Friedrich Engels

[Über den Verfall des Feudalismus und das Aufkommen der Bourgeoisie]

Während die wüsten Kämpfe des herrschenden Feudaladels das Mittelalter mit ihrem Lärm erfüllten, hatte die stille Arbeit der unterdrückten Klassen in ganz Westeuropa das Feudalsystem untergraben, hatte Zustände geschaffen, in denen für den Feudalherrn immer weniger Platz blieb. Auf dem Lande freilich trieben die adligen Herren noch ihr Wesen, peinigten die Leibeignen, schwelgten von ihrem Schweiß, ritten ihre Saaten nieder, vergewaltigten ihre Weiber und Töchter. Aber ringsherum hatten sich Städte erhoben; in Italien, Südfrankreich, am Rhein altrömische Munizipien, aus ihrer Asche erstanden; anderswo, namentlich im Innern Deutschlands, neue Schöpfungen; immer eingeringt in schirmende Mauern und Gräben, Festungen, weit stärker als die Burgen des Adels, weil bezwingbar nur durch ein großes Heer. Hinter diesen Mauern und Gräben entwickelte sich – zunft-bürgerlich und kleinlich genug – das mittelalterliche Handwerk, sammelten sich die ersten Kapitalien an, entsprang das Bedürfnis des Verkehrs der Städte untereinander und mit der übrigen Welt, und, mit dem Bedürfnis, allmählich auch die Mittel, diesen Verkehr zu schützen.

Im fünfzehnten Jahrhundert waren die Städtebürger bereits unentbehrlicher in der Gesellschaft geworden als der Feudaladel. Zwar war der Ackerbau noch immer die Beschäftigung der großen Masse der Bevölkerung und damit der Hauptproduktionszweig. Aber die paar vereinzelten Freibauern, die sich hie und da noch gegen die Anmaßungen des Adels erhalten, bewiesen hinreichend, daß beim Ackerbau nicht die Bärenhäuterei und die Erpressungen des Adligen die Hauptsache sei, sondern die Arbeit des Bauern. Und dann hatten sich die Bedürfnisse auch des Adels so vermehrt und verändert, daß selbst ihm die Städte unentbehrlich geworden; bezog er doch sein einziges Produktionswerkzeug, seinen Panzer und seine Waffen, aus den Städten! Einheimische Tuche, Möbel und Schmucksachen, italienische[392] Seidenzeuge, Brabanter Spitzen, nordische Pelze, arabische Wohlgerüche, levantische Früchte, indische Gewürze – alles, nur die Seife nicht – kaufte er von den Städtern. Ein gewisser Welthandel hatte sich entwickelt; die Italiener befuhren das Mittelmeer und darüber hinaus die atlantischen Küsten bis Flandern, die Hanseaten beherrschten bei aufkommender holländischer und englischer Konkurrenz noch immer Nord- und Ostsee. Zwischen den nördlichen und südlichen Zentren des Seeverkehrs wurde die Verbindung über Land erhalten; die Straßen, auf denen diese Verbindung stattfand, gingen durch Deutschland. Während der Adel immer überflüssiger und der Entwicklung hinderlicher, wurden so die Städtebürger die Klasse, in der die Fortentwicklung der Produktion und des Verkehrs, der Bildung, der sozialen und politischen Institutionen sich verkörpert fand.

Alle diese Fortschritte der Produktion und des Austausches waren in der Tat, nach heutigen Begriffen, sehr beschränkter Natur. Die Produktion blieb gebannt in die Form des reinen Zunfthandwerks, behielt also selbst noch einen feudalen Charakter; der Handel blieb innerhalb der europäischen Gewässer und ging nicht über die levantischen Küstenstädte hinaus, in denen er die Produkte des Fernen Ostens eintauschte. Aber kleinlich und beschränkt, wie die Gewerbe und mit ihnen die gewerbtreibenden Bürger blieben, sie reichten hin, die feudale Gesellschaft umzuwälzen, und sie blieben wenigstens in der Bewegung, während der Adel stagnierte.

