Erster Abschnitt

Der Vorsatz und die Schuld

§ 115

[215] Die Endlichkeit des subjektiven Willens in der Unmittelbarkeit des Handelns besteht unmittelbar darin, daß er für sein Handeln einen vorausgesetzten äußerlichen Gegenstand mit mannigfaltigen Umständen hat. Die Tat setzt eine Veränderung an diesem vorliegenden Dasein, und der Wille hat schuld überhaupt daran, insofern in dem veränderten Dasein das abstrakte Prädikat des Meinigen liegt.

Eine Begebenheit, ein hervorgegangener Zustand ist eine konkrete äußerliche Wirklichkeit, die deswegen unbestimmbar viele Umstände an ihr hat. Jedes einzelne Moment, das sich als Bedingung, Grund, Ursache eines solchen Umstandes zeigt und somit das Seinige beigetragen hat, kann angesehen werden, daß es schuld daran sei oder wenigstens schuld daran habe. Der formelle Verstand hat daher bei einer reichen Begebenheit (z.B. der Französischen Revolution) an einer unzähligen Menge von Umständen die Wahl, welchen er als einen, der schuld sei, behaupten will.[215]


§ 116

Meine eigene Tat ist es zwar nicht, wenn Dinge, deren Eigentümer ich bin und die als äußerliche in mannigfaltigem Zusammenhange stehen und wirken (wie es auch mit mir selbst als mechanischem Körper oder als Lebendigem der Fall sein kann), anderen dadurch Schaden verursachen. Dieser fällt mir aber mehr oder weniger zur Last, weil jene Dinge überhaupt die meinigen, jedoch auch nach ihrer eigentümlichen Natur nur mehr oder weniger meiner Herrschaft, Aufmerksamkeit usf. unterworfen sind.


§ 117

[216] Der selbst handelnde Wille hat in seinem auf das vorliegende Dasein gerichteten Zwecke die Vorstellung der Umstände desselben. Aber weil er, um dieser Voraussetzung willen, endlich ist, ist die gegenständliche Erscheinung für ihn zufällig und kann in sich etwas anderes enthalten als in seiner Vorstellung. Das Recht des Willens aber ist, in seiner Tat nur dies als seine Handlung anzuerkennen und nur an dem schuld zu haben, was er von ihren Voraussetzungen in seinem Zwecke weiß, was davon in seinem Vorsatze lag. – Die Tat kann nur als Schuld des Willens zugerechnet werden; – das Recht des Wissens.


§ 118

[217] Die Handlung ferner als in äußerliches Dasein versetzt, das sich nach seinem Zusammenhange in äußerer Notwendigkeit nach allen Seiten entwickelt, hat mannigfaltige Folgen. Die Folgen, als die Gestalt, die den Zweck der Handlung zur Seele hat, sind das Ihrige (das der Handlung Angehörige), – zugleich aber ist sie, als der in die Äußerlichkeit gesetzte Zweck, den äußerlichen Mächten preisgegeben, welche ganz anderes daran knüpfen, als sie für sich ist, und sie in entfernte, fremde Folgen fortwälzen. Es ist ebenso das Recht des Willens, sich nur das erstere zuzurechnen, weil nur sie in seinem Vorsatze liegen.

Was zufällige und was notwendige Folgen sind, enthält die Unbestimmtheit dadurch, daß die innere Notwendigkeit am Endlichen als äußere Notwendigkeit, als ein Verhältnis von einzelnen Dingen zueinander ins Dasein tritt, die als selbständige gleichgültig gegeneinander und äußerlich zusammenkommen. Der Grundsatz: bei den Handlungen die Konsequenzen verachten, und der andere: die Handlungen aus den Folgen beurteilen und sie zum Maßstabe dessen, was recht und gut sei, zu machen – ist beides gleich abstrakter Verstand. Die Folgen, als die eigene immanente Gestaltung der Handlung, manifestieren nur deren Natur und sind nichts anderes als sie selbst; die Handlung kann sie daher nicht verleugnen und verachten. Aber umgekehrt ist unter ihnen ebenso das äußerlich Eingreifende und zufällig Hinzukommende begriffen, was die Natur der Handlung selbst nichts angeht. – Die Entwicklung des Widerspruchs, den die Notwendigkeit des Endlichen enthält, ist im Dasein eben das Umschlagen von Notwendigkeit in Zufälligkeit und umgekehrt. Handeln heißt daher nach dieser Seite, sich diesem Gesetze preisgeben. – Hierin liegt, daß es dem Verbrecher, wenn seine Handlung weniger schlimme Folgen hat, zugute kommt, so wie die gute Handlung es sich muß gefallen lassen, keine oder weniger Folgen gehabt zu haben, und daß[218] dem Verbrechen, aus dem sich die Folgen vollständiger entwickelt haben, diese zur Last fallen. – Das heroische Selbstbewußtsein (wie in den Tragödien der Alten, Ödipus usf.) ist aus seiner Gediegenheit noch nicht zur Reflexion des Unterschiedes von Tat und Handlung, der äußerlichen Begebenheit und dem Vorsatze und Wissen der Umstände, sowie zur Zersplitterung der Folgen fortgegangen, sondern übernimmt die Schuld im ganzen Umfange der Tat.[219]

Quelle:
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. Band 7, Frankfurt a. M. 1979, S. 215-220,223.
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Philosophische Bibliothek, Bd.483, Grundlinien der Philosophie des Rechts, mit Hegels eigenhändigen Randbemerkungen in seinem Handexemplar.
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