Als Buch bei Amazon

Das Gleichgewicht des Ästhetischen und Ethischen in der Entwickelung der Persönlichkeit

Mein Freund!

Was ich Dir so oft gesagt habe, das sage ich Dir noch einmal oder richtiger, das rufe ich Dir zu: entweder – oder; autaut; denn ein einzelnes aut, das berichtigend hinzutritt, macht die Sache nicht klar, da das, wovon wir hier reden, zu bedeutungsvoll ist, als daß man sich an einem Teil desselben dürste genügen lassen, und zu sehr in sich selber zusammenhängt, als daß man es partiell besitzen könnte. Es gibt Lebensverhältnisse, in denen ein Entweder – Oder anzuwenden lächerlich oder ein Wahnsinn wäre; aber es gibt auch Menschen, deren Seele zu dissolut ist, um zu fassen, was in einem solchen Dilemma liegt, deren Persönlichkeit die Energie fehlt, um mit Pathos; entweder – oder sagen zu können.

Auf mich haben diese Worte immer einen starken Eindruck gemacht, und sie thun es noch immer, insonderheit wenn ich sie so schlicht und einfach nenne, denn darin liegt ja die Möglichkeit, die schrecklichsten Gegensätze in Bewegung zu setzen. Wie eine Beschwörungsformel wirken sie auf mich, und meine Seele wird zu hohem Ernst gestimmt, zuweilen fast erschüttert. Ich denke an eine frühe Jugend zurück, in der ich, ohne recht zu fassen, was es heiße, im Leben eine Wahl zu treffen, mit kindlicher Zuversicht auf die Reden der Erwachsenen hörte, und der Augenblick der Wahl blieb mir feierlich und ehrwürdig, obgleich ich, auch wo ich wählte, mich nur von einem andern leiten ließ. Ich denke da an die Augenblicke eines spätern Lebens, in denen ich eine entscheidende Wahl zu treffen hatte und meine Seele in der Stunde der Entscheidung zum Mannesalter heranreifte. Ich denke an die vielen weniger wichtigen, aber für mich[455] nicht gleichgültigen Ereignisse in meinem Leben, wo ich wählen mußte. Denn gibt es auch nur ein Verhältnis, wo dieses Wort seine absolute Bedeutung hat, so oft sich nämlich auf der einen Seite Wahrheit, Gerechtigkeit und Heiligkeit zeigen, und auf der andern Seite Lüste und Begierde, dunkle Leidenschaften und der Abgrund des Verderbens, so ist's doch auch in Dingen, in denen man bei der Wahl seine Unschuld nicht aufs Spiel setzt, immerhin wichtig, daß man recht wählt, sich selber prüft und nicht mit Schmerzen da wieder anfangen muß, von wo man schon einmal ausgegangen ist, während man Gott noch immer danken kann, daß man sich nicht mehr vorzuwerfen hat, als daß man seine Zeit verloren hatte. In der täglichen Unterhaltung gebrauche ich diese Worte, wie andre sie gebrauchen, es wäre ja auch thörichte Pedanterie, sie ganz verbannen zu wollen; aber doch fällt es mir zuweilen auf die Seele, wenn ich sie von gleichgültigeren Dingen gebraucht habe. Dann ziehen sie ihre täglichen Kleider aus, und treten in ihrer ganzen Würde, in ihrem Ornat, vor das Auge meines Geistes. Und obgleich mein Leben bis zu einem gewissen Grade sein Entweder – Oder hinter sich hat, so weiß ich doch sehr wohl, daß noch manches Ereignis eintreten kann, wo es seine volle Bedeutung haben wird. Indessen hoffe ich, daß diese Worte mich wenigstens würdig gestimmt finden werden, wenn sie mir auf meinem Lebensweg begegnen, und ich hoffe, die rechte Wahl zu treffen, wenn ich wieder wählen muß; jedenfalls aber will ich mich bestreben, es mit ungeheucheltem Ernst zu thun; so werde ich wenigstens am schnellsten von den falschen Wegen auf den rechten zurückkommen.

Und nun Du, mein Freund? Oft genug brauchst Du das Wort, fast täglich kommt es von Deinen Lippen. Aber welche Bedeutung hat es für Dich? Gar keine. Für Dich ist es, um Dich an Deinen eignen Ausdruck zu erinnern, ein coup de mains, ein Abrakadabra. Bei jeder Gelegenheit weißt Du es anzubringen, und es bleibt auch nicht ohne Wirkung: auf Dich wirkt es nämlich wie starker Wein auf nervenschwache Menschen, Du wirst – wie Du es selber nennst – in höherm Wahnsinn ganz berauscht. »Darin liegt alle Lebensweisheit«; aber nie hat ein Mensch dieselbe mit so viel Nachdruck vorgetragen,[456] wie jener große Denker und wahre Lebensphilosoph, der zu einem Manne, der seinen Hut auf die Erde geworfen hatte, sagte: »Nimmst du ihn auf, so gibt's Prügel; läßt du ihn liegen, so gibt's auch Prügel; nun kannst du wählen.« Ja, es hat Dir immer große Freude gemacht, die Menschen, die sich in kritischen Fällen an Dich wandten, »zu trösten«. Du hörst sie an und antwortest: »Ja, ich sehe es ein, zweierlei ist möglich, man kann entweder dieses thun oder jenes; meine aufrichtige Meinung und mein freundschaftlicher Rat ist der: thu es oder thu es nicht, beides wird Dich verdrießen.« Aber wer andrer spottet, der spottet sein selbst, und es ist ein trauriges Zeugnis dafür, wie es in Deiner Seele ansieht, wenn sich Deine ganze Lebensanschauung in jenem einzigen Satz konzentriert: »Ich sage nur entweder – oder.«

Wäre es nun wirklich Dein Ernst, dann wäre nichts mit Dir zu machen, man müßte Dich Deine Wege gehen lassen und Dich beklagen, daß Schwermut oder Leichtsinn Deinen Geist geschwächt. Da man nun aber weiß, daß dem nicht so ist, fühlt man sich versucht, Dir zu wünschen, es möchten die Verhältnisse Deines Lebens ein schärferes Examen mit Dir anfangen, daß ans Licht des Tages komme, was in Dir verborgen ist. Das Leben ist eine Maskerade, sagst Du, und noch ist's niemandem gelungen, in das Geheimnis Deines Wesens einzudringen; denn jede Offenbarung ist immer ein Betrug. Und fürwahr, Du trägst eine geheimnisvolle Maske. Du bist nämlich nichts, bist stets nur im Verhältnis zu andern, und was Du bist, das bist Du durch dieses Verhältnis. Einer zärtlichen Hirtin reichst Du schmachtend Deine Hand, und bist im selben Augenblick in schönster Schäfersentimentalität; einen ehrwürdigen geistlichen Vater betrügst Du mit einem Bruderkuß u.s.w. Du selbst bist nichts, nur eine rätselhafte Sphinx, über deren Stirn geschrieben steht: entweder – oder. »Denn das ist mein Wahlspruch, und diese Worte sind nicht, wie die Grammatiker glauben, disjunktive Konjunktionen, nein, sie gehören unzertrennlich zusammen und müßten daher in einem Worte geschrieben werden, und so eine Interjektion bilden, die ich der Menschheit zurufe, wie man hepphepp! hinter einem Juden ruft.«

Obgleich nun jede solche Äußerung von Dir bei mir ohne Wirkung[457] bleibt, oder höchstens eine gerechte Indignation in mir hervorruft, so will ich Dir doch um Deinetwillen antworten und Dich fragen: Weißt Du es denn nicht, daß eine Mitternachtsstunde kommt, in der jeder sich demaskieren muß? oder glaubst Du, man könne sich einige Minuten vor Mitternacht fortschleichen, um der großen Demaskierung zu entgehen? Wie, mein Freund? wird Dir nicht bange und erschrickst Du nicht bei diesem Gedanken? Ich habe Menschen kennen gelernt, die so lange andre betrogen, daß ihr wahres Wesen sich schließlich nicht mehr offenbaren konnte. Wer sich aber nicht offenbaren kann, der kann auch nicht lieben, und wer nicht lieben kann, der ist der unglücklichste unter allen Menschen. Und Du übst Dich in der Kunst, allen ein Rätsel zu sein! Mein junger Freund! Wie, wenn nun niemand danach fragte, Dein Rätsel zu lösen, was hättest Du davon?

Doch so komme ich mit Dir nicht weiter. Ich will daher von einer andern Seite anfangen. Denke Dir einen jungen Menschen in dem Alter, da das Leben anfängt, rechte Bedeutung für ihn zu haben; er ist gesund, rein, fröhlich, hochbegabt, selbst reich an Hoffnung, und alle, die ihn kennen, hoffen gar viel von ihm; denk Dir, ja, es wird mir schwer, es zu sagen, er irrte sich in Dir, er glaubte, Du wärst ein ernster, erfahrener, bewährter Mensch, der einem sicher helfen würde, des Lebens Rätsel zu lösen; denk Dir, er würde sich mit dem liebenswürdigen Vertrauen, das ein Schmuck der Jugend ist, mit der unabweisbaren Forderung, die das Recht der Jugend ist, an Dich wenden. – was würdest Du ihm antworten? Würdest Du antworten: Ja, ich sage nur entweder – oder? Das würdest Du doch wohl kaum! Oder würdest Du – weil Du nicht mit den Herzensangelegenheiten andrer belästigt werden magst – aus dem Fenster hinaussehen und rufen: Ein Haus weiter? Nein, gewiß nicht. Da steht Dir solch junger, begabter Mensch doch zu hoch. Aber Dein Verhältnis zu ihm war nicht ganz so, wie Du es gewünscht hättest, es war kein zufälliges Begegnen, das Dich mit ihm in Berührung brachte. Obgleich er der jüngere war und Du der ältere, hatte er durch seinen edlen jugendlichen Geist den Augenblick gar ernst gemacht. Nicht wahr, Du möchtest selbst wieder jung werden, Du fühlst es,[458] daß es um die Jugend etwas Schönes ist, aber auch, daß es etwas sehr Ernstes ist, und durchaus nicht gleichgültig, wie man seine Jugend anwendet; ja, Du fühlst es: da steht man vor einer Wahl, da heißt es wirklich: entweder – oder. Und worauf es ankommt, ist nicht so sehr, seinen Geist bilden, sondern seine Persönlichkeit heranreifen lassen. Deine Gutmütigkeit, Deine Sympathie war in Bewegung gesetzt. Du wollest daher seine Seele stärken und ihm die Versicherung geben, es sei in dem Menschen eine Macht, die einer ganzen Welt trotzen könne, Du wollest ihn recht ermahnen, die Zeit auszukaufen. Ja, das alles kannst Du, und wenn Du willst, sehr hübsch. Aber nun merke wohl auf, was ich Dir sagen will, junger Mensch; denn obgleich Du nicht jung bist, muß man Dich doch noch immer so nennen. Was thatest Du denn nun? Du erkanntest an, was Du sonst nicht anerkennen willst, die Bedeutung eines Entweder – Oder. Und warum? Weil Deine Seele von herzlicher Liebe zu dem jungen Menschen erfüllt war. Und doch betrogst Du ihn gewissermaßen; denn vielleicht trifft er zu andern Zeiten mit Dir zusammen, wo Du dies kaum anerkennen würdest. Da siechst Du, wie traurige Früchte es trägt, wenn das Wesen eines Menschen sich nicht harmonisch offenbaren kann. Du glaubtest, das Beste zu thun, und doch hast Du ihm vielleicht geschadet. Denk Dir, Du träfst jenen jungen Menschen nach einigen Jahren wieder; er wäre lebhaft, witzig, geistreich; aber Dein feines Ohr entdeckte den Zweifel in seiner Seele, und Du fragtest Dich: »Wie, ist's auch seines Lebens Weisheit geworden: ich sage nur entweder – oder?« Nicht wahr, das würde Dir leid thun, Du würdest es fühlen: er hat etwas verloren, und zwar etwas sehr Wesentliches. Über Dich selber trauerst Du nicht, Du bist in Deiner Weisheit stolz, ja so stolz, daß Du sie mit keinem andern teilen möchtest. Und doch wird es Dir weh ums Herz, wenn Du es siehst, daß jener junge Mensch so weise geworden ist wie Du es bist! Welch ungeheurer Widerspruch! Dein ganzes Wesen widerspricht Dir selber. Aber aus diesem Widerspruch kannst Du nur durch ein Entweder – Oder herauskommen; und ich, der ich Dich aufrichtiger liebe als Du jenen jungen Menschen liebtest, ich, der ich es in meinem Leben schon selber erfahren habe, was wählen bedeutet, ich wünsche Dir Glück,[459] daß Du noch jung genug bist, um Dich selber gewinnen, Dich selber erwerben zu können; denn das ist doch die Hauptsache im Leben.

Die Wahl selber ist für den Inhalt der Persönlichkeit entscheidend; durch die Wahl sinkt sie in das Gewählte hinab, und wenn sie nicht wählt, stirbt sie an Auszehrung. Einen Augenblick ist's so, einen Augenblick kann es scheinen, als läge das, was uns eine Wahl schwer macht, außerhalb des Wählenden; er steht zu derselben in keinem Verhältnis, kann ihr gegenüber in Indifferenz bleiben. Das ist der Augenblick der Überlegung. Aber so scheint es eben nur zu sein; in Wahrheit steht das, was gewählt werden soll, in dem tiefsten Verhältnis zu dem Wählenden, und wenn von einer Wahl die Rede ist, die eine Lebensfrage betrifft, so soll das Individuum doch zur selben Zeit leben, und je länger es die Wahl hinausschiebt, um so leichter wird das, was gewählt werden soll, alteriert, obgleich jener Mensch beständig überlegt und überlegt und dadurch die Gegensätze der Wahl recht auseinanderzuhalten glaubt. Betrachtet man aber das Entweder – Oder des Lebens also, dann scherzt man mit demselben nicht mehr. Man sieht dann, daß die Persönlichkeit keine Zeit zu Experimenten hat, daß sie beständig vorwärts eilt und bald so bald so entweder das eine oder das andre poniert, wodurch die Wahl im nächsten Augenblick schwieriger wird; denn dasjenige, was poniert ist, soll zurückgenommen werden. Und schließlich kommt ja auch der Augenblick, wo ein Entweder – Oder ganz ausgeschlossen ist, nicht weil ein Mensch gewählt hat, sondern weil er es hat sein lassen, was auch so ausgedrückt werden kann, weil andre für ihn gewählt haben, weil er sich selber verloren hat.

