b. Die Verstellung

[453] In der moralischen Weltanschauung sehen wir einesteils das Bewußtsein selbst seinen Gegenstand mit Bewußtsein erzeugen; wir sehen es denselben weder als ein Fremdes vorfinden noch auch ihn bewußtlos ihm werden, sondern es verfährt überall nach einem Grunde, aus welchem es das gegenständliche Wesen setzt; es weiß dasselbe also als sich selbst, denn es weiß sich als das tätige, das es erzeugt. Es scheint somit hier zu seiner Ruhe und Befriedigung zu kommen, denn diese kann es nur da finden, wo es über seinen Gegenstand nicht mehr hinauszugehen braucht, weil dieser nicht mehr über es hinausgeht. Auf der ändern Seite aber setzt es selbst ihn vielmehr außer sich hinaus, als ein Jenseits seiner. Aber dies Anundfürsichseiende ist ebenso als ein solches gesetzt, das nicht frei vom Selbstbewußtsein, sondern zum Behuf des letzteren und durch dasselbe sei.

Die moralische Weltanschauung ist daher in der Tat nichts anderes als die Ausbildung dieses zum Grunde liegenden Widerspruchs nach seinen verschiedenen Seiten; sie ist, um einen Kantischen Ausdruck hier, wo er am passendsten ist, zu gebrauchen, ein ganzes Nest gedankenloser Widersprüche. Das Bewußtsein verhält sich in dieser Entwicklung so, daß es ein Moment festsetzt und von da unmittelbar zum anderen übergeht und das erste aufhebt; wie es aber nun dies zweite aufgestellt hat, verstellt es auch dasselbe wieder und macht vielmehr das Gegenteil zum Wesen. Zugleich ist es sich seines Widerspruchs und Verstellen; auch bewußt, denn es geht von einem Momente unmittelbar in Beziehung auf dieses selbst zu dem entgegengesetzten über; weil ein Moment keine Realität für es hat, setzt es eben dasselbe als reell, oder, was dasselbe ist, um ein Moment als[453] an sich seiend zu behaupten, behauptet es das entgegengesetzte als das ansichseiende. Es bekennt damit, daß es ihm in der Tat mit keinem derselben Ernst ist. Dies ist in den Momenten dieser schwindelnden Bewegung näher zu betrachten.

Lassen wir die Voraussetzung, daß es ein wirkliches moralisches Bewußtsein gibt, zuerst auf sich beruhen, weil sie unmittelbar nicht in Beziehung auf etwas Vorhergehendes gemacht wird, und wenden uns an die Harmonie der Moralität und der Natur, das erste Postulat. Sie soll an sich sein, nicht für das wirkliche Bewußtsein, nicht gegenwärtig; sondern die Gegenwart ist vielmehr nur der Widerspruch beider. In der Gegenwart ist die Moralität als vorhanden angenommen und die Wirklichkeit so gestellt, daß sie nicht in Harmonie mit ihr sei. Das wirkliche moralische Bewußtsein aber ist ein handelndes; darin besteht eben die Wirklichkeit seiner Moralität. Im Handeln selbst aber ist jene Stellung unmittelbar verstellt; denn das Handeln ist nichts anderes als die Verwirklichung des inneren moralischen Zwecks, nichts anderes als die Hervorbringung einer durch den Zweck bestimmten Wirklichkeit oder der Harmonie des moralischen Zwecks und der Wirklichkeit selbst. Zugleich ist die Vollbringung der Handlung für das Bewußtsein, sie ist die Gegenwart dieser Einheit der Wirklichkeit und des Zwecks; und weil in der vollbrachten Handlung das Bewußtsein sich als dieses Einzelne verwirklicht oder das Dasein in es zurückgekehrt anschaut und der Genuß hierin besteht, so ist in der Wirklichkeit des moralischen Zwecks zugleich auch diejenige Form derselben enthalten, welche Genuß und Glückseligkeit genannt wird. – Das Handeln erfüllt also in der Tat unmittelbar dasjenige, was nicht stattzufinden aufgestellt war und nur ein Postulat, nur jenseits sein sollte. Das Bewußtsein spricht es also durch die Tat aus, daß es mit dem Postulieren nicht Ernst ist, weil der Sinn des Handelns vielmehr dieser ist, das zur Gegenwart zu machen, was nicht in der Gegenwart sein sollte. Und indem um des Handelns willen die[454] Harmonie postuliert wird – was nämlich durch das Handeln wirklich werden soll, muß an sich so sein, sonst wäre die Wirklichkeit nicht möglich –, so ist der Zusammenhang des Handelns und des Postulats so beschaffen, daß um des Handelns, d.h. um der wirklichen Harmonie des Zwecks und der Wirklichkeit willen diese Harmonie als nicht wirklich, als jenseits gesetzt wird.

Indem gehandelt wird, ist es also mit der Unangemessenheit des Zwecks und der Wirklichkeit überhaupt nicht Ernst; dagegen scheint es mit dem Handeln selbst Ernst zu sein. Aber in der Tat ist die wirkliche Handlung nur Handlung des einzelnen Bewußtseins, also selbst nur etwas Einzelnes und das Werk zufällig. Der Zweck der Vernunft aber als der allgemeine, alles umfassende Zweck ist nichts Geringeres als die ganze Welt; ein Endzweck, der weit über den Inhalt dieser einzelnen Handlung hinausgeht und daher überhaupt über alles wirkliche Handeln hinauszustellen ist. Weil das allgemeine Beste ausgeführt werden soll, wird nichts Gutes getan. In der Tat aber ist die Nichtigkeit des wirklichen Handelns und die Realität nur des ganzen Zwecks, die jetzt aufgestellt sind, nach allen Seiten auch wieder verstellt. Die moralische Handlung ist nicht etwas Zufälliges und Beschränktes, denn sie hat die reine Pflicht zu ihrem Wesen; diese macht den einzigen ganzen Zweck aus, und die Handlung also als Verwirklichung desselben ist bei aller sonstigen Beschränkung des Inhalts die Vollbringung des ganzen absoluten Zwecks. Oder wenn wieder die Wirklichkeit als Natur, die ihre eigenen Gesetze hat und der reinen Pflicht entgegengesetzt ist, genommen wird, so daß also die Pflicht ihr Gesetz nicht in ihr realisieren kann, so ist es, indem die Pflicht als solche das Wesen ist, in der Tat nicht um die Vollbringung der reinen Pflicht, welche der ganze Zweck ist, zu tun; denn die Vollbringung hätte vielmehr nicht die reine Pflicht, sondern das ihr Entgegengesetzte, die Wirklichkeit, zum Zwecke. Aber daß es nicht um die Wirklichkeit zu tun sei, ist wieder verstellt; denn nach dem Begriffe des moralischen[455] Handelns ist die reine Pflicht wesentlich tätiges Bewußtsein; es soll also allerdings gehandelt, die absolute Pflicht in der ganzen Natur ausgedrückt und das Moralgesetz Naturgesetz werden.

Lassen wir also dieses höchste Gut als das Wesen gelten, so ist es dem Bewußtsein mit der Moralität überhaupt nicht Ernst. Denn in diesem höchsten Gute hat die Natur nicht ein anderes Gesetz, als die Moralität hat. Somit fällt das moralische Handeln selbst hinweg, denn das Handeln ist nur unter der Voraussetzung eines Negativen, das durch die Handlung aufzuheben ist. Ist aber die Natur dem Sittengesetze gemäß, so würde ja dieses durch das Handeln, durch das Aufheben des Seienden verletzt. – Es wird also in jener Annahme als der wesentliche Zustand ein solcher eingestanden, worin das moralische Handeln überflüssig ist und gar nicht stattfindet. Das Postulat der Harmonie der Moralität und der Wirklichkeit – einer Harmonie, die durch den Begriff des moralischen Handelns, beide in Übereinstimmung zu bringen, gesetzt ist – drückt sich also auch von dieser Seite so aus: weil das moralische Handeln der absolute Zweck ist, so ist der absolute Zweck, daß das moralische Handeln gar nicht vorhanden sei.

Stellen wir diese Momente, durch die das Bewußtsein sich in seinem moralischen Vorstellen fortwälzte, zusammen, so erhellt, daß es jedes wieder in seinem Gegenteile aufhebt. Es geht davon aus, daß für es die Moralität und Wirklichkeit nicht harmoniere, aber es ist ihm damit nicht Ernst, denn in der Handlung ist für es die Gegenwart dieser Harmonie. Es ist ihm aber auch mit diesem Handeln, da es etwas Einzelnes ist, nicht Ernst; denn es hat einen so hohen Zweck, das höchste Gut. Dies ist aber wieder nur eine Verstellung der Sache, denn darin fiele alles Handeln und alle Moralität hinweg. Oder es ist ihm eigentlich mit dem moralischen Handeln nicht Ernst, sondern das Wünschenswerteste, Absolute ist, daß das höchste Gut ausgeführt und das moralische Handeln überflüssig wäre.[456]

Von diesem Resultate muß das Bewußtsein in seiner widersprechenden Bewegung sich weiter fortwälzen und das Aufheben des moralischen Handelns notwendig wieder verstellen. Die Moralität ist das An sich; daß sie statthabe, kann der Endzweck der Welt nicht ausgeführt sein, sondern das moralische Bewußtsein muß für sich sein und eine ihm entgegengesetzte Natur vorfinden. Aber es an ihm selbst muß vollendet sein. Dies führt zum zweiten Postulate der Harmonie seiner und der Natur, welche an ihm unmittelbar ist, der Sinnlichkeit. Das moralische Selbstbewußtsein stellt seinen Zweck als rein, als von Neigungen und Trieben unabhängig auf, so daß er die Zwecke der Sinnlichkeit in sich vertilgt hat. – Allein diese aufgestellte Aufhebung des sinnlichen Wesens verstellt es wieder. Es handelt, bringt seinen Zweck zur Wirklichkeit, und die selbstbewußte Sinnlichkeit, welche aufgehoben sein soll, ist gerade diese Mitte zwischen dem reinen Bewußtsein und der Wirklichkeit, – sie ist das Werkzeug des ersteren zu seiner Verwirklichung oder das Organ und das, was Trieb, Neigung genannt wird. Es ist daher nicht Ernst mit dem Aufheben der Neigungen und Triebe, denn eben sie sind das sich verwirklichende Selbstbewußtsein. Aber sie sollen auch nicht unterdrückt, sondern der Vernunft nur gemäß sein. Sie sind ihr auch gemäß, denn das moralische Handeln ist nichts anderes als das sich verwirklichende, also sich die Gestalt eines Triebes gebende Bewußtsein, d.h. es ist unmittelbar die gegenwärtige Harmonie des Triebes und der Moralität. Aber in der Tat ist der Trieb nicht nur diese leere Gestalt, die eine andere Feder, als er selbst ist, in sich haben und von ihr getrieben werden könnte. Denn die Sinnlichkeit ist eine Natur, die ihre eigenen Gesetze und Springfedern an ihr selbst hat; es kann der Moralität daher nicht Ernst damit sein, die Triebfeder der Triebe, der Neigungswinkel der Neigungen zu sein. Denn indem diese ihre eigene feste Bestimmtheit und eigentümlichen Inhalt haben, so wäre vielmehr das Bewußtsein, dem sie gemäß wären, ihnen gemäß; eine Gemäßheit, welche sich[457] das moralische Selbstbewußtsein verbittet. Die Harmonie beider ist also nur an sich und postuliert. – In dem moralischen Handeln war soeben die gegenwärtige Harmonie der Moralität und der Sinnlichkeit aufgestellt, dies aber ist nun verstellt; sie ist jenseits des Bewußtseins in einer nebligen Ferne, worin nichts mehr genau zu unterscheiden noch zu begreifen ist; denn mit dem Begreifen dieser Einheit, das wir soeben versuchten, ging es nicht. – In diesem Ansich gibt aber überhaupt das Bewußtsein sich auf. Dieses Ansich ist seine moralische Vollendung, worin der Kampf der Moralität und der Sinnlichkeit aufgehört hat und die letztere der ersteren auf eine Weise gemäß ist, die nicht zu fassen ist. – Darum ist diese Vollendung wieder nur eine Verstellung der Sache, denn in der Tat gäbe in ihr vielmehr die Moralität selbst sich auf, denn sie ist nur Bewußtsein des absoluten Zwecks als des reinen, also im Gegensatze gegen alle anderen Zwecke; sie ist ebenso die Tätigkeit dieses reinen Zwecks, als sie sich der Erhebung über die Sinnlichkeit, der Einmischung derselben und ihres Gegensatzes und Kampfes mit ihr bewußt ist. – Daß es mit der moralischen Vollendung nicht Ernst ist, spricht das Bewußtsein unmittelbar selbst darin aus, daß es sie in die Unendlichkeit hinaus verstellt, d.h. sie als niemals vollendet behauptet.

Vielmehr ist ihm also nur dieser Zwischenzustand der Nichtvollendung das Gültige – ein Zustand, der aber doch ein Fortschreiten zur Vollendung wenigstens sein soll. Allein er kann auch dies nicht sein, denn das Fortschreiten in der Moralität wäre vielmehr ein Zugehen zum Untergang derselben. Das Ziel nämlich wäre das obige Nichts oder Aufheben der Moralität und des Bewußtseins selbst; dem Nichts aber immer näher und näher kommen, heißt abnehmen. Außerdem nähme fortschreiten überhaupt ebenso wie Abnehmen Unterschiede der Größe in der Moralität an; allein von diesen kann in ihr keine Rede sein. In ihr als dem Bewußtsein, welchem der sittliche Zweck die reine Pflicht ist, ist an eine Verschiedenheit überhaupt nicht, am wenigsten an die[458] oberflächliche der Größe zu denken; es gibt nur eine Tugend, nur eine reine Pflicht, nur eine Moralität.

Indem es also mit der moralischen Vollendung nicht Ernst ist, sondern vielmehr mit dem Mittelzustande, d.h., wie soeben erörtert, mit der Nichtmoralität, so kommen wir von einer ändern Seite auf den Inhalt des ersten Postulats zurück. Es ist nämlich nicht abzusehen, wie Glückseligkeit für dies moralische Bewußtsein um seiner Würdigkeit willen zu fordern ist. Es ist seiner Nichtvollendung sich bewußt und kann daher die Glückseligkeit in der Tat nicht als Verdienst, nicht als etwas, dessen es würdig wäre, fordern, sondern sie nur aus einer freien Gnade, d.h. die Glückseligkeit als solche an und für sich selbst verlangen und nicht aus jenem absoluten Grunde, sondern nach Zufall und Willkür erwarten. – Die Nichtmoralität spricht eben hierin aus, was sie ist, – daß es nicht um die Moralität, sondern um die Glückseligkeit an und für sich ohne Beziehung auf jene zu tun ist.

Durch diese zweite Seite der moralischen Weltanschauung wird auch noch die andere Behauptung der ersteren aufgehoben, worin die Disharmonie der Moralität und Glückseligkeit vorausgesetzt wird. – Es will nämlich die Erfahrung gemacht werden, daß es in dieser Gegenwart dem Moralischen oft schlecht, dem Unmoralischen hingegen oft glücklich gehe. Allein der Zwischenzustand der unvollendeten Moralität, der sich als das Wesentliche ergeben hat, zeigt offenbar, daß diese Wahrnehmung und seinsollende Erfahrung nur eine Verstellung der Sache ist. Denn da die Moralität unvollendet, d.h. die Moralität in der Tat nicht ist, was kann an der Erfahrung sein, daß es ihr schlecht gehe? – Indem es zugleich herausgekommen, daß es um die Glückseligkeit an und für sich zu tun ist, so zeigt es sich, daß bei Beurteilung, es gehe dem Unmoralischen gut, nicht ein Unrecht gemeint war, das hier stattfinde. Die Bezeichnung eines Individuums als eines unmoralischen fällt, indem die Moralität überhaupt unvollendet ist, an sich hinweg, hat also nur einen willkürlichen Grund. Der Sinn und Inhalt[459] des Urteils der Erfahrung ist dadurch allein dieser, daß einigen die Glückseligkeit an und für sich nicht zukommen sollte, d.h. er ist Neid, der sich zum Deckmantel die Moralität nimmt. Der Grund aber, warum anderen das sogenannte Glück zuteil werden sollte, ist die gute Freundschaft, die ihnen und sich selbst diese Gnade, d.h. diesen Zufall gönnt und wünscht.

Die Moralität also im moralischen Bewußtsein ist unvollendet; dies ist es, was jetzt aufgestellt wird. Aber es ist ihr Wesen, nur das Vollendete, Reine zu sein; die unvollendete Moralität ist daher unrein, oder sie ist Immoralität. Die Moralität selbst ist also in einem anderen Wesen als in dem wirklichen Bewußtsein; es ist ein heiliger moralischer Gesetzgeber, – Die im Bewußtsein unvollendete Moralität, welche der Grund dieses Postulierens ist, hat zunächst die Bedeutung, daß die Moralität, indem sie im Bewußt sein als wirklich gesetzt wird, in der Beziehung auf ein Anderes, auf ein Dasein steht, also selbst an ihr das Anderssein oder den Unterschied erhält, wodurch eine vielfache Menge von moralischen Geboten entsteht. Das moralische Selbstbewußtsein hält aber zugleich diese vielen Pflichten für unwesentlich; denn es ist nur um die eine reine Pflicht zu tun, und für es haben sie, insofern sie bestimmte sind, keine Wahrheit. Sie können ihre Wahrheit also nur in einem Anderen haben und sind, was sie für es nicht sind, heilig durch einen heiligen Gesetzgeber. – Allein dies ist selbst wieder nur eine Verstellung der Sache. Denn das moralische Selbstbewußtsein ist sich das Absolute, und Pflicht schlechthin nur das, was es als Pflicht weiß. Es weiß aber nur die reine Pflicht als Pflicht; was ihm nicht heilig ist, ist an sich nicht heilig, und was an sich nicht heilig ist, kann durch das heilige Wesen nicht geheiligt werden. Es ist dem moralischen Bewußtsein auch überhaupt damit nicht Ernst, etwas durch ein anderes Bewußtsein, als es selbst ist, heiligen zu lassen; denn es ist ihm schlechthin nur das heilig, was ihm durch sich selbst und in ihm heilig ist. – Es ist also ebensowenig damit Ernst, daß[460] dies andere Wesen ein heiliges sei, denn in ihm sollte etwas zur Wesenheit gelangen, was für das moralische Bewußtsein, d.h. an sich keine Wesenheit hat.

Wenn das heilige Wesen postuliert wurde, daß in ihm die Pflicht nicht als reine Pflicht, sondern als eine Vielheit bestimmter Pflichten ihre Gültigkeit hätte, so muß also dieses wieder verstellt und das andere Wesen allein insofern heilig sein, als in ihm nur die reine Pflicht Gültigkeit hat. Die reine Pflicht hat auch in der Tat Gültigkeit nur in einem anderen Wesen, nicht in dem moralischen Bewußtsein. Obschon in ihm die reine Moralität allein zu gelten scheint, so muß doch dieses anders gestellt werden, denn es ist zugleich natürliches Bewußtsein. Die Moralität ist in ihm von der Sinnlichkeit affiziert und bedingt, also nicht an und für sich, sondern eine Zufälligkeit des freien Willens, in ihm aber als reinem Willen eine Zufälligkeit des Wissens, an und für sich ist die Moralität daher in einem anderen Wesen.

Dieses Wesen ist also hier die rein vollendete Moralität darum, weil sie in ihm nicht in Beziehung auf Natur und Sinnlichkeit steht. Allein die Realität der reinen Pflicht ist ihre Verwirklichung in Natur und Sinnlichkeit. Das moralische Bewußtsein setzt seine Unvollkommenheit darein, daß in ihm die Moralität eine positive Beziehung auf die Natur und Sinnlichkeit hat, da ihm dies für ein wesentliches Moment derselben gilt, daß sie schlechthin nur eine negative Beziehung darauf habe. Das reine moralische Wesen dagegen, weil es erhaben über den Kampf mit der Natur und Sinnlichkeit ist, steht nicht in einer negativen Beziehung darauf. Es bleibt ihm also in der Tat nur die positive Beziehung darauf übrig, d.h. eben dasjenige, was soeben als das Unvollendete, als das Unmoralische galt. Die reine Moralität aber ganz getrennt von der Wirklichkeit, so daß sie ebensosehr ohne positive Beziehung auf diese wäre, wäre eine bewußtlose, unwirkliche Abstraktion, worin der Begriff der Moralität, Denken der reinen Pflicht und ein Wille und Tun zu sein, schlechthin aufgehoben wäre. Dieses so rein[461] moralische Wesen ist daher wieder eine Verstellung der Sache und aufzugeben.

In diesem rein moralischen Wesen aber nähern sich die Momente des Widerspruchs, in welchem dies synthetische Vorstellen sich herumtreibt, und die entgegengesetzten Auchs, die es, ohne diese seine Gedanken zusammenzubringen, aufeinanderfolgen und ein Gegenteil immer durch das andere ablösen läßt, so sehr, daß das Bewußtsein hier seine moralische Weltanschauung aufgeben und in sich zurückfliehen muß.

Es erkennt seine Moralität darum als nicht vollendet, weil es von einer ihr entgegengesetzten Sinnlichkeit und Natur affiziert ist, welche teils die Moralität selbst als solche trübt, teils eine Menge von Pflichten entstehen macht, durch die es im konkreten Falle des wirklichen Handelns in Verlegenheit gerät; denn jeder Fall ist die Konkretion vieler moralischer Beziehungen, wie ein Gegenstand der Wahrnehmung über haupt ein Ding von vielen Eigenschaften ist; und indem die bestimmte Pflicht Zweck ist, hat sie einen Inhalt, und ihr Inhalt ist ein Teil des Zwecks und die Moralität nicht rein. – Diese hat also in einem anderen Wesen ihre Realität. Aber diese Realität heißt nichts anderes, als daß die Moralität hier an und für sich sei, – für sich, d.h. Moralität eines Bewußtseins sei, an sich, d.h. Dasein und Wirklichkeit habe. – In jenem ersten unvollendeten Bewußtsein ist die Moralität nicht ausgeführt; sie ist darin das Ansich im Sinne eines Gedankendinges; denn sie ist mit Natur und Sinnlichkeit, mit der Wirklichkeit des Seins und des Bewußtseins vergesellschaftet, die ihren Inhalt ausmacht, und Natur und Sinnlichkeit ist das moralisch Nichtige. – In dem zweiten ist die Moralität als vollendet und nicht als ein unausgeführtes Gedankending vorhanden. Aber diese Vollendung besteht eben darin, daß die Moralität in einem Bewußtsein Wirklichkeit sowie freie Wirklichkeit, Dasein überhaupt hat, nicht das Leere, sondern das Erfüllte, Inhaltsvolle ist; – d.h. die Vollendung der Moralität wird darein gesetzt, daß[462] das, was soeben als das moralisch Nichtige bestimmt wurde, in ihr und an ihr vorhanden ist. Sie soll das eine Mal schlechthin nur als das unwirkliche Gedankending der reinen Abstraktion Gültigkeit, aber ebensowohl in dieser Weise keine Gültigkeit haben; ihre Wahrheit soll darin bestehen, der Wirklichkeit entgegengesetzt und von ihr ganz frei und leer, und wieder darin, Wirklichkeit zu sein.

