1. Rund und quadratisch

[159] Schan Gü Li befragte den Dsong Dsï und sprach: »Es heißt, der Himmel sei rund und die Erde quadratisch; ist das wirklich so?«A1[159]

Meister Dsong sprach: »Was hast du darüber gehört, Li?«

Schan Gü Li sprach: »Ich verstehe diese Dinge nicht, darum wage ich zu fragen.«[160]

Meister Dsong sprach: »Was der Himmel erzeugt, trägt das Haupt nach oben; was die Erde erzeugt, trägt das Haupt nach unten. Mit dem Haupt nach oben gerichtet sein nennt man rund; mit dem Haupt nach unten gerichtet sein nennt man quadratisch. Wenn der Himmel wirklich rund wäre und die Erde quadratisch, so wären ja die vier Ecken der Erde vom Himmel nicht bedeckt.

Komm näher, ich will dir sagen, was ich vom Meister vernommen habe. Er sprach: ›Des Himmels Bahn heißt rund, der Erde Bahn heißt quadratisch.‹ Das Quadratische ist dunkel, das Runde ist hell. Das Helle strahlt Kraft aus, darum ist es außen leuchtend. Das Dunkle zieht Kraft ein, darum ist es innen leuchtend. So sind das Feuer und die Sonne außen leuchtend und das Metall und das Wasser innen leuchtend.

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Der Himmel bewegt sich, die Erde ist still; darum bewegen sich die Menschen, die zum Himmel gehören, und ihr Haupt ist nach oben gerichtet. Die Pflanzen sind still, die zur Erde gehören, und ihr Haupt ist nach unten gerichtet. Der ganze leere Raum oberhalb der Erde gehört zum Himmel. So ist alles, was sich bewegt, vom Himmel erzeugt. Die Pflanzen, die durch das Aufbrechen der Samenhüllen erzeugt werden, haben die Wurzel als Haupt und die Zweige als Enden. Die Menschen haben den Kopf als Haupt; darum werden auch im Schuo Wen die Haare als Wurzel bezeichnet. Im Buch der Wandlungen heißt es: »Was dem Himmel angehört, neigt sich dem Oberen zu, was der Erde angehört, neigt sich dem Unteren zu.« Dschuo Dschu Ping aus Lin Hai sagt: »Die Menschen nehmen durch den Atem die Himmelskraft auf, darum sind sie mit dem Haupt nach oben gerichtet. Die Pflanzen nehmen mit der Wurzel die Erdkraft auf, darum sind sie mit dem Haupt nach unten gerichtet.«

In den Dschou Bi heißt es: »Das Quadratische gehört der Erde, das Runde gehört dem Himmel zu, denn der Himmel ist rund, die Erde ist quadratisch. Damit ist ursprünglich gemeint ihre Bahn, nicht ihre Gestalt.«

Wenn Rundes und Quadratisches aufeinander gelegt werden, so kann das Runde nicht die Ecken des Quadratischen bedecken. Da nun aber die Erde auf allen Seiten vom Himmel bedeckt wird, so ist es klar, daß die Erde inmitten des Himmels ist und daß, wenn der Himmel eine Hohlkugel ist, die Erde auch rund ist. Dsong Dsï lehrt ebenso wie die Dschou Bi, daß die Erde rund ist. Seit gegen Ende der Dschouzeit Kolonisten nach allen Himmelsrichtungen auszogen, fanden sich dafür Beweise. In den Dschou Bi heißt es: »Wenn die Sonne auf ihrer Bahn im äußersten Norden steht, so kulminiert die Sonne in den Nordgegenden, und im Süden (nämlich bei den Antipoden) ist dann Mitternacht.

