1. Die Bedeutung der Sitte für den Staat

[228] Herzog Ai befragte den Meister Kung und sprach: »Wie ist es mit den großen Sitten? Wenn die Edlen von der Sitte reden, warum nehmen sie sie so wichtig?«

Meister Kung sprach: »Ich bin ein unbedeutender Mann; wie wäre ich imstande, die Sitte zu kennen?«

Der Fürst sprach: »Nicht also! Redet, mein Meister!«

Meister Kung sprach: »Ich habe gehört, daß von den Lebensbedingungen der Menschen die Sitte am wichtigsten ist. Ohne Sitte hat man keinen Anhaltspunkt, um die Stellungen von Fürst und Diener, Oberen und Unteren, Älteren und Jüngeren zu ordnen. Ohne Sitte hat man keinen Anhaltspunkt, um die Verwandtschaft von Mann und Frau, Vater und Sohn, älterem und jüngerem Bruder und den Verkehr der durch Heirat verwandten näheren und ferneren Freunde zu unterscheiden. Das ist es, was die Edlen an der Sitte ehrten und wichtig nahmen. Darin belehrten sie nach ihren Fähigkeiten die Geschlechter und vernachlässigten weder die allgemeinen noch die besonderen unter den Sitten.

Wenn sie damit Erfolg erreicht hatten, so ordneten sie danach die Schnitzereien, die Ornamente, die Kleidersymbole, um sie nach dem Brauch fortzusetzen.

Wenn das alles im Gang war, dann setzten sie die Dauer der Trauerzeit fest, bereiteten Kessel und Opferplatten, sorgten für Schweine und getrocknetes Opferfleisch. Sie setzten die Ahnentempel instand und veranstalteten jedes Jahr zur vorgeschriebenen Zeit darin ehrfurchtsvoll die Opferfeiern,[228] um die Stammeszugehörigen in der richtigen Ordnung um sich zu versammeln.

Aber dann machten sie ihre Wohnungen und ihr tägliches Leben behaglich. Sie trugen Gewänder aus geringem Stoff, sie wohnten nicht in hohen Hallen und Gemächern, sie fuhren nicht in geschnitzten und verzierten Wagen, ihre Geräte waren nicht graviert, ihr Essen war nicht üppig, um auf diese Weise mit dem Volk gemeinsam des Guten zu genießen. So übten in alter Zeit die Edlen die Sitten aus.«

Der Herzog sprach: »Warum handeln die Edlen von heutzutage nicht so?«

Meister Kung sprach: »Die heutigen Edlen sind unersättlich in ihrer Lust an schönen Frauen, unermüdlich in ihrem Verderb der Tugend; sie sind müßig, träge, hochmütig und nachlässig. Sie raffen mit Macht die Güter des Volks alle an sich; sie verletzen die Gefühle der Menge, indem sie Leute bestrafen, die auf dem rechten Wege sind. Sie streben nur nach Befriedigung ihrer Lüste, ohne auf die rechte Art dabei zu achten. Die Alten benützten ihr Volk nach der ersten Art, die Heutigen benützen ihr Volk nach der letztgenannten Art. Die heutigen Edlen handeln nicht nach der Sitte.«

Quelle:
Li Gi. Düsseldorf/Köln 1981, S. 228-229.
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