Der Synkretismus dieser Widersprüche, der in der moralischen Weltanschauung auseinandergelegt ist, fällt in sich zusammen, indem der Unterschied, worauf er beruht, von solchem, das notwendig gedacht und gesetzt werden müsse und doch zugleich unwesentlich sei, zu einem Unterschiede wird, der nicht einmal mehr in den Worten liegt. Was am Ende als ein Verschiedenes gesetzt wird, sowohl als das Nichtige wie als das Reelle, ist ein und ebendasselbe, das Dasein und die Wirklichkeit; und was absolut nur als das Jenseits des wirklichen Seins und Bewußtseins und ebensowohl nur in ihm und als ein Jenseits das Nichtige sein soll, ist die reine Pflicht und das Wissen derselben als des Wesens. Das Bewußtsein, das diesen Unterschied macht, der keiner ist, die Wirklichkeit für das Nichtige und das Reale zugleich, die reine Moralität ebenso für das wahre Wesen sowie für das Wesenlose aussagt, spricht die Gedanken, die es vorher trennte, zusammen aus, spricht es selbst aus, daß es ihm mit dieser Bestimmung und der Auseinanderstellung der Momente des Selbsts und des Ansichs nicht Ernst ist, sondern daß es das, was es als das absolute, außer dem Bewußtsein Seiende aussagt, vielmehr in dem Selbst des Selbstbewußtseins eingeschlossen behält, und was es als das absolut Gedachte oder das absolute Ansich aussagt, eben darum für ein nicht Wahrheit Habendes nimmt. – Es wird für das Bewußtsein, daß das Auseinanderstellen dieser Momente eine Verstellung ist, und es wäre Heuchelei, wenn es sie doch beibehielte. Aber als moralisches reines Selbstbewußtsein flieht es aus dieser Ungleichheit seines Vorstellen; mit dem, was sein Wesen ist, aus dieser Unwahrheit, welche das für wahr[463] aussagt, was ihm für unwahr gilt, mit Abscheu in sich zurück. Es ist reines Gewissen, welches eine solche moralische Weltvorstellung verschmäht; es ist in sich selbst der einfache, seiner gewisse Geist, der ohne die Vermittlung jener Vorstellungen unmittelbar gewissenhaft handelt und in dieser Unmittelbarkeit seine Wahrheit hat. – Wenn aber diese Welt der Verstellung nichts anderes als die Entwicklung des moralischen Selbstbewußtseins in seinen Momenten und hiermit seine Realität ist, so wird es durch sein Zurückgehen in sich seinem Wesen nach nichts anderes werden; sein Zurückgehen in sich ist vielmehr nur das erlangte Bewußtsein, daß seine Wahrheit eine vorgegebene ist. Es müßte sie noch immer für seine Wahrheit ausgeben, denn es müßte sich als gegenständliche Vorstellung aussprechen und darstellen, aber wüßte, daß dies nur eine Verstellung ist; es wäre hiermit in der Tat die Heuchelei und jenes Verschmähen jener Verstellung schon die erste Äußerung der Heuchelei.

Quelle:
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. Band 3, Frankfurt a. M. 1979, S. 453-464.
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