Dabei hatte die Bürgerschaft der Städte eine gewaltige Waffe gegen den Feudalismus – das Geld. In der feudalen Musterwirtschaft des frühen Mittelalters war für das Geld kaum Platz gewesen. Der Feudalherr bezog von seinen Leibeignen alles, was er brauchte; entweder in der Form von Arbeit oder in der von fertigem Produkt; die Weiber spannen und woben den Flachs und die Wolle und machten die Kleider; die Männer bestellten das Feld; die Kinder hüteten das Vieh des Herrn, sammelten ihm Waldfrüchte, Vogelnester, Streu; die ganze Familie hatte außerdem noch Korn, Obst, Eier, Butter, Käse, Geflügel, Jungvieh und was nicht alles noch einzuliefern. Jede Feudalherrschaft genügte sich selbst; sogar die Kriegsleistungen wurden in Produkten eingefordert; Verkehr, Austausch war nicht vorhanden, Geld überflüssig. Europa war auf eine so niedrige Stufe herabgedrückt, hatte so sehr wieder von vorn angefangen, daß das Geld damals weit weniger eine gesellschaftliche als eine bloß politische Funktion hatte: Es diente zum Steuerzahlen und wurde hauptsächlich erworben durch Raub.

Alles das war jetzt anders. Geld war wieder allgemeines Austauschmittel geworden, und damit hatte sich seine Masse bedeutend vermehrt; auch der Adel konnte es nicht mehr entbehren, und da er wenig oder nichts zu[393] verkaufen hatte, da auch das Rauben jetzt nicht ganz so leicht mehr war, mußte er sich entschließen, vom bürgerlichen Wucherer zu borgen. Lange ehe die Ritterburgen von den neuen Geschützen in Bresche gelegt, waren sie schon vom Geld unterminiert; in der Tat, das Schießpulver war sozusagen bloß der Gerichtsvollzieher im Dienst des Geldes. Das Geld war der große politische Gleichmachungshobel der Bürgerschaft. Überall, wo ein persönliches Verhältnis durch ein Geldverhältnis, eine Naturalleistung durch eine Geldleistung verdrängt wurde, da trat ein bürgerliches Verhältnis an die Stelle eines feudalen. Zwar blieb die alte brutale Naturalwirtschaft auf dem Lande in bei weitem den meisten Fällen bestehn; aber schon gab es ganze Distrikte, wo, wie in Holland, in Belgien, am Niederrhein, die Bauern den Herren Geld statt Fronden und Naturalabgaben entrichteten, wo Herren und Untertanen schon den ersten entscheidenden Schritt getan hatten zum Übergang in Grundbesitzer und Pächter, wo also auch auf dem Lande den politischen Einrichtungen des Feudalismus ihre gesellschaftliche Grundlage abhanden kam.

Wie sehr die Feudalität am Ende des fünfzehnten Jahrhunderts schon vom Geld unterhöhlt und innerlich ausgefressen war, tritt schlagend hervor an dem Golddurst, der sich um diese Zeit Westeuropas bemächtigt. Gold suchten die Portugiesen an der afrikanischen Küste, in Indien, im ganzen Fernen Osten; Gold war das Zauberwort, das die Spanier über den Atlantischen Ozean nach Amerika trieb; Gold war das erste, wonach der Weiße trug, sobald er einen neuentdeckten Strand betrat. Aber dieser Drang, in die Ferne auf Abenteuer auszuziehn, um Gold zu suchen, so sehr er auch im Anfang in feudalen und halbfeudalen Formen sich verwirklicht, war doch in seiner Wurzel schon unverträglich mit dem Feudalismus, dessen Grundlage der Ackerbau und dessen Eroberungszüge wesentlich auf Landerwerb gerichtet waren. Dazu war die Schiffahrt ein entschieden bürgerliches Gewerbe, das seinen antifeudalen Charakter auch allen modernen Kriegsflotten aufgeprägt hat.