Aus dem Entwickelten wirst Du auch ersehen, daß meine Betrachtung von einer Wahl wesentlich verschieden von der Deinigen ist, wenn ich bei Dir überhaupt von einer solchen reden kann; denn Du möchtest eben mit einer Wahl verschont bleiben. Der Augenblick der Wahl ist für mich ein sehr ernster, und zwar vor allem deshalb, weil eine Gefahr im Verzuge ist; denn vielleicht könnte ich im nächsten Augenblick nicht mehr wählen. Schon ehe man wählt, ist die Persönlichkeit bei der Wahl interessiert, und schiebt man die Wahl auf, so wählt die Persönlichkeit unbewußt, oder es wählen die in ihr verborgenen[460] dunkeln Mächte. Und wählt man dann erst, so merkt mau bald, daß man etwas anders machen, etwas zurücknehmen muß, und das ist oft sehr schwierig. Die Märchen erzählen von Menschen, die durch die dämonische Musik der Meerfrauen in deren Gewalt kamen. Um den Zauber zu lösen – so lehrt das Märchen – mußte her Verzauberte dasselbe Lied rückwärts singen, ohne auch nur einen einzigen Fehler zu machen. Das ist ein sehr tiefsinniger Gedanke, der aber sehr schwer durchzuführen ist, und doch ist's so. So oft man einen Fehler gemacht hat, muß man von vorn wieder anfangen. Sieh, darum ist's so wichtig, daß man wählt und zur rechten Zeit wählt. Du aber hast eine andre Methode; denn wohl weiß ich es, daß die polemische Seite, die Du der Welt zukehrst, nicht Dein wahres Wesen ist. Ja, wär's die Aufgabe des menschlichen Lebens, überlegen und wieder überlegen, dann wärst Du die Vollkommenheit selber. Ich nehme ein Exempel. Es müssen natürlich kühne Gegensätze sein, damit sie auf Dich passen. Also: entweder Pastor – oder Schauspieler. Hier ist das Dilemma. Nun erwacht Deine ganze leidenschaftliche Energie. Mit hundert Armen ergreift die Reflexion den Gedanken, Pastor zu werden. Du findest keine Ruhe, Tag und Nacht verfolgt Dich der Gedanke. Du liest alle möglichen Erbauungsschriften, gehst jeden Sonntag dreimal in die Kirche, machst Dich mit Geistlichen bekannt, schreibst selber Predigten, hältst sie vor Dir selber – ein halbes Jahr bist Du für die ganze Welt wie tot. Nun bist Du fertig und kannst einsichtsvoller und scheinbar mit viel mehr Erfahrungen vom geistlichen Amte sprechen als mancher, der seine zwanzig Jahre Pastor gewesen ist. Es erbittert Dich, wenn Du mit solchen zusammentriffst, daß sie sich nicht mit viel größerer Beredsamkeit expektorieren können; ich – so sagst Du - , der ich nicht Pastor bin und mich dem heiligen Amte nicht geweiht habe, ich rede, wenn ich mich mit ihnen vergleiche, wie mit Menschen- und mit Engelzungen! Das mag nun vielleicht wahr sein, indessen bist Du doch nicht Pastor geworden. Aber jetzt ist's ein andres Problem, das Dich interessiert, und Deine Begeisterung für die Kunst übertrifft fast noch Deine geistliche Beredsamkeit, und die Wahl eines Berufes kann nicht mehr zweifelhaft sein. Indessen hast Du noch mancherlei[461] kleine Bemerkungen und Beobachtungen zu machen, und in dem Augenblick, da Du entscheiden willst, steht wieder ein neues Entweder – Oder vor Deiner Seele: Jurist; Rechtsanwalt vielleicht, das hat etwas Gemeinsames mit dem Pastor sowie auch mit dem Schauspieler. Nun bist Du verloren. Im selben Augenblick bist Du nämlich gleich so sehr Advokat, daß Du es beweisen kannst, jenes Dritte gehöre notwendig zu Deinem Dilemma. So geht Dein Leben hin. Nachdem Du anderthalb Jahre mit diesen Erwägungen verloren und die Kraft Deiner Seele mit einer bewundernswerten Energie angestrengt hast, bist Du keinen Schritt weitergekommen. Da wirst Du ungeduldig, leidenschaftlich, sengst und brennst in Gedanken und – fährst fort: oder Haarschneider – oder Kontorist bei der Bank, ich sage nur: entweder – oder. Was Wunder, daß Dir das Wort ein Ärgernis und eine Thorheit geworden ist! Du übersiehst die Menschen; Du treibst Deinen Spott mit ihnen, und Du bist das geworden, was Du selber nicht genug verabscheuen kannst: ein Kritiker, ein Universalkritiker an allen Fakultäten. Zuweilen muß ich über Dich lächeln, und doch, wie traurig, daß sich Deine in Wahrheit ausgezeichneten Geistesgaben so zersplittern. Aber hier ist wieder derselbe Widerspruch Deines Wesens, denn Du siehst an andern sehr rasch das Lächerliche, und Gott sei dem gnädig, der in Deine Hände fällt, wenn es so mit ihm steht; und doch ist der ganze Unterschied der: er wird vielleicht niedergeschlagen und gedemütigt, Du dagegen trägst Deinen Kopf nur um so stolzer und beglückwünschst Dich selber und andre mit dem Evangelium: Vanitas, vanitatum vanitas, juchhe! Aber das ist keine Wahl, es ist eine Mediation wie die, fünf gerade sein lassen. Nun fühlst Du Dich frei und sagst der Welt Valet.


So zieh' ich in alle Ferne,

Über meiner Mütze nur die Sterne.


Sieh, damit hast Du nun gewählt, freilich nicht, wie Du selber gestehen wirst, das bessere Teil; und im Grunde hast Du eigentlich gar nicht gewählt, oder in uneigentlichem Sinn gewählt. Deine Wahl ist eine ästhetische Wahl; aber eine ästhetische Wahl ist keine Wahl. Überhaupt ist »wählen« ein eigentlicher und stringenter Ausdruck für das Ethische. Überall, wo in strengerm Sinn von einem[462] Entweder – Oder die Rede ist, kann man immer sicher sein, daß das Ethische dabei im Spiel ist. Das einzige absolute Entweder – Oder, das es gibt, ist die Wahl zwischen gut und böse, aber diese ist auch absolut ethisch. Die ethische Wahl ist entweder ganz unmittelbar und insofern keine Wahl, oder sie verliert sich in einer Mannigfaltigkeit. Wenn ein junges Mädchen der Wahl ihres Herzens folgt, so ist diese Wahl, wie schön sie auch übrigens sein mag, doch im Grunde keine Wahl, da sie ganz unmittelbar wählt. Wenn ein Mensch, wie ich es z.B. bei Dir nachgewiesen habe, über die verschiedensten Lebensaufgaben ästhetisch nachdenkt, so kommt er nicht leicht zu einem Entweder – Oder, sondern zu einer ganzen Mannigfaltigkeit, weil das Selbstbestimmende in der Wahl hier nicht ethisch accentuiert wird, und weil man, wenn man nicht absolut wählt, nur für den Moment wählt, und folglich im nächsten Augenblick etwas andres wählen kann.

Die ethische Wahl ist daher in gewissem Sinn viel leichter, viel einfacher, aber in einem andern Sinn unendlich viel schwerer. Wer sich seine Lebensaufgabe ethisch bestimmen will, hat im allgemeinen keine so bedeutende Auswahl; dagegen hat der Akt der Wahl viel mehr für ihn zu bedeuten. Willst Du mich recht verstehen, so sage ich es gerade heraus: Bei einer Wahl kommt es nicht so sehr darauf an, daß man das Rechte wählt, sondern auf die Energie, auf den Ernst, auf das Pathos, mit welchem man wählt. Denn da verkündigt die Persönlichkeit sich in ihrer innern Unendlichkeit, und dadurch wird die Persönlichkeit wieder konsolidiert. Selbst wenn ein Mensch eine falsche Wahl getroffen hätte er würde doch bald, gerade um der Energie willen, mit welcher er gewählt hätte, die Entdeckung machen, daß er nicht recht gewählt. Wird die Wahl nämlich mit der innersten Energie der ganzen Persönlichkeit vorgenommen, so wird schön dadurch das Wesen desselben Menschen geläutert, und er selber in ein unmittelbares Verhältnis zu der ewigen Macht gebracht, die allüberall die ganze Welt durchdringt. Diese Verklärung, diese höhere Weihe erreicht aber niemals der Mensch, der nur ästhetisch wählt. Der Rhythmus in seiner Seele ist trotz all ihrer Leidenschaft doch nur ein spiritus lenis.[463]

Wie ein Kato rufe ich Dir daher mein Entweder – Oder zu, und doch auch wieder nicht wie ein Kato; denn meine Seele ist noch nicht zu der kalten Resignation hindurchgedrungen, die ihn auszeichneten. Aber ich weiß es, nur diese Beschwörung kann, wenn anders ich die rechte Kraft besitze, Dich – nicht zur Thätigkeit des Gedankens wecken, denn die fehlt Dir nicht, sondern zum Ernst des Geistes. Vielleicht wird es Dir auch ohne diesen gelingen, vieles auszuführen und die Welt in Erstaunen zu setzen, und doch wird Dir das Höchste, das Einzige, was dem Leben in Wahrheit seine Bedeutung gibt, entgehen, vielleicht wirst Du die ganze Welt gewinnen, aber Dich selber verlieren! Was unterscheide ich denn nun in meinem Entweder – Oder? Gutes und Böses? Nein, ich will Dich nur so weit bringen, daß diese Wahl in Wahrheit für Dich Bedeutung erlangt. Darum dreht sich alles. Und fühlst Du, ehe Du diese etwas ausführlichere Untersuchung, die ich Dir wieder in Form eines Briefes sende, ganz gelesen hast, fühlst Du, daß der Augenblick der Wahl da ist, so wirf das übrige nur weg und lies es nicht weiter, Du hättest nichts verloren; aber wähle, und Du wirst es erkennen, was das bedeutet; Du wirst es empfinden, daß kein Mädchen bei der Wahl ihres Herzens so glücklich sein kann, wie ein Mann, der zu wählen wußte. Entweder soll man also ästhetisch oder ethisch leben. Hier ist, wie gesagt, im strengern Sinn des Wortes von einer Wahl noch nicht die Rede; denn wer ästhetisch lebt, wählt nicht, und wer das Ästhetische wählt, nachdem sich ihm das Ethische gezeigt hat, der lebt nicht ästhetisch, denn er sündigt und unterliegt ethischen Bestimmungen, selbst wenn sein Leben als ein unethisches bezeichnet werden muß. Es ist gewissermaßen der character indelebilis des Ethischen, daß es, obgleich es sich bescheiden nicht höher achtet als das ästhetische, doch eigentlich der Faktor ist, der die Wahl zu einer Wahl macht. Und traurig ist's, wenn man das Leben der Menschen betrachtet, daß so viele unbemerkt den Weg des Verderbens gehen; sie leben sich aus, nicht in der Bedeutung, daß des Lebens Inhalt sich successiv entfaltet, und nun in dieser Entfaltung in Besitz genommen wird, sondern sie verschwinden wie Schatten, ihre unsterbliche Seele siecht hin, und ihnen wird vor der Frage nach der Unsterblichkeit derselben nicht bange; denn sie[464] sind ja bereits aufgelöst ehe sie sterben. Sie leben nicht ästhetisch, aber noch viel weniger hat sich ihnen das Ethische in seiner Totalität gezeigt; sie haben es zwar nicht eigentlich verworfen, ihre Sünde ist nur die, daß sie weder das eine noch das andre sind; sie zweifeln auch nicht an ihrer Unsterblichkeit; denn wer ernst und von ganzem Herzen und im Gedanken an sich selber daran zweifelt, der wird schon zum Ziele kommen. Im Gedanken an sich selber, sage ich, denn es ist hohe Zeit, daß man vor der hochherzigen, heldenmütigen Objektivität warnt, in welcher viele Denker an alle andre, nur nicht an sich selber denken. Will man das, was ich hier fordere, Selbstliebe nennen, so antworte ich: das kommt daher, weil man keine Ahnung von dem hat, was dieses »Selbst« bedeutet, und daß es dem Menschen wenig hülfe, wenn er die ganze Welt gewönne, aber verlöre sich selber.

Mein Entweder – Oder bezeichnet nicht zunächst die Wahl zwischen Gutem und Bösem; es bezeichnet die Wahl, in der man das Gute und das Böse wählt, oder das eine und das andre abweist. Daß der, der Gutes und Böses wählt, das Gute wählt, ist wohl wahr, aber das zeigt sich erst hinterher; denn das Ästhetische ist nicht das Böse, sondern die Indifferenz, und deshalb sagte ich, daß das Ethische die Wahl konstituiere. Wer das Ethische wählt, wählt das Gute, aber das Gute ist hier ganz abstrakt, und es folgt daraus noch durchaus nicht, daß der Wählende, weil er einmal das Gute wählte, nicht ein andermal das Böse wählen kann. Wieder siehst Du, wie wichtig es ist, daß gewählt wirb, und daß das, worauf es ankommt, nicht so sehr ein Überlegen ist als die Taufe des Willens, da dieser jenes in das Ethische aufnimmt. Je längere Zeit vergeht, um so schwerer wird die Wahl, denn die Seele ist beständig in dem einen Teil des Dilemmas, und es wird ihr daher immer schwerer und schwerer, sich loszureißen. Und doch ist's notwendig, wenn gewählt werden soll, und also äußerst wichtig, wenn eine Wahl etwas zu bedeuten hat; daß dieses aber der Fall ist, werde ich später nachweisen.

Du weißt es, daß ich mich niemals für einen Philosophen ausgegeben habe, am allerwenigsten, wenn ich mich mit Dir unterhalte. Mein liebster und teuerster, ja in gewissem Sinn bedeutungsvollster Lebensberuf ist der, daß ich als Ehemann auftrete. Ich habe mein[465] Leben nicht der Kunst und den Wissenschaften geopfert, ich opfre mich meinem Beruf, meinem Weib und meinen Kindern, oder richtiger gesagt: ich finde darin meine tiefste Befriedigung und meine höchste Freude. Obgleich ich nun aber kein Philosoph bin, so bin ich doch zu einer kleinen philosophischen Untersuchung gezwungen, und ich bitte Dich herzlich, dieselbe nicht so sehr zu kritisieren, als sie Dir at notam zu nehmen. Das polemische Resultat, wovon alle Deine Siegeshymnen über das Leben widerhallen, hat nämlich eine wunderliche Ähnlichkeit mit der Lieblingstheorie der neuern Philosophie, noch welcher der Grundsatz des Widerspruchs aufgehoben ist. Wohl weiß ich es, daß der Standpunkt, den Du einnimmst, der Philosophie ein Greuel ist, und doch kommt es mir vor, als ob auch sie sich desselben Fehlers schuldig mache, ja daß der Grund, weshalb man das nicht gleich merkt, der ist, daß sie nicht einmal so richtig steht wie Du. Du stehst auf dem Gebiet der That, sie auf dem der Kontemplation. Sobald man sie daher auf das Praktische hinüberleiten will, muß sie zu demselben Resultat wie Du kommen, wenn sie sich auch anders ausdrückt. Du mediierst die Gegensätze in einem höhern Wahnsinn, die Philosophie in einer höhern Einheit. Du wendest Dich an die zukünftige Zeit, denn die Handlung ist wesentlich futurisch; Du sagst: Entweder kann ich das oder das thun; aber was ich auch thue, es ist beides gleich verrückt, ergo thue ich nichts; die Philosophie wendet sich an die vergangene Zeit, blickt auf die ganze Weltgeschichte mit allen ihren Erfahrungen zurück, sie weist nach, wie die diskursiven Momente in einer höhern Einheit zusammengehen, sie mediiert und mediiert. Dagegen scheint sie mir durchaus nicht auf das zu antworten, wonach ich frage; denn ich frage nach der zukünftigen Zeit. Du antwortest doch noch, wenn Deine Antworten auch Unsinn sind. Ich nehme nun an, daß die Philosophie recht hat, daß der Grundsatz des Widerspruchs wirklich aufgehoben ist, oder daß die Philosophen ihn jeden Augenblick in der höhern Einheit des Gedankens aufheben. Das kann ja aber nicht von der zukünftigen Zeit gelten; denn die Gegensätze müssen doch erst dagewesen sein, ehe ich sie mediieren kann. Ist aber der Gegensatz da, dann auch ein Entweder – Oder. Die Philosophie sagt: So ist es bisher gewesen;[466] ich frage: Was habe ich zu thun, wenn ich kein Philosoph sein will? Wäre ich ein Philosoph, ja, dann würde ich die vergangene Zeit mediieren. Aber teils ist das keine Antwort auf meine Frage, was ich zu thun habe; denn wäre ich auch der größte Philosoph, der je gelebt hätte, ich müßte doch mehr thun, als immer nur das Vergangene betrachten; teils bin ich ein Ehemann und durchaus kein großer Philosoph, aber ich wende mich in aller Ehrfurcht an die Männer dieser Wissenschaft, um zu erfahren, was ich zu thun habe. Ich erhalte jedoch keine Antwort; denn die Philosophie mediiert das Vergangene und lebt in demselben. Für die Philosophie ist die Weltgeschichte abgeschlossen. Daher sieht man in unsrer Zeit auch so viele junge Menschen, die Christentum und Heidentum mediieren und mit den titanischen Kräften der Geschichte spielen, aber einem einfältigen Menschen nicht sagen können, was er hier im Leben zu thun hat, und die ebensowenig wissen, was sie selber zu thun haben. Der Philosoph hört auf die Lieder der alten Skalden, er lauscht den Harmonien der Mediation. Ich ehre die Wissenschaft, aber das Leben erhebt auch seine Forderungen. Ich bin ein Ehemann, ich habe Kinder. Wie, wenn ich nun in ihrem Namen die Philosophie fragte, was ein Mensch im Leben zu thun habe? Du lächelst, und doch meine ich, es ist in Wahrheit eine furchtbare Anklage wider sie, wenn sie darauf nicht antworten kann.

