Würde des Stoffs

[23] Die Zeiten sind vorbei, in welchen man den Geist unabhängig wähnte vom Stoff. Aber auch die Zeiten verlieren sich, in denen man das Geistige erniedrigt glaubte, weil es nur am Stoffe sich äußert.

Moleschott


Den Stoff verachten – den eignen Leib mißachten, weil er der stofflichen Welt angehört – Natur und Welt wie einen Staub betrachten, den man von sich abzuschütteln suchen muß – den eignen Körper schinden und quälen – das können nur Unwissende oder Fanatiker. Ein anderes Gefühl wird denjenigen ergreifen, der mit dem Auge des Forschers dem Stoff auf seinen tausend verborgenen Wegen gefolgt ist, der in sein mächtiges und so unendlich mannigfaltiges Treiben geblickt hat, der erkannt hat, daß der Stoff dem Geiste nicht untergeordnet, sondern ebenbürtig ist, der da weiß, daß beide sich gegenseitig mit solcher Notwendigkeit bedingen, daß einer ohne den andern nicht sein kann und daß der Stoff der Träger aller geistigen Kraft, aller menschlichen und irdischen Größe ist; er wird vielleicht mit einem unserer ausgezeichnetsten Forscher eine gewisse Begeisterung für das Stoffliche teilen, »dessen Verehrung sonst eine Anklage hervorrief.« Wer den Stoff erniedrigt, erniedrigt sich selbst und die ganze Schöpfung; wer seinen Leib mißhandelt, mißhandelt auch seinen Geist und fügt sich selbst in dem Maße einen Schaden zu, als er vielleicht in seiner törichten Einbildung einen Gewinst für seine Seele erlangt zu haben glaubt. Materialisten – hört man häufig als mit einem verächtlich klingenden Namen diejenigen nennen,[23] welche nicht jene vornehme Verachtung des Stofflichen teilen und sich bemühen, an ihm und durch dasselbe die Kräfte und Gesetze des Daseins zu ergründen, welche erkannt haben, daß nicht der Geist die Welt aus sich konstruiert haben kann, und daß es daher auch nicht möglich sein könne, durch ihn allein und ohne den genauen und täglichen Umgang mit dem Stoffe selbst zur Erkenntnis der Welt zu gelangen. Heute kann jener Name in dem angedeuteten Sinne nur noch als ein Ehrenname gelten. Die Materialisten und materialistischen Naturforscher sind schuld daran, daß das menschliche Geschlecht mehr und mehr von den Armen des in seinen Gesetzen erkannten und bezwungenen Stoffs emporgetragen wird – daß wir heute, entfesselt von den Banden der Schwerkraft, mit der Geschwindigkeit des Windes über die Oberfläche der Erde dahineilen – daß wir uns gegenseitig nach den entferntesten Orten fast mit der Schnelligkeit des Gedankens einander Mitteilungen machen. Solchen Taten gegenüber muß die Mißgunst schweigen, und die Zeiten sind vorüber, in denen eine von der Phantasie trüglich vorgespiegelte Welt den Menschen mehr galt als die wirkliche. Mögen auch manche die Gesichter noch so scheinheilig verziehen, es ist ihnen nicht ernst darum; in dem, was sie tun, zeigt sich das Gegenteil von dem, was sie reden. Niemand geißelt, niemand kreuzigt sich mehr; niemand sucht zu entbehren, statt zu genießen. Aber jeder hascht und jagt mit den besten Kräften seines Lebens nach den materiellen Gütern und Besitztümern der Erde, nach den Freuden und Genüssen, welche ihm der tausendfach verfeinerte und veredelte Stoff bietet. »Die Heuchelei der Selbstbetörung«, sagt Feuerbach, »ist das Grundlaster der Gegenwart.«[24]

Im Mittelalter, in dieser wüsten Zeit roher Adelswillkür und fanatischer Pfaffenherrschaft, hatten es angebliche Diener Gottes so weit gebracht, daß man dem Stoff eine konsequente Verachtung bewies und den eignen Leib, das edle Bildwerk der Natur, an den Schandpfahl nagelte. Einige kreuzigten, andere marterten sich; Haufen von Flagellanten durchzogen das Land, ihre scheußlich zerfleischten Leiber zur öffentlichen Schau tragend; auf raffinierte Weise suchte man sich um Kraft und Gesundheit zu bringen, um dem Geiste, den man als etwas Übernatürliches, als etwas vom Stoff Unabhängiges wähnte, das Übergewicht über seinen sündhaften Träger zu geben. Der heilige Bernhard hatte, wie Feuerbach erzählt, durch übertriebene Aszetik derart seinen Geschmacksinn verloren, daß er Schmer für Butter, Öl für Wasser trank, und Rostan berichtet, wie in vielen Klöstern die Oberen ihre Mönche jährlich mehrmals zur Ader zu lassen gewohnt waren, um die ausbrechenden Leidenschaften derselben, welche der geistige Dienst allein nicht zu unterdrücken imstande war, niederzuhalten. Aber er berichtet auch weiter, wie die beleidigte Natur sich manchmal rächte, und wie Empörungen in diesen lebendigen Gräbern, Bedrohungen der Oberen mit Gift und Dolch nichts Seltenes waren. Welche traurige und ekelhafte Aszetik das elende Volk der Indier noch heutzutage an sich übt, ist aus Reisebeschreibungen hinlänglich bekannt. Zum Lohne dafür ist ihr herrliches Land eine Beute und sie selbst sind Sklaven einer kleinen Schar von Ausländern.