Wenn sie in den äußersten Osten kommt, so kulminiert sie in den östlichen Gegenden, und die westlichen haben dann Mitternacht. Wenn sie in den äußersten Süden kommt, so kulminiert sie in den südlichen Gegenden, und die nördlichen haben dann Mitternacht. Wenn sie in den äußersten Westen kommt, so kulminiert sie in den westlichen Gegenden, und die östlichen haben dann Mitternacht.« Daraus sieht man, daß in der Dschouzeit die Erde als Kugel aufgefaßt wurde. Die Berechnungen der Elevation des Nordpols, die Gradunterschiede und Zeitunterschiede, wie sie zur Berechnung der Finsternisse nötig waren, sind alle nach der Methode, die den Himmel als Hohlkugel (Hun Tiën) auffaßt, angestellt. In der Yüan- und Mingzeit begannen dann die westlichen Lehren Einfluß zu bekommen. Yüan Yüan beschäftigt sich auch noch mit dem Problem, wie die Menschen auf der Kugel festgehalten werden, und gibt als Erklärung die rasche Bewegung der Himmelskugel und den Druck der Luft und des Äthers. Mit der westlichen Lehre, daß »der Mittelpunkt der Erde schwer sei und die Menschen von ihm angezogen werden«, ist er nicht einverstanden.

Mit den Ausdrücken »rund« und »quadratisch« ist nicht die Form gemeint. Im Buch der Wandlungen, Abschnitt Schuo Gua, heißt es: »Das Schöpferische ist der Himmel, ist rund.« In den Wen Yen heißt es: »Das Empfangende ist ganz still, sein Wesen ist quadratisch.« Das bezieht sich alles auf die Bahnen (die Qualität) von Himmel und Erde. Der Heilige benützt die Rundheit (Zeit) und die Geviertheit (Raum), um die Welt zu ordnen. In den Dschou Bi wird der Himmel als ein runder Hut beschrieben, um so die Grade des Umfangs festzustellen. Und der große Yü benützte ein Winkelmaß, um Höhen und Fernen zu messen, um so Berge und Flüsse zu regeln.

Drache und Schildkröte gehören der dunklen Kraft an, Wind und Feuer der lichten. So zeigt sich die Wirkung der lichten Kraft auf die dunkle. Die Schildkröte muß mit Feuer gebrannt werden, damit sich die Risse zeigen, aus denen die Zukunft geweissagt wird.

Die Sonne legt täglich einen Grad am Himmel zurück. Das ist die Grundzahl für alle andern Himmelskörper. Der Mond hat die Zahlen für Neumond und Vollmond. Der Heilige beobachtet genau die Gradzahlen von Sonne und Mond, um danach den Lauf der übrigen Sterne zu berechnen. Die Sterne sind die fünf Planeten, die Bilder sind die zwölf Tierkreiszeichen. Unter der Rechtläufigkeit und Abweichung der Jahreszeiten ist folgendes zu verstehen: Nach dem Wintersolstiz beginnt die Sonne am Himmel nach oben zu steigen (Tai Guo), vom Sommersolstiz an wendet sie sich wieder rückwärts (Bu Gi). Das sind die Abweichungen. Zur Frühlings- und Herbsttagundnachtgleiche läuft sie aber im Äquator. Das ist die Rechtläufigkeit der Sonne. Durch diese Bewegungen der Sonne werden die vier Jahreszeiten bedingt. Deshalb entsandte Yau die Gebrüder Hi und Ho, um die Erscheinungen am Himmel zu beobachten, und kam so auf ein Jahr von 360 Tagen und sechs Tagen, die zu Schaltmonaten zusammengefaßt werden. Diese Aufgabe hat er dann an Schun übergeben mit den Worten: Die Bestimmung der Zeitberechnungszahlen des Himmels kommt nun an dich. Und Schun hat sie an Yü weitergegeben. Der König Wu, der Begründer der Dschoudynastie, hat sich an den Prinzen Gi Dsï um Auskunft gewandt und nach den fünf Elementen der Zeitberechnung die astronomischen Methoden der Dschou festgestellt. Der Herzog von Dschou befragte den Gau von Schang und zeichnete dementsprechend die Dschou Bi auf. Auf diese Weise haben die Heiligen den Himmel in Ordnung gebracht.

Quelle:
Li Gi. Düsseldorf/Köln 1981, S. 159-161.
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