Doch, ich bin vielleicht schon zu weit gegangen, habe mich auf Untersuchungen eingelassen, die ich hätte unberührt lassen müssen, teils weil ich kein Philosoph bin, teils weil es keineswegs meine Absicht ist, mich mit Dir über dieses oder jenes Phänomen der Zeit zu unterhalten; aber da ich nun einmal so weit gekommen bin, will ich doch noch etwas genauer untersuchen, was es mit der philosophischen Mediation der Gegensätze eigentlich auf sich hat.

So wahr es also eine zukünftige Zeit gibt, so wahr gibt es ein Entweder – Oder. Die Zeit, in welcher der Philosoph lebt, ist nicht die absolute Zeit, sie ist selbst nur ein Moment, und es ist immerhin bedenklich, wenn eine Philosophie unfruchtbar ist, ja sie muß es als eine Schmach ansehen, geradeso wie im Orient die Unfruchtbarkeit als eine Schande betrachtet wird. Unsre Zeit wird[467] wieder für eine spätere Zeit ein diskursiver Moment sein, und der Philosoph einer spätern Zeit wird wieder unsre Zeit mediieren, und so weiter. So weit ist die Philosophie in ihrem Recht, und wir werden es als einen zufälligen Fehler der Philosophie unsrer Zeit betrachten, das sie unsre Zeit mit der absoluten Zeit verwechselte. Indessen ist es doch leicht einzusehen, daß die Kategorie der Mediation dadurch einen nicht unbedeutenden Stoß erlitten hat, und daß die absolute Mediation erst möglich wird, wenn die Geschichte ihr Ende erreicht hat. Was die Philosophie dagegen behalten hat, ist dieses: sie hat es anerkannt, daß es eine absolute Mediation gibt. Das ist ihr natürlich äußerst wichtig; denn gibt man die Mediation auf, so gibt man die Spekulation auf. Anderseits aber ist's auch nicht so unbedenklich, wenn sie das einräumt; denn räumt man die Mediation ein, so gibt es keine absolute Wahl und daher auch kein absolutes Entweder – Oder. Das ist die Schwierigkeit; doch glaube ich, dieselbe liegt zum Teil darin, daß man zwei Sphären miteinander verwechselt, die Sphäre des Denkens und die der Freiheit. Für den Gedanken besteht der Gegensatz nicht, er geht in ein andres über und darauf zusammen in eine höhere Einheit. Für die Freiheit aber besteht der Gegensatz; denn sie schließt ihn aus. Ich verwechsele keineswegs das liberum arbitrium mit der wahren positiven Freiheit; denn selbst diese hat für alle Ewigkeit das Böse außerhalb ihrer selbst, wenn auch als eine ohnmächtige Möglichkeit, und sie wird dadurch nicht vollkommen, daß sie das Böse je mehr und mehr von sich ausschließt; aber dieses Ausschließen ist gerade der Gegensatz zur Mediation. Daß ich hiermit nicht genötigt bin, ein radikales Böse anzunehmen, werde ich später nachweisen.

Die Sphären, mit denen die Philosophie es eigentlich zu thun hat, sind das Logische, die Natur, die Geschichte. Hier herrscht die Notwendigkeit, und daher hat die Mediation ihr Recht. Daß sich dieses bei dem Logischen und bei der Natur so verhält, wird niemand leugnen; mit der Geschichte aber hat es seine Schwierigkeit, denn – so sagt man – hier herrscht die Freiheit. Ich glaube jedoch, daß man die Geschichte falsch beurteilt, und daß daher auch jene Schwierigkeit kommt. Die Geschichte ist nämlich mehr als ein Produkt von[468] freien Handlungen freier Individuen. Das Individuum handelt, aber dieses Handeln geht in die Ordnung der Dinge ein, welche das ganze Universum trägt. Was daraus folgt, weiß der Handelnde eigentlich nicht. Aber diese höhere Ordnung der Dinge, welche die freien Handlungen sozusagen verdaut, und sie in ihren ewigen Gesetzen verarbeitet, ist die Notwendigkeit, und diese Notwendigkeit ist die Bewegung in der Weltgeschichte, weshalb es auch ganz richtig ist, daß die Philosophie die Mediation anwendet, will sagen die relative Mediation. Betrachte ich eine weltgeschichtliche Individualität, so kann ich zwischen den Werken unterscheiden, von welchen die Schrift sagt, daß sie dem Menschen nachfolgen, und denen, durch welche er der Geschichte angehört. Mit dem, was man die innere That nennen könnte, hat die Philosophie gar nichts zu thun; aber die innere That ist das wahre Leben der Freiheit. Die Philosophie betrachtet die äußere That, aber diese sieht sie nicht isoliert, sondern wie Sie in den weltgeschichtlichen Prozeß aufgenommen und in denselben verwandelt wird. Dieser Prozeß ist der eigentliche Inhalt aller Philosophie, und sie betrachtet ihn unter der Bestimmung der Notwendigkeit. Sie weist daher jede Reflexion ab, und will nicht daran erinnert werden, daß alles verändert werden könnte; sie sieht die Weltgeschichte in einem Lichte an, das alle Fragen nach einem Entweder – Oder ausschließt.

Selbst der einfachste und gewöhnlichste Mensch hat also eine Doppelexistenz. Auch er hat eine Geschichte, und diese ist nicht nur ein Produkt seiner eignen freien Handlungen. Die innere That dagegen gehört ihm selber und wird ihm für alle Ewigkeit gehören; die kann die Geschichte ihm nicht nehmen, sie folgt ihm nach, sei es zur Freude, sei es zum Schmerz. In dieser Welt herrscht ein absolutes Entweder – Oder; aber mit ihr hat die Philosophie nichts zu thun.

Ich kämpfe für die Freiheit – teils hier in diesem Brief, teils und vor allem in mir selber - , für eine zukünftige Zeit, für ein Entweder – Oder. Das ist der Schatz, welchen ich denen hinterlassen will, die ich hier auf Erdenliebe. Ja, wäre mein Sohn jetzt in dem Alter, daß er mich recht verstehen könnte, und es wäre meine[469] letzte Stunde gekommen, so würde ich ihm sagen: Ich hinterlasse dir kein Vermögen, keinen Titel und keine hohe Würden; aber ich weiß, wo ein Schatz begraben liegt, der dich reicher machen kann als die ganze Welt, und dieser Schatz gehört dir; er liegt in deinem eignen Innern; es ist ein Entweder – Oder, das einen Menschen hoch über die Engel erhebt.

Hier will ich diese Betrachtung abbrechen. Vielleicht befriedigt sie Dich nicht, aber, mein Freund, das liegt nicht an mir, sondern an Dir.

Was bei meinem Entweder – Oder so wichtig ist, ist das Ethische. Es ist hier also noch nicht davon die Rede, daß etwas gewählt wird, auch nicht davon, ob das Gewählte Realität hat, sondern von der Realität des Wählens. Das ist aber auch das Entscheidende. Und dahin kann ein Mensch den andern führen. Ich habe in einem frühem Briefe die Bemerkung gemacht, geliebt zu werden gäbe dem menschlichen Wesen eine Harmonie, die nie ganz verloren gehen könne; nun sage ich: Wenn ein Mensch eine Wahl getroffen hat, so gibt das demselben einen unverlierbaren Wert. Es gibt viele Menschen, die außerordentlich viel darauf geben, daß sie diesen oder jenen bedeutenden Mann von Angesicht zu Angesicht gesehen haben. Diesen Eindruck vergessen sie niemals, und doch – wie bedeutungsvoll ein solcher Augenblick auch sein mag, er ist nichts gegen den Augenblick der Wohl. Wenn um einen her alles stille geworden ist, feierlich wie eine sternenhelle Nacht, wenn die Seele sich allein fühlt in der ganzen Welt, dann zeigt sich ihr nicht ein ausgezeichneter Mann, sondern die ewige, himmlische Macht, und das Ich wählt sich selber, oder richtiger, es empfängt sich selber. Dann hat die Seele das Höchste gesehen, was kein sterbliches Auge sehen kann, und was nie wieder vergessen werden kann, da empfängt die Persönlichkeit ihren Ritterschlag, der sie für eine Ewigkeit adelt. Dadurch wird der Mensch kein andrer, als er vorher war, sondern er wird nur der, der er schon zuvor war.

Durch die absolute Wahl ist das Ethische, wie wir gesehen haben, das Gesetz des Lebens geworden, aber daraus folgt keineswegs, daß das Ästhetische ausgeschlossen ist. Im Ethischen ist die Persönlichkeit in sich selber zentralisiert, absolut ist das Ästhetische also ausgeschlossen,[470] oder es ist als das Absolute ausgeschlossen, aber relativ bleibt es beständig zurück. Indem die Persönlichkeit sich selber wählt, wählt sie sich selber ethisch und schließt das ästhetische absolut aus; aber da ein Mensch sich dann doch selber wählt und, indem er wählt, nicht ein andres Wesen wird, so kehrt das Ästhetische in seiner Relativität zurück.

Das Entweder – Oder, das ich will, ist also in einem gewissen Sinn absolut, da die Wahl, die es voraussetzt, eine absolute ist; in einem andern Sinn aber tritt das absolute Entweder – Oder erst durch die Wahl ein; denn nun heißt's, zwischen Gutem und Bösem wählen. Aber das soll mich hier nicht beschäftigen; Du sollst nur die Notwendigkeit einer Wahl anerkennen und das Leben in ethischem Lichte betrachten. Wahrhaftig, ich bin kein ethischer Rigorist, der sich für formelle, abstrakte Freiheit begeistert hat. Ist nur erst die Wahl selber das Gesetz des Lebens geworden, dann kehrt alles Ästhetische zurück, und dann – o, Du wirst es selber erkennen – dann erst wird das Leben schön, und erst dann kann ein Mensch seine Seele retten und die ganze Welt gewinnen, die Welt gebrauchen, ohne sie zu mißbrauchen.

Aber was heißt es: ästhetisch, und was: ethisch leben? Was ist das Ästhetische in einem Menschen, und was das Ethische? Hierauf möchte ich antworten: Das Ästhetische in einem Menschen ist das, wodurch er unmittelbar das ist, was er ist; das Ethische das, wodurch er das wird, was er wird.

Von dem Ästhetischen will ich nun nicht weiter reden, das möchte – Dir gegenüber überflüssig sein. Trotzdem aber möchte ich einige Stadien desselben skizzieren, damit wir uns bis zu dem Punkt durcharbeiten, wo sich Dein Leben im Grunde abspielt; und das ist mir sehr wichtig, damit Du mir nicht durch einen Deiner sehr beliebten Seitensprünge entwischst. Außerdem glaube ich doch auch, daß Du noch manches von mir lernen kannst, um recht zu erkennen, was es heißt: ästhetisch leben.

Jeder Mensch, und wäre er in den Augen der Welt noch so gering, hat das Bedürfnis, sich eine Lebensanschauung zu bilden, d.h. zu erfahren, was der Wert und das Ziel des Lebens ist. Auch wer[471] ästhetisch lebt, thut das, und der allgemeine Ausdruck, den man zu allen Zeiten und auf den verschiedenen Stadien hören kann, ist der: man muß das Leben genießen. Das variiert natürlich sehr, je nachdem die Auffassung vom Genuß des Lebens eine verschiedene ist; aber in diesem einen Ausdruck, daß man das Leben genießen müsse, sind doch alle einig. Wer aber sagt, daß er das Leben genießen wolle, der setzt immer eine Bedingung, die entweder außerhalb des Individuums liegt, oder dem Individuum zwar eigen ist, aber doch nicht in diesem ihren Ursprung hat. Ich bitte Dich, Dir die Ausdrücke zu merken, da sie mit Fleiß gewählt sind.

Du bist vielleicht schon etwas ärgerlich, weil ich den ganz allgemeinen Ausdruck: ästhetisch leben gebraucht habe, und doch wirst Du kaum leugnen können, daß er richtig ist. Du verspottest oft andre, weil sie das Leben nicht zu genießen verstehen, während Du selber glaubst, jene Kunst aus dem Grunde studiert zu haben. Wohl möglich, daß sie es nicht verstehen, aber sie gebrauchen doch ganz denselben Ausdruck wie Du. Du meinst nun vielleicht, ich müßte so galant sein, Dich als Künstler zu behandeln und schweigend an den Pfuschern vorüberzugehen, mit denen Du nichts gemein hättest. Ich kann Dir jedoch nicht helfen, denn Du hast etwas mit ihnen gemein, und zwar etwas sehr Wesentliches – die Lebensanschauung nämlich. Worin Du im übrigen von ihnen abweichst, das ist in meinen Augen höchst unwesentlich. Ich kann's nicht lassen, ich muß wirklich über Dich lachen. Siehst Du, mein junger Freund, das ist ein Fluch, der Dir folgt: die vielen Kunstbrüder, die Du findest, und deren Du Dich doch schämst. Du bist ein so vornehmer junger Herr, und es thut mir leid, wirklich leid, daß ich Dich in der Gesellschaft sehe. In der That, es muß höchst unangenehm sein, wenn man dieselbe Lebensanschauung hat wie jeder Trinkbruder oder Jagdliebhaber. Ganz ist das nun wohl auch nicht der Fall; denn gewissermaßen liegst Du außerhalb des ästhetischen Gebietes, wie ich später nachweisen werde.

Wie groß nun aber auch die Differenzen innerhalb des Ästhetischen sein mögen, alle Stadien sind doch darin wesentlich gleich, daß der Geist nicht als Geist, sondern unmittelbar bestimmt ist. Die[472] Differenzen können außerordentlich groß sein, von der vollkommenen Geistlosigkeit bis zum höchsten Grad von geistreichen Wesen; aber selbst auf dem letzten Stadium ist der Geist doch nicht als Geist, sondern als Gabe bestimmt.