Im fünfzehnten Jahrhundert war also die Feudalität in ganz Westeuropa in vollem Verfall; überall hatten sich Städte mit antifeudalen Interessen, mit eignem Recht und mit bewaffneter Bürgerschaft in die feudalen Gebiete eingekeilt, hatten die Feudalherren teilweise schon gesellschaftlich, durch das Geld, und hie und da sogar auch politisch in ihre Abhängigkeit gebracht; selbst auf dem Lande, da, wo der Ackerbau durch besonders günstige Verhältnisse sich gehoben, fingen die alten Feudalbande an, unter der Einwirkung des Geldes sich zu lösen; nur in neueroberten Ländern, wie die ostelbischen Deutschlands, oder in sonst zurückgebliebenen, von den[394] Wegen des Handels abgelegenen Strichen blühte die alte Adelsherrschaft fort. Überall aber hatten sich – in den Städten wie auf dem Land – die Elemente der Bevölkerung gemehrt, die vor allem verlangten, daß das ewige sinnlose Kriegführen aufhöre, jene Fehden der Feudalherren, die den innern Krieg permanent machten, selbst wenn der fremde Feind im Lande war, jener Zustand ununterbrochener, rein zweckloser Verwüstung, der das ganze Mittelalter hindurch gewährt hatte. Selbst noch zu schwach, ihren Willen durchzusetzen, fanden diese Elemente einen starken Rückhalt in der Spitze der ganzen feudalen Ordnung – im Königtum. Und hier ist der Punkt, wo uns die Betrachtung der gesellschaftlichen Verhältnisse zu der der staatlichen führt, wo wir aus der Ökonomie übertreten in die Politik.

Aus dem Völkergewirr des frühesten Mittelalters entwickelten sich nach und nach die neuen Nationalitäten, ein Prozeß, bei dem bekanntlich in den meisten ehemals römischen Provinzen die Besiegten den Sieger, der Bauer und Städter den germanischen Herrn sich assimilierten. Die modernen Nationalitäten sind also ebenfalls das Erzeugnis der unterdrückten Klassen. Wie die Verschmelzung hier, die Grenzscheidung dort vor sich ging, davon gibt uns ein anschauliches Bild die Menkesche Gaukarte des mittleren Lothringens1. Man braucht bloß auf dieser Karte die Grenzscheide romanischer und deutscher Ortsnamen zu verfolgen, um sich zu überzeugen, daß diese für Belgien und Niederlothringen mit der noch vor hundert Jahren bestehenden Sprachgrenze des Französischen und Deutschen in der Hauptsache zusammenfällt. Hie und da findet sich noch ein schmales streitiges Gebiet, wo die beiden Sprachen um den Vorrang kämpfen; im ganzen aber steht fest, was deutsch, was romanisch bleiben soll. Die altniederfränkische und althochdeutsche Form der meisten Ortsnamen der Karte aber beweist, daß sie dem neunten, spätestens zehnten Jahrhundert angehören, daß also die Grenze gegen Ende der karolingschen Zeit schon im wesentlichen gezogen war. Auf der romanischen Seite finden sich nun, besonders in der Nähe der Sprachgrenze, Mischnamen, aus einem deutschen Personennamen und einer romanischen Ortsbezeichnung zusammengesetzt, z.B. westlich der Maas bei Verdun: Eppone curtis, Rotfridi curtis, Ingolini curtis, Teudegisilo-villa, heute Ippécourt, Récourt la Creux, Amblaincourt sur Aire, Thierville. Es waren dies fränkische Herrensitze, kleine deutsche Kolonien auf romanischem Boden, die früher oder später der Romanisierung verfielen. In den Städten und in einzelnen ländlichen Strichen saßen stärkere[395] deutsche Kolonien, die ihre Sprache noch längere Zeit beibehielten; aus einer solchen ging z.B. Ende des neunten Jahrhunderts noch das »Ludwigslied« hervor; daß aber schon früher ein großer Teil der fränkischen Herren romanisiert war, beweisen die Eidformeln der Könige und Großen von 842, in denen das Romanische schon als Amtssprache Frankreichsauftritt.

