Erstes Kapitel

[164] Ob zwei Dinge ein und dasselbe oder verschieden sind und zwar in der wichtigsten der davon angenommenen Bedeutungen (als deren wichtigsten habe ich aber die genannt, wonach das der Zahl nach Eine ein und dasselbe ist), dies muss man nach den Beugungen der Worte, nach den Reihen der verwandten Begriffe und nach den Gegensätzen prüfen. Wenn z.B. die Gerechtigkeit dasselbe ist wie die Tapferkeit, so gilt dies auch für den Gerechten und Tapferen und für das gerecht und tapfer. Ebenso ist es mit den Gegensätzen; sind nämlich zwei Bestimmungen dieselben, so sind auch ihre Gegensätze dieselben und zwar nach jedweder Art von Entgegensetzung; dann ist es gleich, ob man den Gegensatz von der einen oder der anderen Bestimmung nimmt, da sie dasselbe sind. Ebenso hat man dies aus dem zu entnehmen, was diese Bestimmungen zu Stande bringt, oder zerstört, und aus dem Werden und Untergehen derselben und überhaupt aus Allem, was sich bei beiden gleich verhält; denn bei Allem, was überhaupt als ein und dasselbe gilt, sind auch das Werden und das Untergehen und das, was es zu Stande bringt und zerstört, dasselbe.

Auch muss man prüfen, ob, wenn von dem einen am meisten irgend etwas ausgesagt wird, dies auch von dem anderen dieser beiden Gegenstände geschehen kann. So zeigte Xenokrates, dass das glückselige und das sittliche Leben ein und dasselbe sei, weil von allen verschiedenen Lebensweisen die sittliche und die glückselige am meisten wünschenswerth sei und weil das wünschenswertheste und grösste immer nur eines sei. Das Gleiche[164] findet in anderen solchen Fällen statt, aber jedes von den beiden, die als das grösste und wünschenswertheste genannt werden, muss der Zahl nach eines sein; denn ohnedem ist die Dieselbigkeit derselben nicht bewiesen. Wenn z.B. von den Griechen die Peloponnesier und die Lakedämonier die tapfersten sind, so ist es nicht nothwendig, dass die Peloponnesier dieselben wie die Lakedämonier sind, da weder jene noch diese der Zahl nach Eines sind; vielmehr müssen dann die einen von den anderen befasst werden, wie z.B. die Lakedämonier von den Peloponnesiern; ist dies nicht der Fall, so Würde folgen, dass gegenseitig die einen besser wären als die anderen, sofern nämlich die einen von den anderen nicht mit befasst werden, denn es müssen dann die Peloponnesier tapferer sein als die Lakedämonier, da ja die einen von den anderen nicht mit befasst werden; denn sie sollen ja besser als alle die übrigen sein. Ebenso müssen die Lakedämonier dann tapferer sein als die Peloponnesier, denn auch sie sollen ja tapferer als alle übrigen sein, und so wären sie gegenseitig die einen tapferer als die anderen. Es ist also klar, dass das, was für das Beste und Grösste erklärt wird, Eines der Zahl nach sein muss, wenn dadurch die Dieselbigkeit bewiesen werden soll. Deshalb hat auch Xenokrates seinen Satz nicht bewiesen, denn das glückselige und das sittliche Leben sind nicht Eines der Zahl nach; deshalb brauchen sie auch nicht dasselbe zu sein, denn beide sind wohl die wünschenswerthesten, allein nur weil das eine von dem anderen befasst wird.

Man muss ferner prüfen, ob das, wodurch das eine dasselbe ist, auch das ist, wodurch das andere dasselbe ist; denn wenn beide nicht durch ein und dasselbe dieselben sind, so sind sie auch offenbar gegen einander nicht dasselbe.

