§ 80. Von der notwendigen Unterordnung des Prinzips des Mechanisms unter dem Teleologischen in Erklärung eines Dinges als Naturzwecks

[372] Die Befugnis, auf eine bloß mechanische Erklärungsart aller Naturprodukte auszugehen, ist an sich ganz unbeschränkt; aber das Vermögen, damit allein auszulangen, ist, nach der Beschaffenheit unseres Verstandes, sofern er es mit Dingen als Naturzwecken zu tun hat, nicht allein sehr beschränkt, sondern auch deutlich begrenzt: nämlich so, daß, nach einem Prinzip der Urteilskraft, durch das erstere Verfahren allein zur Erklärung der letzteren gar nichts ausgerichtet werden könne, mithin die Beurteilung solcher Produkte jederzeit von uns zugleich einem teleologischen Prinzip untergeordnet werden müsse.

Es ist daher vernünftig, ja verdienstlich, dem Naturmechanism, zum Behuf einer Erklärung der Naturprodukte, soweit nachzugehen, als es mit Wahrscheinlichkeit geschehen kann, ja diesen Versuch nicht darum aufzugeben, weil es an sich unmöglich sei, auf seinem Wege mit der Zweckmäßigkeit der Natur zusammenzutreffen, sondern nur darum, weil es für uns als Menschen unmöglich ist; indem dazu eine andere als sinnliche Anschauung und ein bestimmtes Erkenntnis des intelligibelen Substrats der Natur, woraus selbst von dem Mechanism der Erscheinungen nach besondern Gesetzen Grund angegeben werden könne, erforderlich sein würde, welches alles unser Vermögen gänzlich übersteigt.

Damit also der Naturforscher nicht auf reinen Verlust arbeite, so muß er in Beurteilung der Dinge, deren Begriff als Naturzwecke unbezweifelt gegründet ist (organisierter Wesen), immer irgend eine ursprüngliche Organisation zum Grunde legen, welche jenen Mechanism selbst benutzt, um andere organisierte Formen hervorzubringen, oder die seinige zu neuen Gestalten (die doch aber immer aus jenem Zwecke und ihm gemäß erfolgen) zu entwickeln.

Es ist rühmlich, vermittelst einer komparativen Anatomie die große Schöpfung organisierter Naturen durchzugehen,[373] um zu sehen: ob sich daran nicht etwas einem System Ähnliches, und zwar dem Erzeugungsprinzip nach, vorfinde; ohne daß wir nötig haben, beim bloßen Beurteilungsprinzip (welches für die Einsicht ihrer Erzeugung keinen Aufschluß gibt) stehen zu bleiben, und mutlos allen Anspruch auf Natureinsicht in diesem Felde aufzugeben. Die Übereinkunft so vieler Tiergattungen in einem gewissen gemeinsamen Schema, das nicht allein in ihrem Knochenbau, sondern auch in der Anordnung der übrigen Teile zum Grunde zu liegen scheint, wo bewunderungswürdige Einfalt des Grundrisses durch Verkürzung einer und Verlängerung anderer, durch Einwickelung dieser und Auswickelung jener Teile, eine so große Mannigfaltigkeit von Spezies hat hervorbringen können, läßt einen obgleich schwachen Strahl von Hoffnung in das Gemüt fallen, daß hier wohl etwas mit dem Prinzip des Mechanismus der Natur, ohne welches es überhaupt keine Naturwissenschaft geben kann, auszurichten sein möchte. Diese Analogie der Formen, sofern sie bei aller Verschiedenheit einem gemeinschaftlichen Urbilde gemäß erzeugt zu sein scheinen, verstärkt die Vermutung einer wirklichen Verwandtschaft derselben in der Erzeugung von einer gemeinschaftlichen Urmutter, durch die stufenartige Annäherung einer Tiergattung zur andern, von derjenigen an, in welcher das Prinzip der Zwecke am meisten bewährt zu sein scheint, nämlich dem Menschen, bis zum Polyp, von diesem so gar bis zu Moosen und Flechten, und endlich zu der niedrigsten uns merklichen Stufe der Natur, zur rohen Materie: aus welcher und ihren Kräften, nach mechanischen Gesetzen (gleich denen, wornach sie in Kristallerzeugungen wirkt), die ganze Technik der Natur, die uns in organisierten Wesen so unbegreiflich ist, daß wir uns dazu ein anderes Prinzip zu denken genötigt glauben, abzustammen scheint.

Hier steht es nun dem Archäologen der Natur frei, aus den übriggebliebenen Spuren ihrer ältesten Revolutionen, nach allem ihm bekannten oder gemutmaßten Mechanism derselben, jene große Familie von Geschöpfen (denn[374] so müßte man sie sich vorstellen, wenn die genannte durchgängig zusammenhangende Verwandtschaft einen Grund haben soll) entspringen zu lassen. Er kann den Mutterschoß der Erde, die eben aus ihrem chaotischen Zustande herausging (gleichsam als ein großes Tier), anfänglich Geschöpfe von minder-zweckmäßiger Form, diese wiederum andere, welche angemessener ihrem Zeugungsplatze und ihrem Verhältnisse unter einander sich ausbildeten, gebären lassen; bis diese Gebärmutter selbst, erstarrt, sich verknöchert, ihre Geburten auf bestimmte fernerhin nicht ausartende Spezies eingeschränkt hätte, und die Mannigfaltigkeit so bliebe, wie sie am Ende der Operation jener fruchtbaren Bildungskraft ausgefallen war. – Allein er muß gleichwohl zu dem Ende dieser allgemeinen Mutter eine auf alle diese Geschöpfe zweckmäßig gestellte Organisation beilegen, widrigenfalls die Zweckform der Produkte des Tier- und Pflanzenreichs ihrer Möglichkeit nach gar nicht zu denken ist.29 Alsdann aber hat er den Erklärungsgrund nur weiter aufgeschoben, und kann sich nicht anmaßen, die Erzeugung jener zweien Reiche von der Bedingung der Endursachen unabhängig gemacht zu haben.[375]

Selbst, was die Veränderung betrifft, welcher gewisse Individuen der organisierten Gattungen zufälligerweise unterworfen werden, wenn man findet, daß ihr so abgeänderter Charakter erblich und in die Zeugungskraft aufgenommen wird, so kann sie nicht füglich anders als gelegentliche Entwickelung einer in der Spezies ursprünglich vorhandenen zweckmäßigen Anlage, zur Selbsterhaltung der Art, beurteilt werden; weil das Zeugen seines gleichen, bei der durchgängigen inneren Zweckmäßigkeit eines organisierten Wesens, mit der Bedingung, nichts in die Zeugungskraft aufzunehmen, was nicht auch in einem solchen System von Zwecken zu einer der unentwickelten ursprünglichen Anlagen gehört, so nahe verbunden ist. Denn, wenn man von diesem Prinzip abgeht, so kann man mit Sicherheit nicht wissen, ob nicht mehrere Stücke der jetzt an einer Spezies anzutreffenden Form eben so zufälligen zwecklosen Ursprungs sein mögen; und das Prinzip der Teleologie: in einem organisierten Wesen nichts von dem, was sich in der Fortpflanzung desselben erhält, als unzweckmäßig zu beurteilen, müßte dadurch in der Anwendung sehr unzuverlässig werden, und lediglich für den Urstamm (den wir aber nicht mehr kennen) gültig sein.

Hume macht wider diejenigen, welche für alle solche Naturzwecke ein teleologisches Prinzip der Beurteilung, d.i. einen architektonischen Verstand anzunehmen nötig finden, die Einwendung: daß man mit eben dem Rechte fragen könnte, wie denn ein solcher Verstand möglich sei, d.i. wie die mancherlei Vermögen und Eigenschaften, welche die Möglichkeit eines Verstandes, der zugleich ausführende Macht hat, ausmachen, sich so zweckmäßig in einem Wesen haben zusammen finden können. Allein dieser Einwurf ist nichtig. Denn die ganze Schwierigkeit, welche die Frage wegen der ersten Erzeugung eines in sich selbst Zwecke enthaltenden und durch sie allein begreiflichen Dinges umgibt, beruht auf der Nachfrage nach Einheit des Grundes der Verbindung des Mannigfaltigen außer einander in diesem Produkte; da denn, wenn dieser Grund in dem Verstande[376] einer hervorbringenden Ursache als einfacher Substanz gesetzt wird, jene Frage, sofern sie teleologisch ist, hinreichend beantwortet wird, wenn aber die Ursache bloß in der Materie, als einem Aggregat vieler Substanzen aus einander, gesucht wird, die Einheit des Prinzips für die innerlich zweckmäßige Form ihrer Bildung gänzlich ermangelt; und die Autokratie der Materie in Erzeugungen, welche von unserm Verstande nur als Zwecke begriffen werden können, ist ein Wort ohne Bedeutung.

Daher kommt es, daß diejenigen, welche für die objektiv-zweckmäßigen Formen der Materie einen obersten Grund der Möglichkeit derselben suchen, ohne ihm eben einen Verstand zuzugestehen, das Weltganze doch gern zu einer einigen allbefassenden Substanz (Pantheism), oder (welches nur eine bestimmtere Erklärung des Vorigen ist) zu einem Inbegriffe vieler einer einigen einfachen Substanz inhärierenden Bestimmungen (Spinozism), machen, bloß um jene Bedingung aller Zweckmäßigkeit, die Einheit des Grundes, heraus zu bekommen; wobei sie zwar einer Bedingung der Aufgabe, nämlich der Einheit in der Zweckbeziehung, vermittelst des bloß ontologischen Begriffs einer einfachen Substanz, ein Genüge tun, aber für die andere Bedingung, nämlich das Verhältnis derselben zu ihrer Folge als Zweck, wodurch jener ontologische Grund für die Frage näher bestimmt werden soll, nichts anführen, mithin die ganze Frage keinesweges beantworten. Auch bleibt sie schlechterdings unbeantwortlich (für unsere Vernunft), wenn wir jenen Urgrund der Dinge nicht als einfache Substanz und dieser ihre Eigenschaft zu der spezifischen Beschaffenheit der auf sie sich gründenden Naturformen, nämlich der Zweckeinheit, nicht als einer intelligenten Substanz das Verhältnis aber derselben zu den letzteren (wegen der Zufälligkeit, die wir an allem was wir uns nur als Zweck möglich denken) nicht als das Verhältnis einer Kausalität uns vorstellen.

29

Eine Hypothese von solcher Art kann man ein gewagtes Abenteuer der Vernunft nennen; und es mögen wenige, selbst von den scharfsinnigsten Naturforschern, sein, denen es nicht bisweilen durch den Kopf gegangen wäre. Denn ungereimt ist es eben nicht, wie die generatio aequivoca, worunter man die Erzeugung eines organisierten Wesens durch die Mechanik der rohen unorganisierten. Materie versteht. Sie wäre immer noch generatio univoca in der allgemeinsten Bedeutung des Worts, so fern nur etwas Organisches aus einem andern Organischen, ob zwar unter dieser Art Wesen spezifisch von ihm unterschiedenen, erzeugt würde; z.B. wenn gewisse Wassertiere sich nach und nach zu Sumpftieren, und aus diesen, nach einigen Zeugungen, zu Landtieren ausbildeten. A priori, im Urteile der bloßen Vernunft, widerstreitet sich das nicht. Allein die Erfahrung zeigt davon kein Beispiel; nach der vielmehr alle Zeugung, die wir kennen, generatio homonyma ist, nicht bloß univoca, im Gegensatz mit der Zeugung aus unorganisiertem Stoffe, sondern auch ein in der Organisation selbst mit dem Erzeugenden gleichartiges Produkt hervorbringt, und die generatio heteronyma, so weit unsere Erfahrungskenntnis der Natur reicht, nirgend angetroffen wird.

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 10, Frankfurt am Main 1977, S. 372-377.
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