Die Sprachgruppen einmal abgegrenzt (vorbehaltlich späterer Eroberungs- und Ausrottungskriege, wie sie z.B. gegen die Elbslawen geführt wurden), war es natürlich, daß sie der Staatenbildung zur gegebenen Grundlage dienten, daß die Nationalitäten anfingen, sich zu Nationen zu entwickeln. Wie mächtig dies Element schon im neunten Jahrhundert war, beweist das rasche Zusammenbrechen des Mischstaats Lotharingien. Zwar blieben das ganze Mittelalter durch Sprachgrenzen und Landesgrenzen weit davon entfernt sich zu decken; aber es war doch jede Nationalität, Italien etwa ausgenommen, durch einen besondern großen Staat in Europa vertreten, und die Tendenz, nationale Staaten herzustellen, die immer klarer und bewußter hervortritt, bildet einen der wesentlichsten Fortschrittshebel des Mittelalters.

In jedem dieser mittelalterlichen Staaten bildete nun der König die Spitze der ganzen feudalen Hierarchie, eine Spitze, der die Vasallen nicht entraten konnten und gegen die sie sich zugleich im Stand permanenter Rebellion befanden. Das Grundverhältnis der ganzen feudalen Wirtschaft, Landverleihung gegen Leistung gewisser persönlicher Dienste und Abgaben, lieferte schon in seiner ursprünglichen, einfachsten Gestalt Stoff genug zu Streitigkeiten, besonders wo so viele ein Interesse hatten, Händel zu suchen. Wie nun erst im späteren Mittelalter, wo die Lehnsbeziehungen in allen Ländern unentwirrbare Knäuel von bewilligten, entzogenen, wieder erneuerten, verwirkten, veränderten oder anders bedingten Berechtigungen und Verpflichtungen bildeten? Karl der Kühne z.B. war für einen Teil seiner Länder Lehnsmann des Kaisers, für andre Lehnsmann des Königs von Frankreich; andrerseits war der König von Frankreich, sein Lehnsherr, zugleich für gewisse Gebiete der Lehnsmann Karls des Kühnen, seines eignen Vasallen; wie da Konflikten entgehn? – Daher dieses jahrhundertlange Wechselspiel der Attraktion der Vasallen zum königlichen Zentrum hin, das allein sie gegen außen und gegen einander schützen kann, und die Repulsion vom Zentrum, in die jene Attraktion unaufhörlich und unvermeidlich umschlägt; daher der ununterbrochene Kampf zwischen Königtum und Vasallen, dessen ödes Getöse alles andre übertäubte während jener langen Zeit, wo der Raub die einzige, des freien Mannes würdige[396] Erwerbsquelle war; daher jene endlose, sich immer neu erzeugende Reihe von Verrat, Meuchelmord, Vergiftung, Heimtücke und aller nur erdenklichen Niederträchtigkeiten, die sich hinter dem poetischen Namen der Ritterlichkeit versteckt und in einem fort von Ehre und Treue redet.

Daß in diesem allgemeinen Wirrwarr das Königtum das progressive Element war, liegt auf der Hand. Es vertrat die Ordnung in der Unordnung, die sich bildende Nation gegenüber der Zersplitterung in rebellische Vasallenstaaten. Alle revolutionären Elemente, die sich unter der feudalen Oberfläche bildeten, waren ebenso auf das Königtum angewiesen wie das Königtum auf sie. Die Allianz von Königtum und Bürgertum datiert aus dem zehnten Jahrhundert; oft durch Konflikte unterbrochen, wie denn im ganzen Mittelalter nichts stetig seine Bahn verfolgt, erneuerte sie sich immer fester, immer gewaltiger, bis sie dem Königtum zum endgültigen Sieg verhalf und das Königtum seinen Verbündeten zum Dank unterjochte und ausplünderte.