Nur ganz kurz will ich jedes einzelne Stadium hervorheben und nur bei dem verweilen, was etwa auf Dich passen könnte, oder wovon ich wünsche, daß Du es auf Dich selber anwenden möchtest.

Die Persönlichkeit ist unmittelbar bestimmt, nicht geistig, sondern physisch. Hier haben wir eine Lebensanschauung, die uns lehrt, daß die Gesundheit das höchste Gut sei. Einen etwas poetischem Ausdruck erhält dieselbe Lebensanschauung, wenn es heißt: Die Schönheit ist das Höchste. Schönheit ist nun ein sehr vergängliches Gut, und deshalb sieht man diese Lebensanschauung auch nur selten durchgeführt. Man sieht zwar oft genug ein junges Mädchen oder einen jungen Mann, die wohl eine Weile auf ihre Schönheit trotzen, aber – ach, wie bald sind sie betrogen. Doch habe ich dieselbe einmal selten glücklich durchgeführt gesehen.

In meiner Studentenzeit kam ich während der Ferien zuweilen in ein gräfliches Haus. Der Graf hatte in frühem Tagen eine diplomatische Charge bekleidet, war nun älter geworden und lebte auf seinem Gut in ländlicher Ruhe. Die Gräfin war als junges Mädchen außerordentlich schön gewesen; noch in ihrem Alter war sie die schönste Dame, die ich gesehen habe. Der Graf hatte in seiner Jugend durch seine männliche Schönheit bei dem schönen Geschlecht viel Glück gemacht; am Hof erinnert man sich noch des schönen Kammerjunkers. Das Alter hatte ihn nicht gebeugt, und eine edle, echt vornehme Würde machte ihn noch schöner. Die das Paar in frühem Zeiten gekannt hatten, versicherten, sie hätten nie ein schöneres gesehen; und ich, der ich so glücklich war, sie in ihren alten Tagen kennen zu lernen, fand das ganz in der Ordnung; in der That, sie waren noch immer das schönste paar, das man suchen konnte. Sowohl der Graf wie die Gräfin waren hochgebildet, und doch konzentrierte sich die Lebensanschauung der Gräfin in dem Gedanken, daß sie das schönste paar des ganzen Landes seien. Ich erinnere mich noch sehr lebhaft einer Begebenheit, die das bezeugte. Es war am Sonntagvormittag;[473] die Gräfin fühlte sich nicht recht wohl und wagte daher nicht, an einer kleinen Feier in der unmittelbar am Schloß liegenden Kirche teilzunehmen; der Graf aber begab sich am Morgen dahin, er war in höchster Gala, hatte seine Kammerherrnuniform angezogen und sich mit seinen Orden geschmückt. Die Fenster im großen Saal gingen nach der Allee hin, die zur Kirche hinaufführte. Die Gräfin stand an einem derselben; sie sah in ihrer geschmackvollen Morgentoilette wirklich reizend aus. Ich hatte mich nach ihrem Befinden erkundigt, und wir unterhielten uns gerade über eine Segelpartie, die am folgenden Tage vorgenommen werden sollte, als sich der Graf weit unten in der Allee zeigte. Sie schwieg und ward schöner, als ich sie je zuvor gesehen hatte, ihre Miene wurde fast etwas wehmütig, der Graf war so nahe gekommen, daß er sie im Fenster sehen konnte, sie warf ihm mit vieler Grazie ein Kußhändchen zu, wandte sich dann nach mir um und sagte: »Nicht wahr, kleiner Wilhelm, mein Detlef ist doch der schönste Mann des ganzen Königreiches? Ja, ich sehe wohl, er bricht an der einen Seite ein ganz klein wenig zusammen, aber das kann niemand merken, wenn ich neben ihm gehe, und wenn wir zusammengehen, sind wir doch noch das schönste paar in Dänemark.« Kein sechzehnjähriges Mägdlein könnte über ihren Verlobten, den hübschen Kammerjunker, glücklicher sein als ihro Gnaden über den bereits hochbetagten Kammerherrn.

Beide Lebensanschauungen sind darin eins, daß man das Leben genießen müsse. Die Bedingung dafür liegt in dem Individuum selber, aber so, daß sie ihren Ursprung nicht in diesem selber hat.

Wir gehen weiter, und treffen Lebensanschauungen, die uns gleicherweise zum Lebensgenuß auffordern, bei welchem aber die Bedingung außerhalb des Individuums liegt. Das ist überall da der Fall, wo Reichtum, Adel, hohe Würden u.s.w. zur Aufgabe und zum Inhalt des Lebens gemacht werden. Hier nenne ich auch eine gewisse Verliebtheit. Ich denke mir ein junger Mädchen, sie ist ganz und gar – bis über die Ohren verliebt, ihre Augen wollen nur ihn, den Geliebten, wieder und wieder sehen, in ihrer Seele lebt kein andrer Gedanke als er, er allein, ihm und keinem andern will ihr[474] Herz angehören, außer ihm hat nichts, nichts, weder im Himmel noch auf Erden für sie Bedeutung – siehe da, wieder eine ästhetische Lebensanschauung, bei welcher die Bedingung außerhalb des Individuums selber liegt. In Deinen Augen ist eine solche Liebe natürlich eine Torheit, die noch Deiner Meinung nur in Romanen vorkommt. Indessen ist eine solche Liebe doch denkbar und wird von vielen Menschen als etwas Außerordentliches angesehen. Ich werde Dir später erklären, weshalb ich dieselbe nicht billigen kann.

Wir gehen weiter. Es treten uns Lebensanschauungen entgegen, die uns zurufen: »Genießet das Leben,« wo aber die Bedingung des Genusses im Individuum selber liegt, doch also, daß sie ihren Ursprung nicht im Individuum selber hat. Die Persönlichkeit wird hier im allgemeinen als Talent bestimmt, ob es nun ein praktisches, merkantiles, mathematisches oder ein dichterisches, künstlerisches, philosophisches Talent ist; und die Befriedigung, der Genuß des Lebens wird dadurch gesucht, daß man dieses Talent zu seiner höchsten Entfaltung bringt. Die Menschen, welche dieser Lebensanschauung huldigen, müssen sich oft Deinen Spott gefallen lassen, namentlich weil sie durchweg unermüdlich thätig sind. Du meinst selber ästhetisch zu leben und räumst das jenen Menschen nicht ein. Unzweifelhaft hast Du andre Ansichten vom Lebensgenuß als sie, aber das ist nicht das Wesentliche; das Wesentliche liegt, wie wir schon gesehen haben, darin, daß man das Leben genießen will. Ja gewiß, Dein Leben ist viel vornehmer als das ihrige, aber vielleicht nicht – so unschuldig!

Wie nun alle dieses Lebensanschauungen das miteinander gemein haben, daß sie ästhetisch sind, so sind sie einander auch darin ähnlich, daß ihnen allen eine gewisse Einheit zu Grunde liegt, ein gewisser Zusammenhang und daß sie alle ein bestimmtes Zentrum haben, um das sich ihnen alles dreht. Das, worauf sie ihr Leben bauen, ist an sich ein Einzelnes, und darum wird dieses nicht so sehr zersplittert, wie das Leben derer, die sich an dem In-sich-selber-mannigfachen erbauen. Das ist bei derjenigen Lebensanschauung der Fall, bei welcher ich nun etwas länger verweilen will. Sie lehrt: Genieße das Leben, und erklärt das so: Lebe nach deiner Lust. Die Lust ist jedoch in sich selber etwas Mannigfaches; man sieht daher leicht, daß[475] dieses Leben sich grenzenlos zersplittert, es sei denn, daß in einzelnen Individuen die Lust von Kindheit an zu einer besondern Lust determiniert ist, was man denn eher eine Neigung, einen Hang nennen dürfte, z.B. die Neigung, zu fischen, oder zu jagen, oder Pferde zu halten u.s.w. Sofern diese Lebensanschauung sich mannigfach zersplittert, liegt sie – wie man leicht sehen kann – in der Sphäre der Reflexion. Diese Reflexion ist jedoch stets nur eine endliche Reflexion und die Persönlichkeit bleibt in ihrer Unmittelbarkeit. In der Lust selber ist das Individuum unmittelbar, und wie raffiniert dieselbe auch sein mag, so ist das Individuum in derselben doch nur gleichsam unmittelbar. Im Genuß ist es ein Moment, und wie mannigfach es auch dann sein mag, es ist doch beständig unmittelbar, weil es im Moment ist. Leben, um seine Lust zu befriedigen, ist in der That ein sehr vornehmer Lebensberuf, aber Gott sei Dank, können nur wenige ihn durchführen, weil die meisten Menschen auch noch an etwas andres zu denken haben, und ein Individuum im Besitz mannigfacher äußerer Bedingungen sein muß, und dieses Glück, oder richtiger Unglück, wird einem Sterblichen nur selten zu teil; dieses Unglück – denn, gewiß, es kommt nicht von den gnädigen, sondern von den erzürnten Göttern.

Die meisten Menschen sind hier freilich nur Pfuscher, aber in der Geschichte begegnet man doch dann und wann einem Exempel, das uns zeigt, wie diese Lebensanschauung im großen durchgeführt werden kann; ich denke da vor allem an jenen allmächtigen Mann, vor dem eine ganze Welt sich beugte, Kaiser Nero. Du äußertest einmal mit gewohnter Frechheit, man es könnte es Nero doch nicht verdenken, daß er Rom anzündete, um sich den Brand Trojas recht zu vergegenwärtigen. Aber man darf doch wohl fragen, ob er auch wirklich im Besitz der Kunst war, um es genießen zu können. Es ist eine Deiner kaiserlichen Lüste, daß Du niemals einem Gedanken aus dem Wege gehst, Dich niemals von ihm erschrecken läßt. Dazu braucht man ja auch keine kaiserliche Garde, kein Silber und Gold, keine Schätze Indiens, mau kann ganz für sich allein sein und es in aller Stille abmachen. Ja, klüger ist es, aber darum nicht weniger entsetzlich. Deine Absicht war nun wohl kaum, Nero zu verteidigen,[476] und doch thust Du es gewissermaßen, wenn Du nicht auf das, was er thut, den Blick richtest, sondern darauf siehst, wie er es thut. Ich weiß es sehr wohl, daß Du nicht weniger wie ich und alle Menschen, ja daß Nero selber vor einer solchen Grausamkeit zurückschrecken würde, und doch möchte ich keinem Menschen raten, zu glauben, er könne niemals ein Nero werden. Wenn ich nämlich das nenne, was meiner Meinung nach Neros Wesen konstituierte, so wird es Dir vielleicht sehr milde erscheinen, aber glaub's mir, es ist nicht zu milde geurteilt, aber es zeigt uns zugleich, wie nahe eine solche Verirrung einem Menschen liegen kann; ja man kann sagen, es kommt jedem Menschen, der nicht wie ein Kind durch das Leben geht, ein Augenblick, in dem er, wenn auch nur wie von ferne, diesen Abgrund des Verderbens ahnt. Neros Wesen war Schwermut. In unsrer Zeit sieht man in der Schwermut etwas Großes, und ich kann daher sehr gut begreifen, daß Du meinst, dieses Wort sei zu milde; ich folge einer altern Kirchenlehre, welche die Schwermut unter die Kardinalsünden zählte. Doch will ich gleich hier schon bemerken, daß ein Mensch einen tiefen Kummer haben kann, der ihm vielleicht bis zum Grabe folgt, ohne daß sein Leben dadurch der Schönheit und der innern Wahrheit beraubt würde; schwermütig aber wird ein Mensch nur durch seine eigne Schuld.

Doch zurück zu dem kaiserlichen Lüstling! Nicht nur, wenn er seinen Thron besteigt oder zur Ratsversammlung geht, sehe ich ihn im Geiste von Liktoren umgeben, nein, auch wenn er auszieht, um seine Lüste zu befriedigen – ja, dann vor allem, denn sie müssen ihm ja den Weg bahnen, wenn er auf Raub ausgeht. Ich stelle mir ihn schon etwas älter vor, die Jugend liegt hinter ihm, der leichte Sinn ist von ihm gewichen, und er ist der Freude des Lebens schon überdrüssig geworden. Aber dieses Leben, wie verdorben es auch sein mag, hat seine Seele gereift, und doch ist er trotz all seiner vielen Erfahrungen noch ein Kind, wenigstens ein Jüngling. Die Unmittelbarkeit des Geistes kann nicht zum Durchbruch kommen, und doch fordert sie einen Durchbruch, sie fordert eine höhere Form des Daseins. Soll das aber geschehen, dann muß auch ein Augenblick kommen, da der Glanz des Thrones erbleicht, seine Macht und[477] Herrlichkeit zusammenbricht, und dazu fehlt ihm der Mut. Nun jagt er hinter der Lust her, nur im Augenblick der Lust findet er Ruhe; ist der Rausch vorüber, dann schnappt er ermattet nach Luft. Beständig will der Geist hervorbrechen, aber es kommt nicht so weit, stets wirb er betrogen. Da sammelt bei Geist sich in ihm wie eine dunkle Wolke, der Zorn derselben schwebt über seiner Seele, und es ergreift ihn eine Angst, die auch nicht im Augenblick des Genusses aufhört. Sieh, deshalb ist sein Auge so finster, daß es niemand ertragen kann, sein Blick so unheimlich leuchtend, daß alle voller Entsetzen vor ihm fliehen; denn hinter dem funkelnden Auge liegt die Seele wie eine dunkle Wolke. Man nennt diesen Blick einen kaiserlichen Blick, und die ganze Welt zittert vor demselben, und doch ist sein innerstes Wesen voll geheimer Angst. Wenn ein Kind ihn anders ansieht, als er es gewohnt ist, dann kommen die Schrecken Gottes über ihn; nur wenn die Welt vor ihm zittert, ist er ruhig; denn dann wagt doch keiner es, ihn anzugreifen. Daher jene Angst vor Menschen, die Nero mit allen solchen Menschen gemein hat. Er ist wie besessen, unfrei in sich selber, jeder Blick kann ihn fesseln, ja, er, der mächtige Kaiser fürchtet sich vor dem Blick des niedrigsten Sklaven. Ein solcher Blick trifft ihn, sein Auge verzehrt den Menschen, der ihn so anzusehen wagt. Ein Schurke steht neben dem Kaiser und versteht den Zornesblitz, der aus seinem Auge leuchtet, und jener Mensch ist nicht mehr. Nero hat keinen Mord auf seinem Gewissen, aber der Geist fühlt neue Angst. Nur im Augenblick der Lust findet der große Kaiser der Zerstreuung. Er brennt halb Rom nieder, aber seine Qual bleibt dieselbe. So etwas ergötzt ihn bald nicht mehr. Es gibt noch eine höhere Lust, er will die Menschen um sich her quälen. Sich selber ist er ein Rätsel, und Angst sein innerster Wesen; nun will er allen ein Rätsel sein und sich an ihrer Angst ergötzen. Daher diesen kaiserliche Lächeln, das niemand begreift. Sie nähern sich seinem Throne, lächelnd sieht er sie an – aber eine gräßliche Angst ergreift sie, vielleicht ist dieses Lächeln ihr Todesurteil, vielleicht öffnet sich die Erde vor ihnen und sie stürzen in den Abgrund. Ein Weib nähert sich seinem Throne, er sieht sie freundlich lächelnd an, so voller Huld[478] und Gnade, daß sie vor Angst fast ohnmächtig hinsinkt; vielleicht ersieht dieses Lächeln sie schon als ein Opfer seiner Wollust. Und diese Angst ist seine Wonne. Er will nicht imponieren, er will ängstigen. Nicht stolz tritt er in seiner kaiserlichen Hoheit auf, schwach, ohnmächtig schleicht er heran, denn diese Schwachheit beunruhigt noch mehr. Wie ein Sterbender sieht er aus, als könnte er kaum noch Atem holen, und doch ist er Roms Kaiser und hält das Leben der Menschen in seiner Hand. Seine Seele ist matt, nur ein Witz, ein Gedankenspiel kann ihn einen Augenblick in Atem halten. Aber was ihm die Welt bieten kann, ist erschöpft, und doch kann er nicht atmen, wenn es ihm nicht mehr geboten wird. Er könnte ein Kind vor den Augen der Mutter niederhauen lassen, ob nicht ihre Verzweiflung der Leidenschaft einen neuen Ausdruck geben, ihn ergötzen könnte. Wäre er nicht Roms Kaiser, würde er sein Leben vielleicht durch einen Selbstmord enden.

