22. Die Gesinnung

[138] Wenn andre etwas Böses sagen und man widerspricht nicht, so ist es beinahe, wie wenn man an ihren Worten Gefallen fände. Wenn man an ihren Worten Gefallen findet, so ist zu fürchten, daß man sich ihnen persönlich nahe fühlt. Wenn zu fürchten ist, daß man sich ihnen persönlich nahe fühlt, so ist zu fürchten, daß man es selber auch so macht.

Wenn andre etwas Gutes sagen und man drückt in seinen Mienen Mißbilligung aus, so ist es beinahe, wie wenn man an ihren Worten keinen Gefallen fände. Wenn man an ihren Worten keinen Gefallen findet, so ist zu fürchten, daß man ihnen persönlich fernrückt. Ist zu fürchten, daß man ihnen persönlich fernrückt, so ist zu fürchten, daß man sich gegen sie wendet.

So ist das Auge der Ausdruck der Gesinnung und das Wort der Andeuter der Handlungen. Was sich im Innern erhebt, das breitet sich aus im Äußern. Darum heißt es: Aus dem, was offenbar ist, kann man schließen auf das, was verborgen ist. So heißt es: Hört man die Worte eines Menschen, so kann man daraus erkennen, was er gern hat. Sieht man, wohin seine Reden fließen, so kann man erkennen, was seine Absichten[138] sind. Wenn er auf die Dauer folgerichtig bleibt, so kann man erkennen, daß er zuverlässig ist. Wenn man schaut, wen er liebt und an wen er anhänglich ist, so kann man erkennen, was er als Mensch ist.

Wenn man dazu kommt, wenn ein Mensch eingeschüchtert wird, so beobachte man, ob er sich nicht fürchtet; wenn er erzürnt wird, so beobachte man, ob er sich nicht hinreißen läßt; wenn er erfreut wird, so beobachte man, ob er nicht leichtsinnig wird; wenn er mit schönen Frauen zusammen ist, so beobachte man, ob er die Grenzen nicht überschreitet; wenn er zu Trank und Mahl geladen ist, so beobachte man, ob er feste Regeln hat; wenn er bereichert wird, so beobachte man, ob er verzichten kann; wenn er in Trauer ist, so beobachte man, ob er es ernst nimmt; wenn er bedrängt wird, so beobachte man, ob er nicht geschäftig wird; wenn er bemüht wird, so beobachte man, ob er nicht aufgeregt wird.

Der Edle kann es dem Nichtguten gegenüber wohl so weit bringen, daß er es persönlich nicht tut; aber es ist nicht leicht fertigzubringen, es auch in seinen Mienen zu unterlassen. Er wird es vielleicht so weit bringen, daß er es auch in seinen Mienen unterläßt; aber es ist nicht leicht, es auch in allen Gedanken des Herzens zu vermeiden2.

2

Ähnlich wie in der Bergpredigt wird hier die Schuld von der Tat über Wort und Miene auf die Gesinnung zurückverfolgt. Der Konfuzianismus hat mit dem Christentum gemein, daß er strenge Gesinnungsethik ist.

Quelle:
Li Gi. Düsseldorf/Köln 1981, S. 138-139.
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