Könige wie Bürger fanden eine mächtige Stütze an dem aufkommenden Stande der Juristen. Mit der Wiederentdeckung des römischen Rechts trat die Teilung der Arbeit ein zwischen den Pfaffen, den Rechtskonsulenten der Feudalzeit, und den nicht geistlichen Rechtsgelehrten. Diese neuen Juristen waren von vornherein wesentlich bürgerlicher Stand; dann aber war auch das von ihnen studierte, vorgetragne und ausgeübte Recht seinem Charakter nach wesentlich antifeudal und in gewisser Beziehung bürgerlich. Das römische Recht ist so sehr der klassische juristische Ausdruck der Lebensverhältnisse und Kollisionen einer Gesellschaft, in der das reine Privateigentum herrscht, daß alle späteren Gesetzgebungen nichts Wesentliches daran zu bessern vermochten. Das bürgerliche Eigentum des Mittelalters war aber noch stark mit feudalen Beschränkungen verquickt, bestand z.B. großenteils in Privilegien; das römische Recht war also insofern auch den bürgerlichen Verhältnissen von damals weit voraus. Die weitere geschichtliche Entwicklung des bürgerlichen Eigentums konnte aber nur darin bestehn, daß es sich, wie auch geschehn, zum reinen Privateigentum fortbildete. Diese Entwicklung mußte aber einen mächtigen Hebel finden im römischen Recht, das alles das schon fertig enthielt, dem die Bürgerschaft des späteren Mittelalters nur noch unbewußt zustrebte.

Wenn auch in sehr vielen Einzelfällen das römische Recht den Vorwand bot zu erhöhter Bedrückung der Bauern durch den Adel, z.B. wo die Bauern keine schriftlichen Beweise beibringen konnten für ihre Freiheit von sonst üblichen Lasten, so ändert das an der Sache nichts. Der Adel hätte auch ohne das römische Recht solche Vorwände gefunden und fand sie[397] täglich. Jedenfalls war es ein gewaltiger Fortschritt, als ein Recht zur Geltung kam, das die Feudalverhältnisse absolut nicht kennt und das das moderne Privateigentum vollständig antizipierte.

Wir sahen, wie der Feudaladel anfing, in ökonomischer Beziehung in der Gesellschaft des späteren Mittelalters überflüssig, ja hinderlich zu werden; wie er auch bereits politisch der Entwicklung der Städte und des damals nur in monarchischer Form möglichen nationalen Staats im Wege stand. Trotz alledem hatte ihn der Umstand gehalten, daß er bis dahin das Monopol der Waffenführung hatte, daß ohne ihn keine Kriege geführt, keine Schlachten geschlagen werden konnten. Auch dies sollte sich ändern; der letzte Schritt sollte getan werden, um dem Feudaladel klarzumachen, daß die von ihm beherrschte gesellschaftliche und staatliche Periode zu Ende, daß er in seiner Eigenschaft als Ritter, auch auf dem Schlachtfeld, nicht mehr zu brauchen sei.

Die Feudalwirtschaft mit einem selbst feudalen Heer zu bekämpfen, worin die Soldaten durch engere Bande an ihre unmittelbaren Lehnsherrn gebunden waren als an das königliche Armeekommando – das hieß offenbar, sich in einem lasterhaften Zirkel bewegen und nicht vom Fleck kommen. Vom Anfang des vierzehnten Jahrhunderts an streben die Könige danach, sich von diesem Feudalheer zu emanzipieren, ein eignes Heer zu schaffen. Von dieser Zeit an finden wir in den Armeen der Könige einen stets wachsenden Teil geworbner oder gemieteter Truppen. Anfangs meist Fußvolk, aus dem Abhub der Städte und aus weggelaufenen Leibeignen bestehend, Lombarden, Genuesen, Deutsche, Belgier usw., zur Besetzung der Städte und zum Belagerungsdienst gebraucht, in offner Feldschlacht anfangs kaum zu verwenden. Aber schon gegen Ende des Mittelalters finden wir auch Ritter, die sich mit ihren wer weiß wie zusammengebrachten Gefolgschaften in Mietdienst fremder Fürsten begeben und damit den rettungslosen Zusammenbruch des feudalen Kriegswesens bekunden.