Ob es so auch bei Nero war, weiß ich nicht; aber man findet bei solchen Menschen zuweilen eine gewisse Gutmütigkeit, und hatte Nero sie, so zweifle ich nicht, daß seine Umgebung bereit gewesen wäre, sie Holdseligkeit zu nennen. Damit hat es einen besondern Zusammenhang, aber gibt zugleich einen neuen Beweis für die Unmittelbarkeit, die zurückgedrängt die eigentliche Schwermut konstituiert. Da kann's geschehen, daß, wo alle Schätze der Welt kaum hinreichen, einen Menschen zu erfreuen, ein einzelnes Wort, eine kleine Kuriosität, mit einem Worte etwas an und für sich sehr Unbedeutendes denselben außerordentlich ergötzen kann. Ein Nero kann sich über so etwas wie ein Kind freuen. Wie ein Kind; das ist gerade der rechte Ausdruck dafür, denn es ist die ganze Unmittelbarkeit eines Kindes, die sich unveränderlich, unerklärlich zeigt. Eine herangereifte Persönlichkeit kann sich so nicht freuen; denn wohl hat er die Kindlichkeit in sich bewahrt, aber hat doch aufgehört, ein Kind zu sein. Im täglichen Leben ist Nero daher ein alter Mann, in einzelnen Augenblicken aber ein wahres Kind.

Hier will ich diese kleine Schilderung, die auf mich wenigstens immer einen sehr ernsten Eindruck gemacht hat, abbrechen. Selbst noch nach seinem Tode ängstigt Nero; denn wie verdorben er auch[479] ist, er ist doch Fleisch von unserm Fleisch und Bein von unserm Bein, und selbst in einem Unmenschen ist doch noch etwas Menschliches. Ich habe mit dieser Schilderung nicht Deine Phantasie beschäftigen wollen; ich bin kein Schriftsteller, der um die Gunst des Lesers buhlt, am allerwenigsten um Deine; ich bin, wie Du weißt, überhaupt kein Schriftsteller und schreibe nur um Deinetwillen. Auch habe ich Neros Geist nicht heraufbeschworen, damit wir – Du und ich – mit jenem Pharisäer Gott danken möchten, daß wir doch ganz andre Menschen sind. In mir erweckt es ganz andre Gedanken, wenn ich Gott auch danke, daß mein Leben so wenig bewegt war, daß ich diese Schrecken nur von ferne geahnt habe und nun ein glücklicher Ehemann bin; und ich freue mich von Herzen, daß Du noch jung genug bist, um etwas daraus lernen zu können. Mag jeder daraus lernen, was er will; das können wir beide lernen, daß eines Menschen Unglück niemals darin liegt, daß er die äußern Bedingungen nicht in seiner Macht hat, da dies ihn erst ganz unglücklich machen würde.

Was ist denn Schwermut? Antwort: Hysterie des Geistes. Es kommt in einem menschlichen Leben ein Augenblick, wo die Unmittelbarkeit gewissermaßen gereift ist und der Geist eine höhere Form haben will, wo er sich selber als Geist erfassen will. Als unmittelbarer Geist hängt der Mensch mit dem ganzen irdischen Leben zusammen; nun aber will der Geist sich aus dieser Zerstreutheit sammeln und sich in sich selber erklären. Die Persönlichkeit will sich ihrer selbst im ihrer ewigen Gültigkeit bewußt werden. Geschieht das nun nicht, wird die Bewegung aufgehalten oder zurückgedrängt, so tritt die Schwermut ein. Es liegt in derselben etwas gar Unerklärliches. Wer einen Schmerz oder einen Kummer in seinem Herzen trägt, der weiß, was ihn drückt; fragst Du aber einen Schwermütigen, so wird er Dir antworten: Ich weiß es nicht, ich kann's nicht erklären. Darin liegt die Unendlichkeit der Schwermut. Die Antwort ist ganz richtig; denn sobald er es weiß, ist sie auch gehoben, während das Leid noch keineswegs dadurch, daß man es kennt, verschwindet.

Aber die Schwermut ist auch eine Sünde, ja recht eigentlich eine Sünde instar omnium; denn das ist die Sünde, daß man nicht will, nicht tief und innerlich will, und das ist eine Mutter aller[480] Sünden. Diese Krankheit, oder richtiger, diese Sünde ist in unsrer Zeit allgemein, und das ganze junge Deutschland und Frankreich seufzt unter derselben. Ich will Dich nicht erbittern und Dich so schonend wie möglich behandeln. Gern räume ich es ein, daß die Schwermut in gewissem Sinn kein schlechtes Zeichen ist, denn sie findet sich im allgemeinen nur bei den begabtesten Naturen. Auch will ich Dich nicht mit der Behauptung plagen, daß jeder, der an Indigestionen leidet, sich schwermütig nennen dürfe, denn man hält es ja in unsrer Zeit fast für eine Ehre, wenn man diese Krankheit hat! Der Hochbegabte aber muß es sich gefallen lassen, wenn ich ihn dafür verantwortlich mache und behaupte, daß seine Schuld in solchem Fall auch größer ist als die andrer Menschen. Sieht er das recht ein, so wird er darin freilich keine Herabsetzung seiner Persönlichkeit finden, ob er sich auch in wahrer Demut unter die ewige Macht beugen muß. Sobald die Bewegung vor sich gegangen ist, ist die Schwermut im wesentlichen gehoben, obgleich dadurch natürlich nicht ausgeschlossen ist, daß das Leben einem solchen Individuum noch viele Leiden und manchen tiefen Kummer bringen kann; und Du weißt sehr wohl, daß ich weniger vielleicht als andre die jämmerliche philiströse Weisheit leiden kann, daß es ja doch nicht helfe, wenn man traure, und daß man sich die Sorgen aus dem Sinn schlagen solle. Wahrhaftig, ich würde mich vor mir selber schämen, wenn ich mit diesen Worten vor einen bekümmerten Menschen zu treten wagte. Aber trotzdem wird selbst der Mensch, in dessen Leben die Bewegung ruhig und friedlich vor sich geht, immer etwas von seiner Schwermut zurückbehalten; aber das hängt mit etwas viel Tieferem, mit der Erbsünde, zusammen, und liegt darin, daß ein Mensch nie auf den Grund seines Herzens schauen und sich nie selber ganz offenbar werden kann. Die Menschen dagegen, deren Seele nichts von Schwermut weiß, sind diejenigen, die keine Ahnung von einer Innern Metamorphose haben. Mit denen habe ich nichts zu thun, denn ich schreibe ja nur Dir; und Dich, so glaube ich, wird diese Erklärung befriedigen, denn Du nimmst doch wohl kaum mit vielen Ärzten an, daß die Schwermut ihren Grund im Leiblichen habe. Wenn es wirklich so ist, warum können die Ärzte sie dann nicht[481] heilen? Nur der Geist kann sie heben, denn sie liegt im Geist, und wenn dieser sich selbst findet, dann verschwinden all die kleinen Leiden, die Gründe, welche bei einigen, wie sie meinen, die Schwermut hervorrufen, daß man sich nicht in die Menschen finden könne, daß man sowohl zu früh wie zu spät in die Welt komme, daß man seinen Platz im Leben nicht ausfüllen könne; denn wer sich selber ewig besitzt, kann weder zu früh noch zu spät in die Welt kommen, und wer sich selber in seinem ewigen Wert besitzt, der findet auch einen Platz in diesem Leben, welchen er ganz und voll ausfüllen kann.

Nun, ich hoffe, Du wirst mir diesen Exkurs verzeihen, da er wesentlich in Deinem Interesse geschrieben ist. Ich kehre zu der Lebensanschauung zurück, die da meint, man müsse leben, um seine Lust zu befriedigen. Ein Philister sieht ein, daß sich dieselbe nicht durchführen läßt, und hält es daher nicht für der Mühe wert, mit ihr anzufangen; ein feinerer Egoismus kommt bald zu der Erkenntnis, daß man so die Pointe des Genusses verliert. Hier liegt eine Lebensanschauung vor, die uns lehrt: Genieße das Leben, und das wieder so ausdrückt: Genieße Dich selber. Im Genuß mußt Du Dich selber genießen. Das ist eine höhere Reflexion; indessen dringt dieselbe natürlich nicht in die Persönlichkeit selber ein, diese bleibt in ihrer zufälligen Unmittelbarkeit. Die Bedingung des Genusses ist auch hier im Grunde eine äußere, die nicht in der Macht des Individuums steht; denn obgleich er, wie er sagt, sich selber genießt, so genießt er sich selber doch nur in dem Genuß, der Genuß aber ist an äußere Bedingungen geknüpft. Der ganze Unterschied ist also der: er genießt reflektiert, nicht unmittelbar. Sofern ist selbst dieser Epikuräismus von einer Bedingung, die er nicht in seiner Macht hat, abhängig. Aber siehe, da wird mir ein Ausweg gezeigt. Genieße Dich selber – so sagen sie – indem Du stets die Bedingungen wegwirfst. Aber es versteht sich ja von selber, daß, wer sich selber darin genießt, daß er die Bedingungen wegwirft, ebenso abhängig von denselben ist, wie der, der sie genießt. Seine Reflexion kehrt beständig zu ihm selber zurück, und da sein Genuß darin besteht, daß er so wenig wie möglich Inhalt findet, so wird er selber immer leerer und leerer, da natürlich eine solche endliche Reflexion die Persönlichkeit nicht erschließen kann.[482]

Durch diese Betrachtungen meine ich nun das Territorium der ästhetischen Lebensanschauung deutlich genug abgegrenzt zu haben; alle Stadien haben das miteinander gemein, daß das, wovon man lebt, das ist, wodurch man unmittelbar ist, was man ist. Darüber hinaus geht keine Reflexion, so hoch sie sich auch aufschwingen mag. Ich habe nur Schattenriffe flüchtig Skizziert, aber mehr wollte ich auch nicht; nicht die verschiedenen Stadien sind mir wichtig, sondern nur die Bewegung, die unumgänglich notwendig ist, wie ich nun nachweisen will; und auf sie bitte ich Dich Deine Aufmerksamkeit zu lenken.

So nehme ich denn an, daß jener Mann, der nur für seine Gesundheit lebte, auch als er starb, gerade so gesund und munter war – Du weißt es, von wem ich diesen Ausdruck habe – wie je; daß jenes gräfliche Ehepaar bei der Feier seiner goldenen Hochzeit tanzte und daß ein Flüstern durch den Saal ging, ganz so wie damals, als sie an ihrem Hochzeitstage tanzten; ich nehme an, daß die Goldminen des reichen Mannes unerschöpflich waren, und Ehren und Würden den Weg des Glücklichen auf seiner Wanderung durch das Leben bezeichneten; ich nehme an, daß das junge Mädchen das Herz dessen fand, den sie liebte, daß das merkantile Talent mit seinen Verbindungen alle fünf Weltteile umfaßte und alle Börsen der Welt in seiner Börse hatte, daß das mechanische Talent Himmel und Erde verband – ich nehme an, daß Nero niemals nach Luft schnappte, sondern daß ihn jeden Augenblick ein neuer Genuß überraschte, daß jener kluge Epikuräer sich stets über sich selber freuen konnte, daß der Cyniker immer wieder die äußern Lebensbedingungen wegwarf, und sich freute, daß er keine Lasten zu tragen brauche – das nehme ich an; aber dann wären ja alle diese Menschen glücklich? Nun, das wirst Du kaum behaupten, und ich will Dir später sagen, warum; aber das wirst Du willig einräumen, daß viele Menschen so denken, ja, daß sich einer oder der andre einbilden würde, er habe etwas außerordentlich Kluges gesagt, wenn er hinzufügte: was ihnen fehle, sei das, daß sie es nicht anerkennten. Ich will nun die entgegengesetzte Bewegung machen. Nichts von dem allen geschieht. Was dann? Dann verzweifeln sie? Das wirst Du wohl auch nicht thun und[483] vielleicht sagen, das sei nicht der Mühe wert. Weshalb Du das nun nicht einräumen willst, will ich Dir ein andermal erklären; hier fordere ich nur, daß Du eingestehst, eine ganze Menge von Menschen finde es in der Ordnung, daß man verzweifle. Und warum verzweifelten sie? Weil sie die Entdeckung machten, daß das, worauf sie ihr Leben gebaut, eitel war. Aber ist denn das ein Grund zum Verzweifeln? Ist denn in dem, worauf sie ihr Leben erbauten, eine wesentliche Veränderung eingetreten? Hat sich das Eitle und Vergängliche wesentlich verändert, wenn es sich als eitel und vergänglich erweist? Oder ist's nicht vielmehr der reine Zufall, wenn es sich nicht so zeigt? Es ist ja nichts Neues hinzugekommen, das eine Veränderung begründen konnte. Wenn sie also verzweifeln, so muß das darin liegen, daß die Verzweiflung sie schon vorher ergriffen hatte. Der Unterschied ist nur der, daß sie es nicht eher wußten; aber das ist ja etwas ganz Zufälliges, und nichts Wesentliches.

Also: jede ästhetische Lebensanschauung ist Verzweiflung, und jeder, der ästhetisch lebt, ist verzweifelt, ob er es nun weiß oder nicht. Aber wenn man es weiß, und Du weißt es ja, so ist eine höhere Form des Daseins eine unabweisbare Forderung.

Nur mit einigen Worten will ich hier mein Urteil über das junge Mädchen und ihre Liebe etwas näher erklären. Du weißt es, daß ich in meiner Qualität als Ehemann bei jeder Gelegenheit, sowohl mündlich wie schriftlich, Dir gegenüber die Realität der Liebe behaupte, und deshalb will ich mich auch hier offen aus sprechen, um einem Mißverhältnis zu wehren. Ein in endlichem Sinn kluger Mensch würde bei einer solchen Liebe vielleicht etwas bedenklich werden, er würde Sie in ihrer Armut vielleicht durchschauen und seine armselige Weisheit im Gegensatz dazu so ausdrücken: Liebe mich ein wenig und liebe mich lange. Wie wenn seine ganze Lebensweisheit nicht noch ärmer, wenigstens viel armseliger wäre als ihre Liebe. Ich stelle auf dem Gebiet der Liebe nicht gern Gedankenexperimente an; ich habe nur einmal geliebt und bin in dieser Liebe noch immer unaussprechlich glücklich; und es wirb mir schon der Gedanke schwer, daß ich von einer andern, als von der, mit der ich verbunden bin, geliebt werden könnte; auch wüßte ich gar nicht, wie sie mich anders[484] glücklich machen könnte; doch will ich den Versuch wagen. Laß mich denn, wie es auch zugegangen sein mag, ein Gegenstand solcher Liebe geworden sein. Sie würde mich nicht glücklich machen können, und ich würde sie niemals annehmen, nicht weil ich sie verschmähte; bei Gott, ich hätte lieber einen Mord auf meinem Gewissen, als daß ich eines Mädchens Liebe verschmäht hätte; aber ich würde es ihr um ihretwillen nicht erlauben. Ich möchte, wo es möglich wäre, von jedem Menschen geliebt werden; von meiner Frau wünsche ich so sehr geliebt zu werden, wie nur ein Mensch von einem andern geliebt werden kann, und es würde mich schmerzen, wenn es nicht so wäre; aber mehr wünsche ich auch nicht, ich möchte nicht, daß ein Mensch dadurch Schaden nähme an seiner Seele, daß er mich liebte; ich würde sie zu sehr lieben, als daß ich ihr erlauben könnte, sich selber zu erniedrigen. Für den hochmütigen Geist liegt etwas Verführerisches in dem Gedanken, so geliebt zu werden, und doch gibt es Menschen, welche die Kunst, ein Mädchen zu bethören, so daß sie alles vergißt, aus dem Grunde verstehen – mögen sie selber zusehen, wie sie das verteidigen können. Oft genug wird solch ein Mädchen hart genug dafür gestraft, aber erlauben, daß es geschieht – das ist gemein. Sieh, deshalb sagte ich und sage es noch, daß das junge Mädchen gleich verzweifelt war, ob der Geliebte sie nahm oder nicht; denn es ist ja ein reiner Zufall, wenn der, der sie liebt, ein so redlicher Mensch ist, daß er ihr aus dem Irrtum heraushilft, und wenn die Mittel, die er dazu gebraucht, auch noch so hart sind, ich würde doch sagen: Er handelt aufrichtig, treu und ritterlich gegen sie.

Es hat sich also gezeigt, daß jede ästhetische Lebensanschauung Verzweiflung ist; es könnte daher richtig scheinen, nunmehr die Bewegung, durch welche das Ethische in die Erscheinung tritt, vorzunehmen. Jedoch muß ich zuvor noch ein Stadium, eine ästhetische Lebensanschauung, und zwar die feinste und vornehmste von ihnen allen, sehr sorgfältig behandeln; denn nun kommt die Reihe an Dich.

In allem, was ich im vorhergehenden entwickelt habe, kannst Du mir ruhig folgen, gewissermaßen habe ich bisher ja gar nicht mit Dir gesprochen, und es würde auch wenig helfen, wollte ich so mit Dir reden und Dich von der Eitelkeit des Lebens überzeugen.[485] Du weißt es sehr gut und hast ja auch gesucht, Dir selber zu helfen. Der Grund, weshalb ich alles so eingehend erörtert habe, ist der: ich wollte mir den Rücken frei halten und Dich hindern, plötzlich zur Seite zu springen. Diese letzte Lebensanschauung ist die Verzweiflung selber. Sie ist eine ästhetische Lebensanschauung, denn die Persönlichkeit bleibt in ihrer Unmittelbarkeit; sie ist die letzte ästhetische Lebensanschauung, denn sie hat in gewissem Maße das Bewußtsein von der Richtigkeit einer solchen Anschauung in ihr Bewußtsein aufgenommen. Jedoch müssen wir zwischen Verzweiflung und Verzweiflung unterscheiden. Denke ich mir einen Künstler, einen Maler z.B., der plötzlich blind wird, so würde er vielleicht verzweifeln, wenn kein tieferer Fonds da wäre. Da verzweifelt er über dieses Einzelne, und erhielte er das Licht seiner Augen wieder, so würde die Verzweiflung aufhören. Das ist aber bei Dir anders, und gewissermaßen ist Deine Seele zu tief, als daß Dir dies widerfahren könnte. Äußerlicher Weise ist es Dir auch nicht geschehen. Noch immer hast Du alle Momente zu einer ästhetischen Lebensanschauung in Deiner Macht, Du hast Vermögen, Unabhängigkeit, Deine Gesundheit ist ungeschwächt, Dein Geist noch voller Leben, und Du bist noch nicht unglücklich geworden, weil ein junges Mädchen Dich nicht lieben wollte. Und doch bist Du verzweifelt. Es ist das keine aktuelle Verzweiflung, sondern eine Verzweiflung des Gedankens. Dein Gedanke ist vorausgeeilt, Du hast die Eitelkeit aller Dinge durchschaut, aber Du bist nicht weiter gekommen. Gelegentlich tauchst Du darin unter, und indem Du Dich in einem einzelnen Moment dem Genusse hingibst, machst Du in Deinem Bewußtsein zugleich die Entdeckung, daß es eitel ist. Du bist also niemals bei Dir selber, in der Verzweiflung nämlich. Und aus diesem Grunde liegt Dein Leben zwischen zwei ungeheuren Gegensätzen; zuweilen regt sich in Dir eine gewaltige Energie, und dann wieder ist Deine Indolenz ebenso groß.

Ich habe öfters die Bemerkung gemacht, daß, je köstlicher das Fluidum ist, in welchem ein Mensch sich berauscht, um so schwerer er geheilt werden kann, der Rausch ist schöner, und die Folgen scheinbar nicht so verderblich. Wer sich im Branntwein berauscht, merkt bald die bösen Folgen und man kann auf Rettung hoffen. Wer[486] aber seinen Durst im Champagner löscht, der wird schwerlich geheilt. Und Du hast das Feinste gewählt, denn welcher Rausch ist wohl so schön wie die Verzweiflung, besonders in den Augen junger Mädchen – Du weißt es schon! – zumal wenn man zugleich die wildesten Ausbrüche zurückzuhalten weiß und die Verzweiflung wie ein fernes Feuer ahnen und den Widerschein desselben nur in seinem äußern Wesen sehen läßt. Das Auge schaut stolz und trotzig drein, die Lippe lächelt übermütig, sie gibt eine unbeschreibliche Leichtigkeit des ganzen Wesens, einen königlichen Blick über alles. Und nähert sich nun eine solche Gestalt einem jungen Mädchen und beugt sich das stolze Haupt vor ihr, so schmeichelt es ihr, und ach, wie manche Maid ist unschuldig genug, um dieser falschen Bewunderung zu glauben. Ist es nicht schändlich, wenn ein Mensch so – doch nein, ich will keine Donner rollen lassen; es möchte Dich nur ärgern; ich habe noch kräftigere Mittel, ich habe den jungen, hoffnungsvollen Menschen, er ist vielleicht verliebt, er kommt zu Dir, er hat sich in Dir geirrt, er glaubt, Du seiest ein treuer, ehrlicher Mensch, er will sich von Dir Rat holen. Du kannst Deine Thür in Wirklichkeit vor jedem solchen fatalen jungen Mann schließen, aber nicht Dein Herz; wenn Du auch nicht wünschst, daß er ein Zeuge Deiner Demütigung werde, sie wird dennoch nicht ausbleiben, denn so verdorben bist Du nicht, und bist Du mit Dir selber allein, dann ist Deine Gutmütigkeit vielleicht größer als man glaubt.

Da habe ich also Deine Lebensanschauung, und glaub's mir, es wird Dir selber vieles in Deinem Leben klarer werden, wenn Du dieselbe mit mir als eine Verzweiflung des Gedankens betrachtest. Du haßt die unruhige Thätigkeit des Lebens, sehr richtig; denn damit dieselbe einen Sinn hat, muß das Leben Kontinuität haben, und die fehlt Deinem Leben. Du beschäftigst Dich mit Deinen Studien, das ist wahr, Du bist sogar fleißig; aber Du arbeitest nur für dich selber, und alles ist so wenig teleologisch wie möglich. Im übrigen bist Du müßig, stehst müßig am Markte, wie jene Arbeiter im Evangelium; mit den Händen in der Tasche betrachtest Du das Leben. Nun ruhst Du in der Verzweiflung aus, nichts beschäftigt Dich, und vor nichts gehst Du aus dem Wege, »ob man ein ganzes Dach auf mich[487] herabstürzen wollte, ich ginge nicht aus dem Wege.« Du bist wie ein Sterbender, Du stirbst täglich, nicht in dem tief ernsten Sinn, in welchem man dieses Wort sonst wohl versteht, nein, Dein Leben hat seine Realität verloren, und »Du rechnest immer von einem Kündigungstermin zum andern.« Du läßt alles an Dir vorüber passieren, es macht keinen Eindruck auf Dich; aber siehe, nun plötzlich kommt etwas, das Dich ergreift, eine Idee, eine Situation, das Lächeln eines jungen Mädchens, und nun bist Du »dabei«; denn wie Du bei gewissen Gelegenheiten nicht »dabei« bist, so zu andern Zeiten um so mehr und zu jedem Dienst bereit. Wie bekannt, hat ein Sterbender eine übernatürliche Energie, und so ist's auch mit Dir. Soll eine Idee durchdacht, ein Werk studiert, ein Plan ausgeführt werden, soll ein kleines Abenteuer erlebt – ja, soll vielleicht ein Hut gekauft werden, so greifst Du die Sache mit einer ungeheuern Kraft an. Nach Umständen arbeitest Du einen Tag, einen Monat unverdrossen, Du freust Dich dann, denn es ist Dir ein Beweis dafür, daß Du die alte Kraft noch hast, Du ruhst und rastest nicht, »kein Satan kann es mit Dir aushalten.« Arbeitest Du mit andern zusammen, so arbeitest Du sie tot. Aber ist der Monat vergangen, oder was Du immer als ein Maximum ansiehst, das halbe Jahr, dann brichst Du ab, dann sagst Du: Nun ist die Geschichte aus; Du ziehst Dich zurück und läßt dem andern das Ganze, oder hattest Du allein gearbeitet, dann erfährt kein Mensch etwas davon. Nun bildest Du Dir selbst und andern ein, daß Du die Lust verloren hast, und schmeichelst Dir mit dem eitlen Gedanken, wenn Du nur noch Lust dazu gehabt hättest, würdest Du mit derselben Intensivität weiter gearbeitet haben. Aber das ist ein ungeheurer Betrug. Es würde Dir wie den meisten andern gelungen sein, und Du wärst fertig geworden, wenn Du die rechte Geduld gehabt hättest; aber zugleich würdest Du es auch erfahren haben, daß dazu eine ganz andre Ausdauer gehört, als Du sie besitzt. Leicht betrügst Du Dich selber und lernst nichts für Dein weiteres Leben. Ich will Dir einmal sagen, was ich thue. Ich weiß es wohl, wie trügerisch das eigne Herz ist, wie leicht man sich selber betrügen kann, gar, wenn man wie Du im Besitz der lösenden Macht einer Dialektik ist, die nicht nur für alles und jedes Dispensation[488] erteilt, sondern es auch auflöst und auswischt. Ist mir etwas in meinem Leben begegnet, habe ich mich zu etwas entschlossen, wovon ich fürchtete, es werde im Lauf der Zeit einen andern Eindruck auf mich machen, oder habe ich etwas gethan, wovon ich glaubte, ich werde es später anders erklären, dann habe ich's oft mit wenigen, oder deutlichen Worten aufgeschrieben, was ich eigentlich wollte, oder was ich gethan hatte und warum. Wenn ich dann später einmal das Bedürfnis fühle, einen alten Entschluß, eine frühere Handlung wieder lebendig vor Augen zu haben, dann nehme ich mein Reskriptenbuch zur Hand und spreche das Urteil über mich selber aus. Ja, so meinst Du, das ist entsetzlich pedantisch, viel zu weitläufig und nicht der Mühe wert, so viel Wesens von dem zu machen, was man gethan habe. Darauf antworte ich nur dieses: Fühlst Du das Bedürfnis nicht, ist Dein Bewußtsein immer so untrüglich und Dein Gedächtnis so treu, nun, dann laß es sein. Ich glaub's freilich nicht, denn die Seelenkraft, die Dir eigentlich fehlt, ist gerade das Gedächtnis, will sagen, nicht für dieses oder jenes, nicht für Ideen, Witze oder dialektische Schnurrpfeifereien – das möchte ich nicht behaupten; sondern das Gedächtnis für Dein eignes Leben und für das, was Du in demselben erlebt hast. Hattest Du es, dann würde sich in Deinem Leben nicht immer dasselbe Phänomen so oft wiederholen, dann würden sich in demselben nicht so viele – ja, wie soll ich mich ausdrücken? – Halbe-Stunden-Arbeiten finden; und in der That, so darf ich sie wohl nennen, auch wenn Du ein halbes Jahr darauf verwandt hast, denn Du wirst ja niemals fertig. Aber Du liebst es, Dich selber und andre zu täuschen. Warst Du immer so stark, wie Du es in den Augenblicken der Leidenschaften bist, dann warst Du, ich will's nicht leugnen, der stärkste Mensch, den ich je kennen gelernt habe. Aber das bist Du nicht, und Du weißt es auch selber recht gut. Deshalb ziehst Du Dich zurück, verbirgst Dich fast vor Dir selber und gibst Dich wieder einer indolenten Ruhe hin. In meinen Augen, deren Aufmerksamkeit Du Dich nicht immer entziehen kannst, wirst Du mit Deinen momentanen Ideen fast lächerlich, und ebensosehr dadurch, daß Du Dich immer für berechtigt hältst, andre zu verspotten. Es waren einmal zwei Engländer noch Arabien gereist,[489] um sich Pferde zu kaufen. Sie brachten selber einige englische Renner mit, und wünschten, deren Tüchtigkeit im Vergleich zu den arabischen Pferden zu versuchen. Sie schlugen einen Ritt vor; die Araber waren dazu bereit, und überließen den Engländern die Wahl der arabischen Pferde. Das wollten sie jedoch nicht gleich thun, denn sie erklärten, sie gebrauchten erst 40 Tage, um zu tränieren. Man wartete die 40 Tage ab, die Höhe des Gewinns ward bestimmt, die Pferde wurden gesattelt, und die Araber fragten, wie lange sie reiten sollten. Eine Stunde war die Antwort. Darüber wunderten sich die Araber, und antworteten ganz lakonisch; wir glaubten, wir sollten drei Tage reiten. Sieh, so geht's mit Dir. Will man eine Stunde mit Dir um die Wette reiten, dann »kann kein Satan es mit Dir aushalten«; aber in drei Tagen kommst Du zu kurz. Ich erinnere mich, daß ich Dir einmal die Geschichte erzählte und erinnere mich auch noch sehr genau Deiner Antwort. Es sei sehr bedenklich – so meintest Du - , drei Tage um die Wette zu reiten, man riskiere dadurch, in solche Fahrt zu kommen, daß man nie wieder zum Stehen kommen könne, deshalb ließest Du Dich klüglicher Weise auf einen solchen anstrengenden Ritt nicht ein. »Ich reite wohl einmal ein Stündchen, möchte aber kein Kavallerist werden, überhaupt keinen Lebensberuf auf mich nehmen, in dem ich unverdrossen arbeiten müßte.« Das ist nun auch gewissermaßen ganz wahr; denn Du fürchtest immer die Kontinuität, und zwar vornehmlich aus dem Grunde, weil sie Dir die Gelegenheit raubt, Dich selber zu betrügen. Die Kraft, die Du hast, ist die Kraft der Verzweiflung; dieselbe ist intensiver als die gewöhnliche menschliche Kraft, aber sie währt auch kürzer.

Du schwebst beständig über Dir selber, aber der höhere Äther, das seinere Sublimat, in welchem Du verflüchtigt bist, ist das Nichts der Verzweiflung, und unter Dir siehst Du eine Mannigfaltigkeit von Kenntnissen, Einsichten, Studien, Bemerkungen, die doch keine Realität für Dich haben, sondern die Du ganz launenhaft benutzt und kombinierst, und mit denen Du den Palast, den Du dem Übermut des Geistes erbaut hast, und in welchem Du gelegentlich wohnst, so geschmackvoll wie möglich ausschmückst. Was Wunder, daß Dir das Leben ein Märchen ist, und »daß Du Dich oft versucht fühlst,[490] Deine Reden so anzufangen: Es lebte einmal ein König und eine Königin, die hatten keine Kinder,« und daß Du dann alles andre vergißt, um die Bemerkung zu machen, daß es, sonderbar genug, im Märchen immer ein Grund sei, der einem Könige und einer Königin Schmerz und Sorge verursache, daß sie keine Kinder hätten, während es im gewöhnlichen Leben eher zu den Leiden der Menschheit gehöre, daß man Kinder habe, was Asyle und andre Einrichtungen genügend bezeugten. Dadurch ist Dir ein neuer Gedanke gekommen: »Das Leben ist ein Märchen,« und während eines ganzen Monats liest Du nur Märchen, studierst sie gründlich, vergleichst und prüfst, und der Ertrag Deines Studiums ist auch nicht so gering, aber wozu verwendest Du ihn? Um Deinen Geist zu ergötzen! Du brennst das Ganze in einem brillanten Feuerwerk ab.

Du schwebst über Dir selber, und was Du unter Dir siehst, ist eine große Mannigfaltigkeit von Stimmungen und Zuständen, die Du gebrauchst, um interessante Berührungen mit dem Leben zu finden. Du kannst Sentimental, kalt und ohne Herz, ironisch, witzig sein; und man muß gestehen, Du hast fashion. Sobald Dich etwas aus Deiner gewohnten Indolenz zu reißen vermag, bist Du mit ganzer Leidenschaft in voller Praxis, und Deiner Praxis fehlt die Kunst nicht, da Du nur zu sehr mit Witz, Gewandtheit und allen möglichen verführerischen Geistesgaben ausgerüstet bist. Du bist, wie Du Dich mit großer selbstgefälliger Prätension ausdrückst, niemals so ungalant, daß Du irgendwo hinkämst, ohne ein kleines duftendes, frischgepflücktes Boukett guter Witze mitzubringen. Je besser man Dich kennen lernt, um so mehr wird man fast frappiert durch die berechnende Klugheit, die sich durch alles hindurchzieht, was Du während der kurzen Zeit, in der Du von Leidenschaften bewegt bist, ausführst; denn die Leidenschaft macht Dich niemals blind, ja Du siehst in ihr noch schärfer als zu andern Zeiten. Dann hast Du Deine Verzweiflung vergessen und alles, was Dir sonst auf Deiner Seele liegt; die zufällige Berührung, in welche Du mit einem Menschen gekommen bist, beschäftigt Dich absolut. Ich erinnere Dich an eine kleine Begebenheit, die sich in meinem eignen Hause zutrug. Vermutlich habe ich den beiden jungen Schwedinnen, die gerade bei uns[491] waren, den Vortrag zu danken, den Du zum besten gabst. Die Unterhaltung hatte eine ernstere Richtung genommen und war auf einen Punkt gekommen, der Dir nicht mehr angenehm war. Ich hatte mich etwas gegen den thörichten Respekt ausgesprochen, den man in unsere Zeit vor den Geistesgaben haben, und hatte daran gemahnt, daß es auf etwas ganz andres ankomme, nämlich auf die Innerlichkeit des ganzen Wesens, wofür die Sprache keinen andern Ausdruck habe als den Glauben. Du warst dadurch vielleicht in weniger günstige Beleuchtung gekommen, und da Du wohl einsahst, daß Du auf dem einmal eingeschlagenen Wege nicht weiter kommen konntest, glaubtest Du Dich in einem Genre versuchen zu müssen, das Du selber hohem Unsinn nennst, und fingst an sentimental zu werden: »Ich sollte nicht glauben? Ich glaube, daß tief drinnen in dem einsamen, schweigenden Walde, wo die Bäume sich in den dunkeln Wassern spiegeln, daß im geheimnisvollen Dunkel desselben, wo selbst am Mittag Dämmerung herrscht, ein Wesen wohnt, eine Nymphe, eine Jungfrau, ich glaube, sie ist schöner als man sich denken kann, ich glaube, daß sie morgens Kränze windet, sich mittags in dem kühlen Wasser badet, abends wehmütig die Blätter des Kranzes zerpflückt; ich glaube, ich wäre der glücklichste Mensch, der je auf Erden gelebt, wenn ich sie gefangennehmen und sie besitzen würde; ich glaube, es lebt in meiner Seele eine Sehnsucht, in die Geheimnisse der Natur einzudringen; ich glaube, ich würde glücklich werden, wenn dieser tiefste Wusch meines Herzens befriedigt würde; ich glaube überhaupt, es liegt ein Sinn in der Welt, wenn ich ihn nur finden könnte – wie? habe ich denn nun nicht einen starken Glauben? brenne ich nicht im Geiste?« Vielleicht glaubst Du auch, eine solche Rede könne Dich würdig machen, als ein Mitglied des griechischen Symposions aufgenommen zu werden; denn dazu bildest Du Dich ja unter anderm aus, und das sähst Du als das schönste Leben an, jede Nacht mit einigen griechischen Jünglingen zusammenzukommen, mit einem Kranz im Haar dazusitzen und einen Panegyrikus über die Liebe zu halten, ja, das wäre ein Lebensberuf für Dich! Mir scheint jene Rede nun etwas thöricht zu sein, ob sie vielleicht auch im Augenblick einen Eindruck macht, besonders wenn Du sie selber mit Deiner fieberhaften[492] Beredsamkeit vortragen darfst; und zugleich ist sie mir ein Ausdruck für Deinen verwirrten Geisteszustand; denn es ist ganz in der Ordnung, daß einer, der nicht an das glaubt, woran andre Menschen glauben, an solche rätselhafte Wesen glaubt, wie es denn auch oft im Leben vorkommt, daß einer, der sich bot nichts, weder im Himmel noch auf Erben, fürchtet, vor einer Spinne bange werben kann. Du lächelst, und meinst, ich sei in die Falle gegangen, da ich geglaubt habe, daß Du etwas geglaubt habest, was zu glauben Dir nicht im Traume einfiele. Ganz richtig, denn Dein Vortrag schließt immer mit einer absoluten Skepsis, aber wie klug und berechnend Du auch sein magst, Du kannst es doch nicht leugnen, daß Du Dich einen Augenblick selber an dem krankhaften Feuer so überspannter Ideen erwärmen kannst. Deine Absicht ist vielleicht eine andre: Du willst andre Menschen betrügen, und doch gibt es Augenblicke in Deinem Leben, in denen Du Dich, ohne es zu wissen, Selber betrügst.

Was von Deinen Studien galt, das gilt von allen Deinen Handlungen; Du lebst im Augenblick, und im Augenblick bist Du übernatürlich groß, Deine ganze Seele tauchst Du in denselben hinein, selbst mit der Energie eines Willens, denn für einen Augenblick hast Du Dein Wesen absolut in Deiner Macht. Wer Dich nur in einem solchen Augenblick sieht, läßt sich leicht täuschen, während der, der noch den nächsten Augenblick abwartet, bald über Dich triumphieren wird. Du erinnerst Dich vielleicht des bekannten Märchens bei Musäus von den drei Knappen Rolands. Einer derselben erhielt von der alten Hexe, die sie im Walde besuchten, einen Fingerhut, der ihn unsichtbar machte. Mit Hilfe desselben drang er in die Gemächer der schönen Urakka hinein und bekannte ihr seine Liebe; es machte das einen starken Eindruck auf sie, da sie niemanden sah und also vermutete, es müsse wenigstens ein Prinz aus dem Feenlande sie mit seiner Liebe beehren. Jedoch forderte sie, daß er sich ihr offenbare. Da lag die Schwierigkeit; denn sobald er sich zeigte, mußte der ganzer verschwinden, und doch hatte er ja von seiner Liebe keine Freude, wenn er sich nicht offenbaren konnte. Ich habe gerade die Märchen von Musäus zur Hand, und schreibe Dir einen kleinen Passus mit der Bitte ab, denselben allen Fleißes durchzulesen und ihn Dir zum[493] Heile dienen zu lassen. »Er willigte dem Anscheine nach ungern ein, und die Phantasie der Prinzessin schob ihr das Bild des schönsten Mannes vor, den sie mit gespannter Erwartung zu erblicken vermeinte. Aber welcher Kontrast zwischen Original und Ideal, da nichts als ein allgemeines Alltagsgesicht zum Vorschein kam, einer von den gewöhnlichen Menschen, dessen Physiognomie weder Genieblick noch Sentimentalgeist verriet!« Was Du durch diese Berührungen mit den verschiedensten Menschen erreichen willst, erreichst Du auch, denn da Du ein gut Teil klüger bist, als jener Knappe es war, so siehst Du leicht ein, daß es sich nicht bezahlt machen kann, wenn man aus seiner Verborgenheit hervortritt. Hast Du einem Menschen ein ideales Bild vorgezaubert, dann ziehst Du Dich vorsichtig zurück, und hast das Vergnügen gehabt, einen Menschen genarrt zu haben. Was Du zugleich erreichst, ist, daß der Zusammenhang Deiner Anschauung durchbrochen wird, und daß Du einen Moment mehr gefunden hast, weshalb Du wieder von vorn anfangen mußt.

Theoretisch bist Du mit der Welt fertig, die Endlichkeit kann vor Deinem Geiste nicht bestehen; praktisch bist Du gewissermaßen auch mit ihr fertig, will sagen, in ästhetischem Sinn. Trotzdem hast Du keine Anschauung vom Leben. Du hast etwas, was einer Anschauung ähnlich sieht, und das gibt Deinem Leben eine gewisse Ruhe, die jedoch nicht mit einem sichern und erquickenden Vertrauen zum Leben verwechselt werden darf. Ruhe hast Du nur im Gegensatz zu dem, der noch nach den Nebelbildern des Genusses jagt, per mare pauperiem fugiens, per saxa, per ignes. Im Verhältnis zum Genuß besitzt Du einen absolut vornehmen Stolz. Versteht sich, Du bist ja mit der ganzen Endlichkeit fertig. Und doch kannst Du sie nicht aufgeben. Vergleiche ich Dich mit denen, die der Befriedigung nachjagen, so bist Du in der absoluten Unzufriedenheit zufrieden! Sähest Du die Herrlichkeiten der ganzen Welt, es würde Dich nicht sehr bewegen, denn im Geiste stehst Du über denselben, und wenn sie Dir angeboten würden, so würdest Du wie immer sagen: Ja, einen Tag könnte man wohl dran wenden. Es kümmert Dich nicht, daß Du kein Millionär geworden bist, und würde es Dir angeboten, so würdest Du etwa antworten: Ja, es müßte recht interessant[494] sein, wenn man's einmal gewesen ist, und einen Monat könnte man schon dran spendieren. Und könnte man Dir die Liebe des schönsten Mädchens bieten, Du würdest doch nur antworten: Ja, für ein halbes Jahr wäre das ganz schön. Ich will mich nun nicht denen anschließen, die meinen, Du seiest unersättlich, ich sage lieber: In gewissem Sinn hast Du recht; denn nichts Endliches, auch nicht die ganze Welt kann die Seele eines Menschen befriedigen, der nach Ewigem trachtet. Könnte man Dir die höchsten Ehren anbieten und Dir die Bewunderung Deiner Zeit verschaffen – und doch ist das eben Dein schwächster Punkt – so würdest Du antworten: Ja, für kurze Zeit lasse ich mir's gefallen. Im Grunde willst Du diese Ehre gar nicht haben, Du thätest keinen Schritt für dieselbe. Denn sie hätte ja nur dann Bedeutung für Dich, wenn Du wirklich so hochbegabt wärst, daß Deine Zeit Dich bewundern müßte. Selbst in diesem Fall sieht Dein Geist sogar den höchsten Grad geistiger Größe als etwas Eitles an. Deine Polemik gibt Dir daher einen noch höhern Ausdruck, wenn Du, innerlich erbittert über das ganze Leben, wünschen könntest, daß Du der thörichtste Mensch wärst und doch als der weiseste bewundert und angebetet würdest, denn das wäre ja ein Hohn über das ganze Dasein, und jedenfalls viel interessanter, als wenn ein wirklich tüchtiger Mensch als solcher geehrt würde. Du willst daher nichts haben, wünschst nichts; denn das einzige, was Du Dir wünschtest, wäre eine Wünschelrute, die Dir alles geben könnte, und hättest du sie, so würdest Du Deine Pfeife mit ihr auskratzen. Du bist mit dem Leben fertig, »und brauchst kein Testament zu machen, denn Du hinterläßt nichts.« Aber auf der Spitze kannst Du Dich freilich nicht halten, denn wohl hat Dein denkender Geist Dir alles genommen, aber er hat Dir nichts dafür wiedergegeben. Im nächsten Augenblick fesselt Dich etwas ganz Unbedeutendes. Wohl siehst Du auf dasselbe mit dem ganzen vornehmen Stolz herab, den Dir Dein übermütiger Geist gibt – Du bist desselben fast schon leid, ehe Du es in die Hand nimmst; aber es beschäftigt Dich doch, und beschäftigt Dich auch die Sache selber nicht – das ist niemals der Fall - , es beschäftigt Dich doch das, daß Du Dich zu derselben herabläßt. So liegt in Deinem Wesen, sobald Du Dich mit andern Menschen abgibst,[495] ein hoher Grad von Treulosigkeit, aus der man Dir jedoch keinen ethischen Vorwurf machen kann, weil Du außerhalb der ethischen Bestimmungen liegst.

Glücklicherweise bist Du andern gegenüber wenig teilnehmend, und daher merkt man Deine Treulosigkeit nicht so sehr. Du kommst häufig in mein Haus, und Du weißt auch, daß es mir niemals einfällst, Dich zu irgend etwas einzuladen. Ich würde Dich nicht einmal mit in den Wald nehmen, nicht weil Du nicht sehr munter und unterhaltend wärst, sondern weit Deine Teilnahme immer falsch ist; denn freust Du Dich wirklich, so kann man immer sicher sein, daß Du Dich nicht an dem freust, woran sich andre freuen, oder an der Tour selber, sondern an etwas, daß Du in mente hast; und freust Du Dich nicht, dann ist's nicht deshalb, weil Dir etwas Unangenehmes begegnet wäre und Dir die gute Laune verdorben hätte, das könnte ja auch uns andern passieren, sondern weil Du bereits in dem Augenblick, in welchem Du in den Wagen steigst, die Eitelkeit des ganzen Vergnügens durschaut hast. Ich vergebe Dir das gern, denn Dein Herz ist immer zu bewegt, und es ist in der That wahr, was Du häufiger von Dir sagst, Du seiest wie eine Wöchnerin, und wenn man in solchen Umständen ist, dann ist's kein Wunder, wenn man etwas andres als andre Menschen ist.

