang, das sind hinterlassene Laute der fünf Herrscher, die die Leute von Schang noch kannten und darum Schang-Musik nannten. Die Musik von Tsi sind hinterlassene Laute der drei nachfolgenden Dynastien, die die Laute von Tsi noch kannten und darum Tsi-Musik nannten. Wer die Töne von Schang erkennt, der vermag angesichts einer Aufgabe sich rasch zu entscheiden. Wer die Töne von Tsi erkennt, der vermag angesichts eines Vorteils auf ihn zu verzichten. Angesichts einer Aufgabe sich rasch entscheiden zu können, ist Entschlossenheit. Angesichts eines Vorteils darauf verzichten zu können, ist Gerechtigkeit. Gerechtigkeit und Entschlossenheit, wie kann man die sich wahren, ohne zu singen?

Darum steigt der Gesang wie erhoben und sinkt wie fallend. Die Stimme biegt sich, wird gebrochen und stockt wie ein dürrer Baum. Sie wendet sich wie nach dem Richtmaß und ist gegliedert wie eine Säge, dann wieder quillt sie hervor wie eine reiche Perlenschnur.

Der Gesang entsteht aus dem Wort, er setzt sich zusammen[94] aus langgezogenen Worten. Wenn der Mensch sich über etwas freut, so spricht er es aus. Wenn das Aussprechen nicht genügt, so redet er in langgezogenen Worten. Wenn die langgezogenen Worte nicht genügen, so fügt er Ausrufe und Seufzer bei. Wenn Ausrufe und Seufzer nicht genügen, so kommt es unvermerkt dazu, daß die Hände schwingen und die Füße tanzen.«

Dies ist die Antwort auf die Fragen Dsï Gungs nach der Musik.

Quelle:
Li Gi. Düsseldorf/Köln 1981, S. 93-95.
Lizenz: