2. Der Zusammenhang meiner Schriften

[16] Meine bisher erschienenen Schriften gliedern sich in zwei Hauptgruppen. Die erste Gruppe umfasst unter der Bezeichnung »Ausgewählte Werke« die systematisch wichtigeren unter meinen Werken, während die zweite Gruppe populäre Schriften, Sammlungen von Essais und Aufsätzen, philosophische Monographien, kritische und apologetische Erläuterungsschriften u.s.w. enthält.

Die »Ausgewählten Werke« zerfallen selbst wieder in zwei Unterabtheilungen, welche kurz als »Philosophie des Bewusstseins« und »Philosophie des Unbewussten« zu bezeichnen sind. Die erste behandelt in sechs Bänden das erkenntnisstheoretische, sittliche, ästhetische und religiöse Bewusstsein, die zweite in drei Bänden die Phänomenologie und Metaphysik des Unbewussten und das Verhältniss des »Unbewussten« zur modernen Physiologie und Descendenztheorie. Die erste Unterabtheilung beschäftigt sich also mit Erkenntnisstheorie, Ethik, Aesthetik und Religionsphilosophie, die zweite mit Naturphilosophie und Metaphysik, während die Psychologie in beiden gleichmässige Berücksichtigung findet. Der Umstand, dass ich meine Veröffentlichungen mit der »Philosophie des Unbewussten« begonnen habe, hat bei vielen das Missverständniss hervorgerufen, als ob ich die »Philosophie des Bewusstseins« geringschätzig bei Seite schieben oder durch eine Philosophie des Unbewussten nicht sowohl ergänzen als vielmehr ersetzen wollte. Dass dies nicht der Fall war, geht zur Genüge daraus hervor, dass meine »Philosophie des Bewusstseins« schon jetzt die doppelte Zahl von Bänden umfasst wie die »Philosophie des Unbewussten«. Während die »Philosophie des Unbewussten« ähnlich der Hegel'schen »Phänomenologie des Geistes« ein noch ausserhalb des Systems stehendes Programmwerk ist, bilden meine Werke über Ethik, Aesthetik und Religionsphilosophie organische Glieder meines Systems, die selbst schon mehr oder weniger systematisch durchgearbeitet sind, und deshalb muss ich auch den Schwerpunkt meiner bisherigen Wirksamkeit in diesen drei Werken sehen, deren Werth und geschichtliche Bedeutung von der Anerkennung oder Verwerfung meiner Philosophie des Unbewussten in der Hauptsache unabhängig sein dürfte. Dabei verkenne ich nicht, dass ich erst durch den in der Philosophie des Unbewussten mir errungenen Standpunkt persönlich befähigt worden bin, der Philosophie des Bewusstseins eine derartige systematische Durcharbeitung zu geben, ähnlich wie Hegel[16] erst durch den in der »Phänomenologie des Geistes« errungenen Standpunkt befähigt wurde, seine übrigen Werke als Glieder seines Systems auszuarbeiten.

Für die Erkenntnisstheorie habe ich mich bisher mit einer systematischen Erörterung des »Grundproblems« begnügt und bin der Bearbeitung der in neuerer Zeit so reichlich behandelten Logik aus dem Wege gegangen, während ich der Sprachphilosophie und Methodologie besondere Studien18 gewidmet habe, und die philosophische Verwendung der Wahrscheinlichkeitstheorie durch alle meine Werke sich hindurchzieht. Da die Auseinandersetzung mit der Kant'schen Erkenntnisstheorie noch immer als maassgebend für die Stellungnahme gilt, so habe ich dem »Grundproblem der Erkenntnisstheorie« und seiner phänomenologischen Behandlung die »kritische Grundlegung des transcendentalen Realismus« vorangestellt, welche meinen erkenntnisstheoretischen Standpunkt aus der Kritik des Kant'schen zu entwickeln sucht. Ausserdem habe ich aber in einer Reihe von Monographien und kritischen Analysen mich auch mit modernen Denkern der verschiedensten Richtungen auseinander gesetzt.19 Wer meine erkenntnisstheoretische Stellungnahme gründlich beurtheilen will, wird nicht umhin können, alle diese Arbeiten in ihrem inneren Zusammenhange zu betrachten.

Der zweite Band der »Ausgewählten Werke« führt in der zweiten Auflage den Titel »Das sittliche Bewusstsein«, während derselbe in der ersten Auflage »Phänomenologie des sittlichen Bewusstseins« gelautet hatte. Das Werk bildet den ersten, einleitenden Theil eines Systems der Ethik und beansprucht nicht mehr zu sein als eine psychologisch entwickelte und historisch illustrirte »ethische Principienlehre«. Den zweiten und dritten Theil würden Socialethik und Individualethik ausmachen. Für die Ausführung, welche die Socialethik bei mir erhalten würde, finden sich bereits Fingerzeige in den Abschnitten über die Moralprincipien des Gesammtwohls und des Culturfortschritts, sowie in meinen socialen, politischen und pädagogischen Schriften.20 Der Inhalt der Individualethik ist zum Theil in der »Religionsethik«, d.h. in dem[17] dritten Abschnitt der »Religion des Geistes« vorweggenommen, auch habe ich einzelne Probleme derselben in gelegentlichen Aufsätzen behandelt, z.B. »Die Motivation des sittlichen Willens« in den »Krit. Wanderungen durch die Philosophie der Gegenwart«. In der »Phänomenologie des sittlichen Bewusstseins« handelt es sich um eine möglichst vollständige Aufnahme und Sichtung des Gesammtgebietes der Sittlichkeit nach allen ihren Erscheinungsformen im menschlichen Bewusstsein, welche von den unvollkommenen Vorstufen beginnt und schrittweise von den niederen und einseitigeren zu den höheren, vollkommeneren und umfassenderen Erscheinungsformen des sittlichen Bewusstseins aufsteigt. Dabei ergeben sich dann beiläufig gewisse Postulate des sittlichen Bewusstseins, d.h. Erfordernisse seiner Selbstbehauptung, ohne welche dasselbe zu einer widerspruchsvollen Illusion herabsinken würde; es sind dies erstens die Existenz unbewusster objectiver Zwecke, welche das Individuum zu subjectiven Zwecken seines Bewusstseins machen kann, zweitens die Wahrheit des empirischen Pessimismus, ohne welche die sittliche Kraft zur Selbstverleugnung und Ueberwindung des Egoismus nicht ausreichen würde, und drittens der metaphysische Monismus oder die Lehre von der Wesenseinheit aller Individuen mit dem absoluten Weltwesen, ohne welche es an einem logisch zwingenden Grunde zur positiven Hingabe des Eigenwillens an den teleologischen Weltprocess mangeln würde.

Da aus dem Gesichtspunkt eines inductiven Systems jedes Gebiet der »Philosophie des Bewusstseins« selbstständig aus den Erfahrungsthatsachen bearbeitet werden muss, so ruht auf diesen Postulaten die Beziehung, in welche die Geistesphilosophie sich selbst zur Metaphysik, die Philosophie des Bewusstseins sich zur Philosophie des Unbewussten setzt, und die Bedeutung, welche sie für die inductive Begründung dieser Metaphysik gewinnen kann. Deshalb seien hier einige Bemerkungen über den Sinn und die Tragweite solcher Postulate eingeschaltet. Die genannten Forderungen des sittlichen Bewusstseins haben zunächst nur praktische Gewissheit für das sittliche Bewusstsein, und auch diese nur insoweit, als dasselbe sich seiner selbst als eines realen, wahrhaften, nicht bloss illusorischen Bewusstseins sicher fühlt; aus theoretischem Gesichtspunkt sind es nur einseitige, vorläufig unerwiesene Hypothesen, welche allerdings unter Voraussetzung ihrer Richtigkeit den Vorzug haben würden, die praktische Selbstgewissheit des sittlichen Bewusstseins verständlich zu machen. Aber nur dann, wenn diese Hypothesen auch anderweitig eine theoretische Begründung finden, können sie auf theoretische Wahrscheinlichkeit Anspruch machen; wenn dies der Fall ist, so erhält ihre theoretische Wahrscheinlichkeit allerdings einen Zuwachs dadurch, dass sie im Stande sind, auch die empirische Thatsache des sittlichen Bewusstseins erklärlich zu machen, welche schlechthin unerklärlich bliebe, wenn sie sammt seinen praktischen Postulaten als psychologische Illusion gelten müsste. Das Gleiche gilt für die analogen Postulate des ästhetischen und religiösen Bewusstseins;[18] alle drei können für sich allein ihren Postulaten keine ausreichende Stütze als metaphysische Hypothesen geben, wohl aber können sie die Wahrscheinlichkeit erhöhen, welche diesen. Hypothesen, aus theoretischen Gründen ohnehin schon zukommt, und können dieselbe der Gewissheit sehr viel näher rücken, als dies aus rein metaphysischen Erwägungen möglich ist. Wer die metaphysische Begründung jener Hypothesen nicht anerkennt, der wird auch in dem Zusammentreffen derselben mit sittlichen, ästhetischen und religiösen Postulaten seine Ansichten über die illusorische Natur des sittlichen, ästhetischen und religiösen Bewusstseins nicht erschüttern lassen; er wird aber nichtsdestoweniger zugeben müssen, dass die gründliche Untersuchung dieses sittlichen, ästhetischen und religiösen Bewusstseins trotz seiner illusorischen Beschaffenheit eine der interessantesten Aufgaben der Psychologie sein und bleiben würde. Aus diesem Gesichtspunkt wird ein solcher Leser meinen Untersuchungen über diese drei Gegenstände einen unverminderten Grad von Aufmerksamkeit widmen dürfen, da die Frage nach der reellen oder illusorischen Natur des sittlichen, ästhetischen und religiösen Bewusstseins und nach der Wahrheit oder Unwahrheit ihrer Postulate in denselben gar nicht erörtert wird. Wer dagegen die theoretische Begründung der betreffenden Hypothesen gelten lässt, der wird zugeben müssen, dass durch die Uebereinstimmung der sittlichen, ästhetischen und religiösen Postulate mit denselben die phänomenologischen Untersuchungen über das sittliche, ästhetische und religiöse Bewusstsein noch ein weit über das psychologische hinausgehendes Interesse erlangen, indem sie zu ebenso vielen unabhängigen Inductionsreihen werden, welche meiner Metaphysik immer neue inductive Stützen zuführen.

Meine »Religionsphilosophie« ist ebenfalls in genauerer Bezeichnung eine »Phänomenologie des religiösen Bewusstseins«, dessen Entwickelung sich nach meiner Ansicht in vier Hauptphasen gliedert. Die erste ist der religiöse Naturalismus oder die Naturreligion. Diese erhebt sich nach zwei verschiedenen Richtungen zum religiösen Supranaturalismus oder gabelt sich in zwei parallele, coordinirte Stufen: den abstracten Monismus der indischen Religionen und den jüdisch-christlichen Theismus. Beide zielen auf den Fortschritt zu der vierten Stufe, dem concreten Monismus, ab, welcher die religiös berechtigten, aber einseitig halbwahren und durch unhaltbare Beimischungen getrübten Bestandtheile beider in sich conservirt und vereinigt. Nun haben aber bis jetzt nur die drei ersten Stufen geschichtliche Realität, und deshalb sind diese drei, denen gegenüber die phänomenologische Behandlung sich als historisch-kritische Untersuchung zu verhalten hat, zu einem ersten Theil vereinigt unter dem Titel »Das religiöse Bewusstsein der Menschheit im Stufengang seiner Entwickelung«. Die vierte Stufe, welche sich einerseits als Postulat der weiteren Entwickelung aus der philosophischen Kritik der letzterreichten geschichtlichen Stufen ergiebt, muss sich andererseits aus einer voraussetzungslosen phänomenologischen Untersuchung des in seiner Reinheit gefassten religiösen Bewusstseins[19] entfalten, wobei auch die metaphysischen Postulate und praktischen Consequenzen des vorgefundenen psychologischen Inhalts zur Entwickelung gelangen müssen. So wird die phänomenologische Betrachtung der vierten Stufe im zweiten Theil des Werks unvermerkt zu einer systematischen Darstellung der Religionsphilosophie im Gegensatz zu der historisch-kritischen des ersten Theils. Der Titel des zweiten Theils: »Religion des Geistes« bezieht sich darauf, dass die von der weiteren Entwickelung zu gewärtigende Zukunftsreligion des immanenten »Gott-Geistes« sich zum Christenthum oder der Religion des »Gott-Sohnes« verhalten müsse, wie diese zum Judenthum oder der Religion des »Gott-Vaters«. Dass die Religion des concreten Monismus aber auch zugleich die höhere Synthese des indischen abstracten Monismus und des jüdisch-christlichen Theismus sein würde, habe ich mich bemüht, in allen Hauptpunkten der »Religionsmetaphysik« nachzuweisen und durchzuführen.

Die Phänomenologie des sittlichen Bewusstseins weist auf die des religiösen als ihre Wurzel und höhere Ergänzung hinaus; die letztere weist auf die erstere als auf ihre Erfüllung zurück. So bilden beide ein zusammengehöriges Ganze, während die Phänomenologie des ästhetischen Bewusstseins ihnen gegenüber wie ein hors d'oeuvre erscheint. Aber wenn auch das Schöne am sinnlichen Schein haftet, so gewährt es doch in diesem Schein eine ahnungsvolle Vorwegnahme des Höchsten in einer anschaulichen Vollendung, welche weder dem sittlichen noch dem religiösen Bewusstsein erreichbar ist; in diesem Sinne gliedert sich auch die »Philosophie des Schönen« der Geistesphilosophie in der höchsten Bedeutung des Wortes als unentbehrlicher und unersetzlicher Bestandtheil des Systems ein. Auch meine Aesthetik besteht aus einem historisch-kritischen und einem systematischen Theil, aber die Phänomenologie des ästhetischen Bewusstseins beschränkt sich hier auf den zweiten Theil, während der erste eine historisch-kritische Geschichte der ästhetischen Standpunkte und Ansichten von Kant bis zur Gegenwart bietet. Wer weder mit geschichtlichen Interessen an den Gegenstand herantritt, noch auch die Absicht hat, meine Philosophie des Schönen zu kritisiren, der kann getrost die Lectüre der »deutschen Aesthetik seit Kant« sich ersparen und sich mit derjenigen des zweiten Theils begnügen. Ein haltbares Urtheil über meine Aesthetik dagegen wird nur derjenige fällen können, welcher die kritische Rechtfertigung meiner Stellungnahme sowohl im Allgemeinen wie in den Einzelfragen in der Auseinandersetzung mit der ästhetischen Wissenschaft des letzten Jahrhunderts verfolgt und prüft. Nur ein solcher Leser wird im Stande sein, deutlich zu erkennen, wie und warum ich im konkreten Idealismus eine Synthese der einseitigen entgegengesetzten Standpunkte des abstrakten Idealismus und des Formalismus suche, und warum grade der konkrete Idealismus im Stande ist, alle sonst noch aufgetauchten ästhetischen Lehren nach Maassgabe ihrer bleibenden Berechtigung in sich aufzunehmen und als Bestandtheil seiner selbst zu[20] conserviren. Wie die verschiedenen Gebiete des geistigen Lebens sich zum Ganzen zusammenfügen, welche Bedeutung sie in ihrem Verhältniss zum Ganzen des menschlichen Geisteslebens, und welche Stellung sie zu einander einnehmen, das habe ich erst in der »Philosophie des Schönen«, als in dem zuletzt verfassten und abschliessenden Werke unter den der »Philosophie des Bewusstseins« gewidmeten, auseinandergesetzt.

Was nun die zweite Unterabtheilung der »Ausgewählten Werke«, die »Philosophie des Unbewussten«, betrifft, so erscheint dieselbe in der zehnten Auflage zum ersten Male in drei Theilen, indem die Schrift »das Unbewusste vom Standpunkt der Physiologie und Descendenztheorie«, welche von jeher einen Ergänzungsband der Philosophie des Unbewussten bildete, nunmehr in dritter Auflage auch äusserlich als Zubehör derselben kenntlich gemacht worden ist. Zu gleich ist die zweite Auflage der Broschüre »Wahrheit und Irrthum im Darwinismus« diesem dritten Theile eingefügt, so dass nun die Philosophie des Unbewussten alle meine naturphilosophischen Arbeiten in sich vereinigt mit Ausnahme der »Beiträge zur Naturphilosophie«, welche den Abschnitt C. der »Ges. Studien und Aufsätze« bilden, der Monographie über den »Spiritismus« und der Abhandlung über den »Somnambulismus« am Schluss der »Modernen Probleme«. Die erste Auflage der Philosophie des Unbewussten enthielt nur 42 Bogen, welche durch kleinere Zusätze bis zur fünften Auflage auf 53 Bogen, und durch Anhänge und Nachträge in der siebenten Auflage auf 60 Bogen anwuchsen. Dabei habe ich es mir zum Grundsatz gemacht, an dem Text der ersten Auflage nichts zu ändern oder zu streichen, und am Schluss jeder neuen Auflage die Hinzufügungen zu vermerken; dieses Verfahren ist von hervorragenden Philosophiehistorikern wie J. E. Erdmann gebilligt worden. Es wird auf diese Weise jeder Schwierigkeit posthumer Herausgabe vorgebeugt und dem Leser die genaueste Kontrole über die etwaige Entwickelung und Aenderung der Ansichten des Verfassers ermöglicht.