Gleichzeitig erstand die Grundbedingung eines kriegstüchtigen Fußvolks in den Städten und in den freien Bauern, da, wo solche noch vorhanden oder sich neu gebildet hatten. Bis dahin war die Ritterschaft mit ihren ebenfalls berittenen Gefolgsleuten nicht sowohl der Kern des Heers, als vielmehr das Heer selbst; der Troß der mitlaufenden leibeignen Fußknechte zählte nicht, er schien – im freien Feld – bloß vorhanden zum Ausreißen und zum Plündern. Solange die Blütezeit des Feudalismus währte, bis Ende des dreizehnten Jahrhunderts, schlug und entschied die Reiterei alle Schlachten. Von da an ändert sich die Sache, und zwar an verschiedenen Punkten gleichzeitig. Das allmähliche Verschwinden der Leibeigenschaft in England schuf eine zahlreiche Klasse freier Bauern, Grundbesitzer (yeomen)[398] oder Pächter, und damit den Rohstoff zu einem neuen Fußvolk, geübt in der Führung des Bogens, der damaligen englischen Nationalwaffe. Die Einführung dieser Bogenschützen, die stets zu Fuß fochten, sie mochten auf dem Marsch beritten sein oder nicht, gab Anlaß zu einer wesentlichen Änderung in der Taktik der englischen Heere. Vom vierzehnten Jahrhundert anficht die englische Ritterschaft mit Vorliebe zu Fuß, da, wo Terrain oder sonstige Umstände dies angemessen machen. Hinter den Bogenschützen, die den Kampf einleiten und den Feind mürbe machen, harrt die geschlossene Phalanx der abgesessenen Ritterschaft des feindlichen Angriffs oder des geeigneten Moments zum Vorbrechen, während nur ein Teil zu Pferde bleibt, um durch Flankenangriffe die Entscheidung zu unterstützen. Die damaligen ununterbrochenen Siege der Engländer in Frankreich beruhen wesentlich auf dieser Wiederherstellung eines defensiven Elements im Heere und sind meist ebensosehr Verteidigungsschlachten mit offensivem Rückstoß wie diejenigen Wellingtons in Spanien und Belgien. Mit der Annahme der neuen Taktik durch die Franzosen – möglich, seit bei ihnen gemietete italienische Armbrustschützen die Stelle der englischen Bogenschützen vertraten – hörte der Siegeslauf der Engländer auf. Ebenfalls zu Anfang des vierzehnten Jahrhunderts hatte das Fußvolk der flandrischen Städte es gewagt – und oft mit Erfolg –, sich der französischen Ritterschaft in offner Feldschlacht entgegenzustellen, und hatte Kaiser Albrecht durch seinen Versuch, die reichsfreien Schweizer Bauern zu verraten an den Erzherzog von Ostreich, der er selbst war, den Anstoß gegeben zur Bildung der ersten modernen Infanterie von europäischem Ruf. In den Triumphen der Schweizer über die Östreicher und namentlich über die Burgunder erlag endgültig die Panzerreiterei – beritten oder abgesessen – dem Fußvolk, das Feudalheer den Anfängen des modernen Heers, der Ritter dem Bürger und freien Bauern. Und die Schweizer, um von vornherein den bürgerlichen Charakter ihrer, der ersten unabhängigen Republik in Europa festzustellen, versilberten sofort ihren Kriegsruhm. Alle politischen Rücksichten verschwanden: die Kantone verwandelten sich in Werbtische, um Söldlinge für den Meistbietenden zusammenzutrommeln. Auch sonstwo, und namentlich in Deutschland, ging die Werbtrommel um; aber der Zynismus einer Regierung, die nur zum Verkauf ihrer Landeskinder dazusein schien, blieb unerreicht, bis in der Zeit der tiefsten nationalen Erniedrigung deutsche Fürsten ihn übertrafen.