Auch muss man auf das solchen angeblich Dieselbigen nebensächlich Zukommende Acht haben und ebenso, welchen Dingen diese Dieselbigen nebensächlich zukommen; denn das, was dem einen nebensächlich zukommt, muss auch dem anderen nebensächlich zukommen, und welchen Dingen das eine nebensächlich zugehört, denen muss auch das andere nebensächlich zugehören. Stimmen sie in einem[165] dieser Punkte nicht überein, so sind sie offenbar nicht dasselbe.

Auch muss man prüfen, ob etwa beide nicht zu einer Kategorien-Gattung gehören, sondern das eine etwa eine Beschaffenheit und das andere eine Grösse oder eine Beziehung bezeichnet. Ferner ob etwa die Gattung von beiden nicht dieselbe ist, sondern das eine ein Gut, das andere ein Uebel, oder das eine eine Tugend, das andere eine Wissenschaft ist; oder ob zwar die Gattung für beide dieselbe ist, aber von beiden nicht dieselben Art-Unterschiede ausgesagt werden, z.B. dass das eine eine theoretische, das andere eine praktische Wissenschaft ist. Ebenso ist in anderen Fällen zu verfahren.

Auch nach dem Vermehren ist die Dieselbigkeit zu prüfen; ob nämlich das eine die Vermehrung annimmt und das andere nicht, oder ob beide zwar sie annehmen, aber nicht gleichzeitig. So verlangt der mehr Liebende nicht auch mehr nach dem Beisammensein, und deshalb sind die Liebe und das Verlangen nach dem Beisammensein nicht ein und dasselbe.

Ebenso ist in Bezug auf einen Zusatz zu prüfen, ob, wenn dasselbe beiden hinzugefügt wird, das Ganze bei beiden etwa nicht dasselbe ist; oder ob, wenn dasselbe von jedem weggenommen wird, der Ueberrest bei beiden etwa nicht derselbe ist; z.B. wenn man sagte, dass das Doppelte von der Hälfte und das Vielfache von der Hälfte dasselbe sei. Wenn man hier von jedem die Hälfte wegnimmt, so müsste dann der Rest bei beiden derselbe sein, allein dies ist nicht der Fall; also bedeuten das Doppelte und das Vielfache nicht dasselbe.

Auch muss man nicht blos prüfen, ob schon aus der blossen Aufstellung sich etwas unmögliches ergiebt, sondern auch ob die Möglichkeit der Aufstellung auch bei einer gewissen Voraussetzung bestehen bleibt, wie z.B. wenn behauptet würde, dass das Luftleere und das mit Luft Erfüllte dasselbe sei; denn offenbar ist, wenn die Luft austritt, die Leere nicht geringer, sondern grösser, während, wenn sie voll Luft ist, dies nicht der Fall ist. Wenn also bei einer Voraussetzung, mag sie wahr sein oder nicht (denn dies macht keinen Unterschied), das eine von beiden aufgehoben wird, das andere aber nicht, so[166] können sie beide nicht dasselbe sein. Ueberhaupt muss man nach den von jedem der beiden ausgesagten Bestimmungen und nach den Gegenständen, von denen beide ausgesagt werden, prüfen, ob etwa hier nicht alles zusammenstimmt; denn die von dem einen ausgesagten Bestimmungen müssen sich auch von dem anderen aussagen lassen, und von den Gegenständen, von welchen das eine ausgesagt wird, muss auch das andere sich aussagen lassen.

Da ferner der Ausdruck: »Dasselbe« in vielerlei Sinne gebraucht wird, so muss man auch prüfen, ob die aufgestellten Gegenstände in einem anderen Sinne dieselben seien, denn das der Art, oder Gattung nach dasselbe braucht, oder kann nicht auch der Zahl nach dasselbe sein; man muss deshalb auch prüfen, ob sie in diesem Sinne dieselben sind, oder nicht.

Ebenso muss man prüfen, ob das eine ohne das andere sein kann; denn dann würden sie nicht dasselbe sein.

Quelle:
Aristoteles: Die Topik. Heidelberg 1882, S. 164-167.
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