Die Abfassung der ersten Auflage fällt vom Ende meines 21ten bis zum Anfang meines 25ten Lebensjahres (Weihnachten 1864 bis Ostern 1867). Erwägt man, dass ich erst im Sommer 1865 meinen Abschied aus dem Militärdienst erhielt und in der Zeit bis 1864 mich in ausgedehntem Maasse mit Musik, Malerei und schöner Literatur beschäftigte, so wird man an ein solches Jugendwerk keine allzuhohen Ansprüche stellen dürfen. Am wenigsten dürfte es der Billigkeit entsprechen, die literarische und philosophiehistorische Stellung und Bedeutung eines Autors, der inzwischen Jahrzehnte lang im Dienste der Wissenschaft gearbeitet und gewirkt hat, ausschliesslich nach einer älteren Auflage seines Jugendwerkes abzuschätzen, zu kritisiren und zu bekämpfen, wie dies noch immer vielfach geschieht. Ich will mit dieser Bemerkung keineswegs die Philosophie des Unbewussten desavouiren, ich wünsche nur, sie jetzt als Glied in der Reihe meiner Schriften verstanden und[21] beurtheilt zu wissen, anstatt, wie dies bei ihrem ersten Erscheinen nicht anders möglich war, in ihrer Isolirung. Das Capitel über die Metaphysik der Geschlechtsliebe z.B., in welchem dieses Phänomen nur von der natürlichen Seite betrachtet wild, hat zu anscheinend unausrottbaren Missverständnissen Anlass gegeben, welche durch eine Beachtung des Capitels über »das Moralprincip der Liebe« in der »Phänomenologie des sittlichen Bewusstseins« verhindert worden wären. Ebenso hat das Capitel über »die Thorheit des Wollens und das Elend des Daseins« die gröbsten Missverständnisse und Vorurtheile hervorgerufen, weil es von den meisten Lesern aus seinem untrennbaren Zusammenhange mit dem vorhergehenden und nachfolgenden Capitel herausgerissen wurde, weil die Andeutungen über die Gestaltung meiner künftigen Ethik (Bd. II S. 402-404) übersehen oder nicht für Ernst genommen, und die Ausführung derselben in der »Phänomenologie des sittlichen Bewusstseins« und »Religion des Geistes« nicht beachtet wurden. So wurde ferner der Abschnitt A über »die Erscheinung des Unbewussten in der Leiblichkeit«, welcher vor meiner Bekanntschaft mit dem Darwinismus in den Jahren 1864 und 1865 geschrieben ist, von den Naturforschern vielfach geringschätzig beurtheilt ohne Rücksicht darauf, dass ich in dem Cap. C X, das i. J. 1866 verfasst ist, dem Darwinismus bereits vollständig Rechnung getragen hatte, und dass ich in meinen nachfolgenden naturphilosophischen Schriften gerade die im Abschnitt A behandelten Probleme in ausführlichster Weise unter dem Gesichtspunkt der neuesten biologischen Arbeiten nochmals durchgearbeitet hatte. Die dreibändige zehnte Auflage würde den Naturforschern dieses Ignoriren der naturphilosophischen Ergänzungsschriften unmöglich machen, wenn ihnen nicht die Möglichkeit offen bliebe, nun einfach die neueste Auflage zu ignoriren, und nach wie vor nach älteren Auflagen allein über mich abzusprechen.

Bereits im Vorwort der französischen Ausgabe der Philosophie des Unbewussten Neujahr 1877 schrieb ich: »La philosophie de l'Inconscient n'est pas un système: elle se borne à tracer les linéaments principaux d'un système. Elle n'est pas la conclusion mais le programme d'une vie entière de travail: pour achever l'oeuvre, la santé et une longue vie seraient nécessaires«. Dass es mir mit dieser Auffassung Ernst war, habe ich durch die inzwischen geleisteten Abschlagszahlungen bewiesen, aber die Vollendung der gestellten Aufgabe liegt noch fern, während mein Leben seine Mittagshöhe längst überschritten hat.

Die »Ausgewählten Werke« repräsentirenden wesentlichen Kern meiner bisherigen schriftstellerischen Thätigkeit; wer von denselben Kenntniss genommen hat, der darf sagen, dass er meine Philosophie kennt.21 Wer aber meine Philosophie beurtheilen will, d.h. nicht[22] bloss einen subjektiven persönlichen Eindruck von derselben gewinnen, sondern ein objektiv maassgebendes Urtheil über dieselbe fällen, oder gar dasselbe durch mündliche Vorträge oder durch den Druck veröffentlichen will, der wird allerdings nicht umhin können, auch von meinen übrigen Werken Kenntniss zu nehmen, mindestens von denjenigen, welche bestimmte Fragen und Gegenstände betreffen, in deren Beurtheilung er eingetreten ist. Wer z.B. meine Erkenntnisstheorie und Naturphilosophie kritisiren will, wird nicht unterlassen dürfen, die bereits oben angeführten Abhandlungen zu beiden Gebieten zur Ergänzung heranzuziehen. Wer meine Stellung in der Geschichte der Philosophie richtig kennzeichnen will, der muss vor Allem den Abschnitt D der »Ges. Stud. u. Aufsätze« lesen, welcher den Titel führt: »Das philosophische Dreigestirn des 19. Jahrhunderts«, daneben aber auch meine Aufsätze über mein Verhältniss zu Schopenhauer und Hegel in den »Phil. Fragen« und »Krit. Wanderungen«. Wer meine Metaphysik zum Gegenstand seiner Kritik erwählt hat, wird an den apologetischen Erläuterungen nicht vorübergehen dürfen, welche ich zu derselben im »Neukantianismus, Schopenhauerianismus und Hegelianismus«, in »Lotze's Philosophie« und einem Theil der »Phil. Fragen« und »Krit. Wanderungen« beigebracht habe. Wer sich mit meiner Aesthetik näher beschäftigt, wird auch auf den Abschnitt B der »Ges. Stud. u. Aufsätze« zurückgreifen müssen, welcher die Ueberschrift trägt: »Aesthetische Studien«. Wer meinen Pessimismus bekämpfen will, darf meine Schrift »Zur Geschichte und Begründung des Pessimismus« nicht bei Seite liegen lassen. Wer allein in der dialektischen Methode das Heil der Philosophie erblickt, wird meine Schrift »Ueber die dialektische Methode« und meinen Aufsätzen über Bahnsen's Realdialektik und Haller's dialektische Mystik (in den »Phil. Fragen« und »Krit. Wanderungen« seine Beachtung schenken müssen. Wer meine Ethik vornimmt, möge auch auf meine Aufsätze über »Wundt's Ethik« und »die Motivation des sittlichen Willens« in den »Krit. Wanderungen durch die Phil. der Gegenwart« Nr. IV u. V) einen Blick werfen. Wer mein Verhältniss zur Religion und zum Christenthum genau übersehen will, darf sich die Mühe nicht verdriessen lassen, die Lectüre meiner Religionsphilosophie durch diejenigen meiner Schriften über die Selbstzersetzung und die Krisis des Christenthums und der religions-philosophischen Abhandlungen in den »Phil. Fragen der Gegenwart« Nr. VI – IX zu ergänzen. Wer endlich die Absicht hat, sich über meine Stellung zu socialen, politischen und pädagogischen Fragen zu äussern, der muss sich mit den »Modernen Problemen«, den Schriften »Zur Reform des höheren Schulwesens«, »Zwei Jahrzehnte deutscher Politik« und »Das Judenthum in Gegenwart und Zukunft« vertraut machen.

Die vier letzgenannten Schriften sind auch solchen Lesern zugänglich,[23] welche weder philosophische Vorbildung, noch philosophische Interessen besitzen, aber doch mit meiner Feder Bekanntschaft zu machen wünschen; es treten zu ihnen in gleichem Sinne hinzu »Die Selbstzersetzung des Christenthums« und die »Ges. Stud. und Aufsätze« Abschnitt A »Vermischte Aufsätze« und Abschnitt B »Aesthetische Studien«, so wie die ersten drei des Abschnitts C. Auch von den übrigen Schriften sind einzelne Abhandlungen gemeinverständlich geschrieben, z.B. »Die Bedeutung des Leids« und »Ist der Pessimismus schädlich?« in »Zur Gesch. u. Begründ. des Pess.«, ferner »Die unheilbare Auflösung des christlichen Centraldogma's« in der »Krisis des Christenthums« Nr. I u.a.m. Vielleicht ist für Laien die vortheilhafteste Gelegenheit zur Anknüpfung einer ersten Bekanntschaft mit meinem Vorstellungskreise in den von Professor Schneidewin herausgegebenen »Lichtstrahlen« geboten, welche i. J. 1881 in Carl Duncker's Verlag in Berlin erschienen sind; freilich sind die in den achtziger Jahren herausgekommenen Werke, wie Religionsphilosophie und Aesthetik, darin noch nicht berücksichtigt. Dagegen ist E. Koeber's Werk: »Das philosophische System Ed. v. Hartmann's« (Breslau bei Köbner, 1884) mehr auf philosophisch gebildete Leser berechnet; dasselbe berücksichtigt bereits die Religionsphilosophie, aber noch nicht die Aesthetik und zieht auch meine Ethik nicht in den Kreis seiner Darstellung. Wer sich durch die Lectüre meiner populären Schriften und Abhandlungen mit meiner Denkweise vertraut gemacht hat, der wird auch ohne philosophische Vorbildung die »Ausgewählten Werke« mit Ausnahme von Bd. I 1. Abth. und III lesen können. Am populärsten unter denselben dürfte die »Phänomenologie des sittlichen Bewusstseins« geschrieben sein, demnächst »Das religiöse Bewusstsein der Menschheit« (mit Ausnahme einiger Stellen in der Erörterung des Brahmanismus und Buddhismus), das zweite Buch der »Philosophie des Schönen« und die »Religionspsychologie« in der »Religion des Geistes«. Die »Philosophie des Unbewussten« ist nicht ohne Absicht an den Schluss der »Ausgewählten Werke« gestellt.

Wer meine Philosophie kritisiren will, hat ohne Zweifel nicht nöthig, sich dabei um die vorhergegangenen Kritiken Anderer zu kümmern, wobei er dann allerdings Gefahr läuft, schon öfter Gesagtes zu wiederholen. Wohl aber hat er die literarische Pflicht, sich vorher um die Widerlegungen zu bekümmern, welche die Kritiken Anderer bereits erfahren haben, damit er nicht schon öfter Widerlegtes wie eine neue Offenbarung vorbringt, sondern vor Allem die bereits veröffentlichten Widerlegungen seiner Einwände zu entkräften versucht. Zu dem Zweck genügt es aber nicht, dass man meine Schriften und die in denselben enthaltenen Widerlegungen von Angriffen kennt, sondern man muss auch die meiner Gesinnungsgenossen kennen, welche mich literarisch unterstützt haben. Für philosophisch gebildete Leser stehen unter diesen in erster Reihe die trefflichen Schriften von O. Plümacher: »Der Kampf um's Unbewusste« und »Der Pessimismus in[24] Vergangenheit und Gegenwart«, welche eine ziemlich vollständige, sachlich geordnete Uebersicht aller wichtigeren gegen meine Philosophie erhobenen Einwendungen geben, und dadurch nicht mir als Wegweiser in der betreffenden Literatur, sondern bis zu Einem gewissen Grade als Ersatz für eine ganze Bibliothek derselben dienen können.22 Für Leser ohne philosophische Vorbildung wird die Schrift von A. Taubert: »Der Pessimismus und seine Gegner« mehr zu empfehlen sein, welche, obwohl aus der ersten Zeit des Pessimismusstreites stammend, doch auch noch für den gegenwärtigen Stand der Discussion viel Beherzigenswerthes enthält. Mehr veraltet sind »Naturwissenschaft und Philosophie« von A. Taubert, »Der gesunde Menschenverstand vor den Problemen der Wissenschaft« von Dr. Carl Freiherr du Prel und »Der Allgeist« von Dr. Moritz Venetianer. Die ersten beiden und zum Theil auch die dritte sind gegen naturwissenschaftliche Materialisten gerichtet und deshalb noch jetzt beachtenswerth für Kritiker, welche auf dem gleichen Standpunkt stehen.

Wer vor dem Eintritt in die Lectüre eines meiner Werke eine genauere Uebersicht über Inhalt und Ziele derselben wünscht, der wird am besten thun, die sämmtlichen Vorworte derselben im Zusammenhange zu lesen, wobei allerdings darauf zu achten ist, dass es wirklich auch immer die neuesten Auflagen sind, deren er sich bedient. Ausserdem findet man eine allgemeine Uebersicht und Charakteristik meiner Schriften in der Einleitung von Schneidewin's »Lichtstrahlen« (1881), im fünften Capitel von Köber's Darstellung meines Systems (1884), und in Oskar Linke's Essai über mich im Juniheft der »Gesellschaft« von 1887. Die geistvollste unter den neueren Beurtheilungen über meine Philosophie im Allgemeinen dürfte unstreitig in der Abhandlung des verstorbenen Professors August Krohn enthalten sein: »Streifzüge durch die Philosophie der Gegenwart« (in der von ihm herausgegebenen »Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik« 1885/86 Bd. 87 Heft 2 und Bd. 89 Heft 1 anonym veröffentlicht). Die neueste und vollständigste Uebersicht über meine Arbeiten und die Ziele meiner Bestrebungen in gedrängter Kürze und gemeinfasslicher Darstellung bietet die Brochüre von Dr. Arthur Drews »Eduard von Hartmann's Philosophie und der Materialismus in der modernen Cultur« (Leipzig, Wilhelm Friedrich 1890). Wer biographische Mittheilungen über mich wünscht, sei auf meine »Gesammelten Studien und Aufsätze« 3. Aufl. S. 11-41 und Vorwort S. 2-8 verwiesen, daneben auf die kleine Brochüre von G. Heymons »Eduard von Hartmann, Erinnerungen an denselben aus den Jahren 1868-1881«.[25]


18

»Die Ergebnisse der modernen Sprachphilosophie« in den »Krit. Wanderungen durch die Phil. der Gegenwart« Nr. VIII; die Schrift »Ueber die dialectische Methode«; ferner die Essais: »Bahnsen's Realdialectik« und »Eine neue dialectische Form der Mystik« (»Phil. Frag. d. Geg.« Nr. XII und »Krit. Wanderungen durch die Phil. der Geg.« Nr. VI).

19

»Lotze's Erkenntnisstheorie und Metaphysik« (in »Lotze's Philosophie« Nr. II); J. H. v. Kirchmann's erkenntnisstheoretischer Realismus; Lange-Waihinger's subjektivistischer Skepticismus (in »Neukantianismus u.s.w.« S. 1-7, 17-29, 46-118); »Kant und die heutige Erkenntnisstheorie« (in den Phil. Fragen der Gegenwart Nr. XI, S. 244-260); Zum gegenwärtigen Stande der Erkenntnisstheorie (in den »Krit. Wanderungen durch die Philosophie der Gegenwart« Nr. VII); der theologische Neukantianismus (in der »Krisis des Christenthums« 2. Aufl. Nr. III).

20

Moderne Probleme, 2. Aufl. Das Judenthum in Gegenwart und Zukunft, 2. Aufl. Zwei Jahrzehnte deutscher Politik und die gegenwärtige Weltlage. Zur Reform des höheren Schulwesens.

21

Mit Rücksicht hierauf habe ich mich bemüht, meinen Herrn Verleger zu einer Preisfestsetzung für dieselben zu bewegen, welche etwa den dritten Theil des für wissenschaftliche Werke üblichen Preises nicht überschreitet, und darf mit Dank das hierbei gefundene Entgegenkommen anerkennen. Ich glaube damit bewiesen zu haben, dass mir das ideale Interesse für die Verbreitung dessen, was ich für Wahrheit halte, hoher steht, als der aus einem höheren Preise meiner Hauptwerke zu erzielende pecuniäre Gewinn.

22

Dem »Kampf um's Unbewusste« ist ein chronologisches Literaturverzeichniss beigegeben, das zwar nicht vollständig ist, aber doch alle wichtigeren Erscheinungen anführt. Auch die Uebersetzungen meiner Schriften in fremde Sprachen (Russisch, Schwedisch, Französisch, Englisch, Spanisch) sind darin aufgenommen.

Quelle:
Eduard Hartmann: Philosophie des Unbewussten. Band 2, Leipzig 10[o.J.].
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Philosophie des Unbewußten
Eduard Von Hartmann's Ausgewahlte Werke (8); Philosophie Des Unbewussten. 10. Erweiterte Aufl
Eduard Von Hartmann's Ausgewahlte Werke (7); Philosophie Des Unbewussten. 10. Erweiterte Aufl
Philosophie des Unbewussten: 2
Philosophie des Unbewussten: 3

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