Dann wurde im vierzehnten Jahrhundert ebenfalls das Schießpulver und die Artillerie von den Arabern über Spanien nach Europa gebracht. Bis Ende des Mittelalters blieb die Handfeuerwaffe ohne Wichtigkeit, was sich[399] begreift, da der Bogen des englischen Schützen von Crécy ebenso weit und vielleicht sicherer traf – wenn auch nicht mit derselben Wirkung – wie das glatte Gewehr des Infanteristen von Waterloo. Das Feldgeschütz war ebenfalls noch in seiner Kindheit; dagegen hatten die schweren Kanonen das freistehende Mauerwerk der Ritterburgen schon vielfach in Bresche gelegt und dem Feudaladel angekündigt, daß mit dem Pulver das Ende seines Reichs besiegelt sei.

Die Verbreitung der Buchdruckerkunst, die Wiederbelebung des Studiums der antiken Literatur, die ganze Kulturbewegung, die seit 1450 immer stärker, immer allgemeiner wird – alles das kam dem Bürgertum und Königtum zugunsten im Kampf gegen den Feudalismus.

Das Zusammenwirken aller dieser Ursachen, von Jahr zu Jahr gekräftigt durch ihre zunehmende, mehr und mehr in derselben Richtung vorantreibende Wechselwirkung aufeinander, entschied in der letzten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts den Sieg, noch nicht des Bürgertums, wohl aber des Königtums über den Feudalismus. Überall in Europa, bis hinein in die entfernten Nebenländer, die den Feudalzustand nicht durchgemacht, bekam auf einmal die königliche Macht die Überhand. Auf der Pyrenäischen Halbinsel vereinigten sich zwei der dortigen romanischen Sprachstämme zum Königreich Spanien und unterwarf sich das provenzalisch redende Reich Aragon der kastilischen Schriftsprache; der dritte Stamm vereinigte sein Sprachgebiet (mit Ausnahme Galiciens), zum Königreich Portugal, dem iberischen Holland, wandte sich vom Inland ab und bewies durch seine Tätigkeit zur See seine Berechtigung zu gesonderter Existenz.

In Frankreich gelang es Ludwig XI. endlich nach dem Untergang des burgundischen Zwischenreichs die durch das Königtum repräsentierte nationale Einheit auf dem damals noch sehr beschnittenen französischen Gebiet so weit herzustellen, daß bereits sein Nachfolger sich in italienische Händel mischen konnte und daß diese Einheit nur noch einmal – durch die Reformation – auf kurze Zeit in Frage gestellt wurde. England hatte endlich seine quichottischen Eroberungskriege in Frankreich, an denen es auf die Dauer verblutet wäre, aufgegeben; der Feudaladel suchte Ersatz in den Rosenkriegen und fand mehr, als er gesucht hatte: Er rieb sich gegeneinander auf und brachte das Haus Tudor auf den Thron, dessen Königsmacht die aller seiner Vorgänger und Nachfolger übertraf. Die skandinavischen Länder waren längst geeinigt, Polen ging seit der Vereinigung mit Litauen seiner Glanzperiode mit noch ungeschwächter Königsmacht[400] entgegen, und selbst in Rußland waren Niederwerfung der Teilfürsten und Abschüttlung des tatarischen Jochs Hand in Hand gegangen und von Iwan III. endgültig besiegelt. In ganz Europa gab es nur zwei Länder, in denen das Königtum und die ohne es damals unmögliche nationale Einheit gar nicht oder nur auf dem Papier bestanden: Italien und Deutschland.


Fußnote


1 Spruner-Menke, »Hand-Atlas zur Geschichte des Mittelalters und der neueren Zeit«, 3. Aufl., Gotha 1874, Karte Nr. 32.

Quelle:
Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Berlin 1962, Band 21.
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