Solche Verkehrtheiten sind glücklicherweise heutzutage unter uns nur noch als Seltenheiten möglich. Eine bessere Einschicht hat uns gelehrt, den Stoff an uns und in uns zu ehren. Bilden und pflegen wir unsern Körper nicht minder als[25] unsern Geist und vergessen wir nicht, daß beide eins und unzertrennlich sind, und daß, was wir dem einen tun, unmittelbar auch dem andern zugute kommt. Der alte Ciceronianische Spruch: In corpore sano mens sana ergänzt sich durch den ebenso wahren: Die Seele baut sich ihren Körper. Auf der andern Seite sollen wir auch nicht vergessen, daß nur ein verschwindender, wenn auch notwendiger Teil des Ganzen sind, der früher oder später sich wieder in das Ganze auflösen muß. Der Stoff in seiner Gesamtheit ist die alles gebärende und alles wieder in sich zurücknehmende Mutter alles Seienden. Kein Volk wußte das Reinmenschliche in sich besser zu ehren als die Griechen, und keines das Lebendige besser zu würdigen als Gegensatz des Todes. Hufeland erzählt: Als man den griechischen Philosophen Dämonax, einen hundertjährigen Greis, vor seinem Tode fragte, wie er begraben sein wollte, antwortete er: Macht euch drum keine Sorge, die Leiche wird schon der Geruch begraben. – Aber willst du denn, warfen ihm seine Freunde ein, Hunden und Vögeln zur Speise dienen? – Warum nicht? erwiderte er, ich habe, solange ich lebte, den Menschen nach allen Kräften zu nützen gesucht, warum sollte ich nach meinem Tode nicht auch den Tieren etwas geben?

Ein medizinischer Theolog, Herr Professor Leupoldt in Erlangen, ein Geistesverwandter des bekannten Herrn Ringseis, behauptet, daß diejenigen, welche statt von Gott, von der Materie ausgingen, eigentlich auf alles wissenschaftliche Begreifen verzichten müßten, weil sie, selbst nur ein winziges Stückchen Natur und Teilchen Materie, unmöglich auch nur die Natur und Materie überhaupt, geschweige denn zugleich auch innerlich durchdringend, begreifen könnten! Ein[26] Räsonnement, so pfäffisch als einfältig. Haben diejenigen, welche von Gott und nicht von der Materie ausgehen, uns jemals eine Auskunft über die Qualitäten des Stoffs oder die Gesetze, nach denen, wie sie sagen, die Welt regiert wird, geben können? Konnten sie uns sagen, ob die Sonne gehe oder stehe? ob die Erde rund sei oder eine Ebene? was Gottes Plan und Absicht sei? usw. Nein! denn es wäre eine Unmöglichkeit. »In der Betrachtung und Erforschung der Natur von Gott ausgehen« ist eine Redensart ohne Sinn, welche nichts bedeutet und nichts erreicht. Diejenige traurige Richtung der Naturforschung und philosophischen Naturbetrachtung, welche glaubte, von theoretischen Vordersätzen ausgehend, das Weltall konstruieren und Naturwahrheiten auf spekulativem Wege ergründen zu können, ist glücklicherweise längst überwunden, und gerade aus der entgegengesetzten wissenschaftlichen Richtung sind jene großen Fortschritte und segensreichen Wirkungen der Naturforschung in den letzten Jahrzehnten hervorgegangen. Warum sollen also diejenigen, welche von der Materie ausgehen, die Materie nicht begreifen können? In der Materie wohnen alle Natur- und geistigen Kräfte, in ihr allein können sie offenbar werden, in die Erscheinung treten; die Materie ist der Urgrund alles Seins. An wen anders könnten wir uns daher in der Erforschung von Welt und Dasein zunächst halten, als an die Materie selbst? So haben es von je alle Naturforscher gemacht, welche diesen Namen verdienten, und niemandem, der heutzutage mit Verstand nach diesem Titel strebt, fällt es ein, es anders machen zu wollen. Herr Leupoldt, obgleich ein Arzt, ist wohl nie ein Naturforscher gewesen, er würde sonst schwerlich auf so sonderbare Ideen gekommen sein.[27]

Quelle:
Ludwig Büchner: Kraft und Stoff. Leipzig [o.J.], S. 23-28.
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