9. Geburtsriten

[326] Wenn eine Frau im Begriff war, ein Kind zu bekommen, und der letzte Monat herangekommen war, so zog sie in eines der Seitengebäude. Der Gatte schickte täglich zweimal, um nach ihrem Befinden zu fragen. Wenn er selber kam, um zu fragen, so wagte die Frau nicht, ihn selbst zu sehen, sondern ließ durch ihre Gesellschafterin, die zu diesem Zweck sorgfältig Toilette machte, ihm Bescheid geben. Wenn das Kind geboren war, sandte der Gatte wieder zweimal täglich, um nach ihr zu fragen. Wenn der Gatte im Fasten begriffen war, ging er nicht durch die Tür des Seitengebäudes.

Wenn das Kind geboren war und es war ein Knabe, so hängte man einen Bogen links von der Tür auf; wenn es ein Mädchen war, so hängte man ein Gürteltuch rechts von der Tür auf. Am dritten Tag bekam das Kind Nahrung. Bei einem Knaben schoß man, bei einem Mädchen nicht ...[327]

Wenn einem Landesfürsten ein Thronfolger geboren war, so schlachtete er ein großes Dreiopfer, um zu seinem Empfang ein Festmahl zu veranstalten. Der Hausmeier richtete die Geräte. Am dritten Tag befragte man das Schildkrötenorakel, um den Paten (tragenden Beamten) zu bestimmen. Wen das Orakel als glückverheißend bezeichnete, der fastete streng und begab sich in Hofgewändern nach der Tür der Frauengemächer. Vor der Tür wurde ihm das Kind übergeben. Der Schießmeister schoß von einem Bogen aus Maulbeerholz sechs Rohrpfeile in der Richtung nach dem Himmel, der Erde und den vier Weltgegenden (als Zeichen, daß der Knabe weit hinauskommen werde). Darauf übernahm die Amme das Kind wieder und trug es zurück. Der Hausmeier bewirtete darauf den Patenbeamten mit Wein und überreichte ihm Seidenbündel. Die Frau eines Orakelpriesters oder eines Großwürdenträgers wurde beauftragt, das Kind zu nähren.

Dann wählte man einen besonderen Raum in den Gebäuden für den Säugling. Man wählte unter den Hofdamen und solchen, die sonst noch in Betracht kamen, diejenige aus, die sich durch Weitherzigkeit, Edelmut, Liebe, Güte, Milde, Echtheit, Sorgfalt, Vorsicht und Verschwiegenheit auszeichnete, und bestimmte sie zur Erzieherin des Kindes, eine weitere als Aufsichtsdame und eine weitere als Pflegerin. Sie alle wohnten in den Räumen des Kindes. Anderen Leuten war ohne besonderen Anlaß der Eintritt verboten.

Am Ende des dritten Monats wählte man einen Tag zum Haarschneiden. Die Knaben bekamen das Haar in Form von Hörnchen geschnitten, die Mädchen in Büscheln, oder aber man ließ bei den Knaben links, bei den Mädchen rechts einen Haarbüschel stehen. An diesem Tage trat die Mutter mit dem Kind vor den Vater ... Beide waren in Festgewändern wie bei der Neumondfeier. Der Gatte kam zum Tor herein, stieg die Oststufen hinauf und stellte sich mit dem Gesicht nach Westen. Die Gattin kam mit dem Kinde auf dem Arm aus den hinteren Gemächern hervor und stellte sich unter den Dachbalken mit dem Gesicht nach Osten. Darauf sprach die Gesellschaftsdame: »Die Mutter N. erlaubt sich an diesem Tage das Kind zu zeigen.« Der Vater sprach darauf: »Seid achtsam auf seine Erziehung.« Darauf nahm der Vater die[328] rechte Hand seines Söhnchens, redete lächelnd mit ihm und gab ihm einen Namen. Die Frau erwiderte darauf: »Wir werden Eurer Worte gedenken und danach tun.« Darauf kehrte sie in ihre Gemächer zurück, und der Name des Kindes wurde bekanntgemacht ...

Als Namen nahm man keine auf Sonne und Mond bezüglichen, keine auf einen Staat, keine auf geheime Krankheiten bezüglichen. Großwürdenträger und Staatsmänner wagten es nicht, ihre Söhne mit demselben Namen zu benennen, den der Kronprinz trug.

Quelle:
Li Gi. Düsseldorf/Köln 1981, S. 326-329.
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