Doch, der Geist läßt sich nicht spotten, er rächt sich an Dir selber, er bindet Dich mit den Fesseln der Schwermut. Mein junger Freund, hier könntest Du ein Nero werden, wäre in Deiner Seele nicht ein ursprünglicher Ernst, eine angeborne Hochherzigkeit – selbst wenn Du römischer Kaiser geworden wärst. Nein, Du gehst einen andern Weg. Nun zeigt sich Dir eine Lebensanschauung, die einzige, die Dich – so scheint es – befriedigen kann: Du versenkst Deine Seele in Wehmut und Kummer. Doch Dein Geist ist zu gesund, als daß diese Lebensanschauung ihre Probe bestehen könnte; denn für einen solchen ästhetischen Kummer ist das Leben ebenso eitel wie für jede andre ästhetische Lebensanschauung. Wenn ein Mensch nicht tiefern Kummer hat, dann hat es seine Wahrheit, daß der Kummer geradesogut vergeht wie die Freude; denn alles, was nur endlich ist, vergeht. Und meinen manche, es sei ein Trost, daß der Kummer vergehe,[496] so scheint mir dieser Gedanke ebenso trostlos zu sein, wie der andre, daß die Freude vergeht. Dein Denken zerstört da wieder diese Lebensanschauung, und wenn man den Kummer vernichtet hat, dann behält man ja die Freude. Statt des Kummers wählst Du eine Freude, die des Kummers Korrelat ist. Diese Freude hast Du nun erwählt, dieses Lachen der Verzweiflung. Wieder kehrst Du zum Leben zurück, das Dasein gewinnt in dieser Beleuchtung ein neues Interesse für Dich. Wie Du gern mit Kindern strichst, und zwar so, daß sie das, was Du sagst, herrlich und leicht und natürlich verstehen, während Deine Worte für Dich selber einen ganz andern Sinn haben, so macht's Dir Freude, die Menschen durch Dein Lachen zu betrügen. Und hast Du sie so weit gebracht, daß sie über Dich lachen und jubeln und vor Freude ganz außer sich sind, dann triumphierst Du über die Welt und sagst bei Dir selber: Ja, wenn Ihr wüßtet, weshalb ich lache!

Doch, der Geist läßt sich nicht spotten, und das Dunkel der Schwermut wird noch dichter um Dich her, und der Blitz eines wahnsinnigen Witzes zeigt es Dir selber noch stärker, noch schrecklicher. Und nichts zerstreut Dich, die Welt mit all ihrer Lust hat für Dich keine Bedeutung, und mißgönnst Du dem Einfältigen auch die thörichte Freude am Leben, Du jagst ihr nicht nach. Die Lust führt Dich nicht in Versuchung. Und wie traurig auch Dein Seelenzustand sein mag, in Wahrheit, ein Glück ist es, eine Gottesgabe, daß sie Dich nicht in Versuchung führt. Sticht preise ich Deinen Stolz, der sie verachtet, wohl aber die Gnade, die Deinen Geist festhält; denn führte Dich die Lust in Versuchung, so warst Du verloren. Das aber zeigt Dir auch den Weg, den Du gehen mußt: vorwärts, nicht zurück! Ich sehe einen andern Weg, ebenso falsch, ebenso gefährlich wie jenen ersten, und auch hier setze ich mein Vertrauen nicht auf Deinen Stolz, sondern auf die Gnade, die Dich beständig festhält. Wohl ist's wahr: Du bist stolz, und immerhin besser: stolz als eitel; wohl ist's wahr, es ist eine schreckliche Leidenschaft Deines Geistes, daß Du sie als eine Forderung betrachtest, die Du nicht fahren lassen willst. »Du willst Dich selber lieber als einen Kreditor der Welt ansehen, der nicht bezahlt ward, als die Forderung durchstreichen« – und doch ist aller menschlicher Stolz nur eine traurige Sicherheit.[497]

Siehst Du, mein junger Freund, dieses Leben ist Verzweiflung, verbirg es vor andern, vor Dir selbst kannst Du es nicht verbergen, es ist Verzweiflung. Und doch ist dieses Leben in anderm Sinn nicht Verzweiflung. Du bist zu leichtsinnig, um zu verzweifeln, und Du bist zu schwermütig, um mit der Verzweiflung nicht in Berührung zu kommen. Du bist wie eine Gebärende, und hältst doch beständig den Augenblick zurück und bleibst beständig in Wehen. Wenn ein Weib in ihrer Not auf die Idee käme, ob sie auch ein Ungeheuer gebären werde, oder bei sich selber überlegte, was sie wohl zur Welt bringen werde, dann hätte sie eine gewisse Ähnlichkeit mit Dir. Ihr Versuch, den Lauf der Natur zu unterbrechen oder aufzuheben, würde fruchtlos sein, aber der Deinige ist wohl möglich; denn das, wodurch ein Mensch in geistigem Sinn gebiert, ist der nisus formativus des Willens, und der steht in des Menschen eigner Macht. Was fürchtest Du da? Du sollst ja nicht einen andern Menschen, Du sollst nur Dich selber gebären. Und doch, ich weiß wohl, es liegt ein Ernst darin, ja ein Ernst, der die ganze Seele erschüttert; sich seiner ewigen Gültigkeit bewußt werden ist ein Augenblick, der bedeutungsvoller ist als alles andre im Himmel und auf Erden. Es ist, als würdest Du gefangen genommen und könntest niemals wieder frei werden, weder in der Zeit noch in der Ewigkeit; es ist, als verlörst Du Dich selber, als hörtest Du auf zu existieren; es ist, als reute es Dich im nächsten Augenblick, und doch ließ es sich nicht ändern. Es ist ein erster und bedeutungsvoller Augenblick, in dem man sich für eine Ewigkeit an eine ewige Macht bindet, wenn man sich selber als einen solchen erfaßt, dessen Gedächtnis keine Zeit auslöschen soll, wenn man in ewigem, untrüglichem Sinn seiner selbst bewußt wird und sich so sieht, wie man ist. Und doch, man kann es ja sein lassen. Sieh, hier liegt ein Entweder – Oder.

Laß mich mit Dir reden, wie ich niemals mit Dir reden würde, wenn es ein andrer Mensch hörte, denn gewissermaßen bin ich nicht dazu berechtigt und zunächst spreche ich ja auch nur von der Zukunft. Willst Du das nicht, soll Deine Seele sich auch ferner an faden Witzen ergötzen, nun, dann verlaß Deine Heimat, wandre aus, gehe nach Paris, opfre Dein Leben der Journalistik, buhle um das[498] Lächeln zärtlicher Frauen, kühle ihr heißes Blut mit Deinen Witzen, laß es die stolze Aufgabe Deines ganzen Lebens sein, einem Weibe ihre Langeweile zu vertreiben, oder einem schwachen Lüstling seine trüben Gedanken, vergiß Deine Kindheit, vergiß, daß Du einst fromm und unschuldig warst, übertäube jede höhere Stimme in Deiner Brust, verzehre Dein Leben in dem glänzenden Jammer der Soireen, vergiß es, daß auch in Dir ein unsterblicher Geist lebt, und wenn der letzte Witz über Deine Lippen gekommen ist, dann ist ja Wasser genug in der seine und Pulver bei jedem Kaufmann und Reisegesellschaft zu jeder Tagesstunde. Aber kannst Du das nicht, willst Du das nicht – ich weiß es, Du kannst, Du willst es nicht - , dann sammle Dich, unterdrücke jeden aufrührerichen Gedanken, der zum Hochverräter an Deinem bessern Wesen werden möchte, verachte all die jämmerlichen Menschen, die Dir Deine Geistesgaben nicht gönnen, weil sie sie selber haben möchten, um sie noch schlechter anzuwenden, verachte die heuchlerische Tugend, die unwillig des Lebens Lasten trägt und doch geehrt sein will, weil sie dieselben trägt; aber verachte darum das Leben nicht, achte jedes ehrliche Streben, jede bescheidene Arbeit, die sich demütig verbirgt, und vor allem, habe etwas mehr Ehrfurcht vor dem Weibe. Glaub's mir, es kommt doch von ihr das Heil, so gewiß das Verderben vom Manne kommt. Ich bin ein Ehemann und daher parteiisch, aber es ist meine tiefste Überzeugung: hat ein Weib den Mann ins Verderben gestürzt, sie hat's auch ehrlich wieder gutgemacht und thut es noch; denn von 100 Männern, die sich in der Welt verirren, werden 99 von Frauen gerettet, und einer durch unmittelbare göttliche Gnade. Und weil ich nun zugleich meine, daß es dem Manne eigen ist, sich auf die eine oder andre Weise zu verirren, daß es dagegen mit derselben Wahrheit vom Leben des Mannes gilt, wie von dem des Weibes, daß sie in dem reinen unschuldigen Frieden der Unmittelbarkeit verbleiben muß, so siehst Du wohl ein, daß nach meiner Ansicht das Weib den Schaden, den sie angerichtet, ganz und voll wieder ersetzt hat.

Was mußt Du denn nun thun? Ein andrer würde vielleicht sagen: Heirate, so wirst Du an andres denken müssen; ganz gewiß, aber es fragt sich, ob Dir damit gedient wäre, und wie Du auch[499] vom andern Geschlecht denken magst, Du denkst zu ritterlich von demselben, als daß Du aus jenem Grunde heiraten könntest. Oder man würde sagen: Bewirb Dich um ein Amt, stürz Dich ins arbeitsvolle Leben, das zerstreut, und Du wirst Deine Schwermut vergessen, arbeite, das ist das Beste. Vielleicht wird's Dir gelingen, dahin zu kommen, daß sie wie vergessen scheint; in Wirklichkeit ist sie nicht vergessen, in Momenten wird sie doch wieder hervorbrechen, schrecklicher denn je; sie wird dann vermögen, was sie bisher nicht vermochte: Dich überrumpeln. Und ferner: wie Du auch vom Leben und seiner Arbeit denkst, Du denkst doch zu ritterlich von Dir selber, als daß Du aus solchem Grunde einen Lebensberuf wählen könntest, denn das wäre doch auch wieder ein Betrug. Was ist denn da zu machen? Ich habe nur eine Antwort: verzweifle.

Ich bin ein Ehemann, meine Seele hängt fürwahr fest, unerschütterlich fest an meinem Weibe, an meinen Kindern, an einem Leben, dessen Schönheit ich immer preisen werde. Wenn ich nun sage: verzweifle, so ist's kein exaltierter Jüngling, der Dich in den Strudel der Leidenschaften hineinziehen will, kein spottender Dämon, der einem Schiffbrüchigen diesen Trost zuruft; aber ich rufe es Dir auch nicht als ein Wort des Trostes zu, auch nicht als einen Zustand, in welchem Du verbleiben sollst, sondern als eine That, zu welcher die ganze Kraft und der ganze Ernst einer Seele gehört, sowahr ich fest davon überzeugt bin, und das mein Sieg über die Welt ist, beiß jeder Mensch, der nicht die Bitterkeit der Verzweiflung schmeckte, doch immer seinen höchsten Zweck verfehlt hat, selbst wenn sein Leben noch so schön, noch so voller Freuden war. Du betrügst die Welt nicht, in der Du lebst, Du bist nicht für sie verloren, weil Du sie überwunden hast, sowohl ich mich dessen tröste, daß ich ein rechtschaffener Ehemann bin, obgleich auch ich einst verzweifelte.

Und wenn ich nun Dein Leben betrachte, dann preise ich Dich glücklich; denn es ist in der That äußerst wichtig, daß ein Mensch nicht im Augenblick der Verzweiflung eine falsche Anschauung vom Leben gewinnt; es ist das für ihn ebenso gefährlich wie für die Gebärende, wenn sie sich versieht. Wer an etwas Einzelnem verzweifelt, läuft Gefahr, daß seine Verzweiflung nicht wahr und tief wird, daß[500] es eine Täuschung, ein Schmerz über das Einzelne ist. So sollst Du nicht verzweifeln, denn nichts Einzelnes wird Dir geraubt, Du hast es noch alles. Irrt der Verzweifelnde sich, glaubt er, das Unglück liege in dem Mannigfachen außerhalb seines Ich, dann ist seine Verzweiflung nicht wahr, sie wird ihn dahin bringen, daß er die Welt haßt, nicht, daß er sie liebt; denn so wahr es auch sein mag, daß die Welt Dir lästig ist, weil – so scheint es – sie Dir etwas andres sein will als sie kann, ebenso wahr ist es auch, daß, wenn Du in der Verzweiflung Dich selber gefunden hast, Du sie lieben wirst, weil sie dann ist, wie sie ist. Führt eine Schuld, ein belastetes Gewissen einen Menschen zur Verzweiflung, dann wird er vielleicht nur schwer wieder zur Freude hindurchbringen. Wohlan denn, so verzweifle, verzweifle von ganzer Seele und aus allen Deinen Kräften; je länger Du damit wartest, um so schwerer wird es, und die Forderung bleibt dieselbe. Das rufe ich Dir zu, wie jenes Weib, die dem Tarquinius eine Rolle Papiere verkaufen wollte; als er die Summe nicht geben wollte, die sie forderte, verbrannte sie den dritten Teil derselben und forderte dieselbe Summe, und als er auch dann nicht die verlangte Summe zahlen wollte, verbrannte sie wieder einen Teil und forderte dieselbe Summe, bis er endlich die ursprünglich verlangte Summe für den Rest gab.

Deine Verzweiflung ist schön, und doch gibt es eine noch schönere. Denk Dir einen jungen Menschen, er ist begabt wie Du. Er liebt eine Jungfrau, liebt sie so innig wie sich selber. Laß ihn dann in einer stillen Stunde überlegen, worauf er sein Leben baut, und was der Grund ihres Lebens ist. Sie lieben einander, aber doch fühlt er's, daß Differenzen da sind. Sie hat den Zauber der Schönheit, doch das hat für ihn keinen Wert; sie hat den frohen Sinn der Jugend, doch die Freude hat keine rechte Bedeutung für ihn; aber er hat die Macht des Geistes, und er fühlt, was er in ihr vermag. Er wird sie in Wahrheit lieben, und es wird ihm daher nicht einfallen, ihr diese mitzuteilen, und ihre demütige Seele wird es auch nicht verlangen; und doch ist eine Differenz vorhanden, und er fühlt's, daß sie gehoben werden muß, wenn er sie in Wahrheit lieben soll. Da verzweifelt er! Nicht um seinet-, sondern um ihretwillen verzweifelt[501] er, und doch auch wieder um seinetwillen, denn er liebt sie ja wie sich selber. Siehe, da wird die Macht der Verzweiflung alles verzehren, bis er sich selber in seiner ewigen Gültigkeit findet; aber da hat er auch sie gefunden, und kein Ritter soll glücklicher und fröhlicher von seinen gefahrvollen Heldenthaten zurückkehren als er aus seinem Kampf wider Fleisch und Blut und die eitlen Differenzen der Endlichkeit; denn wer verzweifelt, findet den ewigen Menschen, und darinnen sind wir alle gleich. So thöricht wird er nicht sein, daß er seinen Geist abstumpft oder dessen Bildung versäumt, um also die Gleichheit herzustellen; er wird die Gaben des Geistes bewahren, aber er wird sich davon überzeugen, daß der, der sie hat, dem gleich ist, der sie nicht hat. Oder denke Dir ein tief-religiöses Gemüt, das sich aus wahrer, herzlicher Liebe zu dem Nächsten ins Meer der Verzweiflung stürzte, bis es das Absolute fände, den Punkt, da es gleichgültig ist, ob einer eine flache Stirn hat oder ob diese sich stolzer als der Himmel wölbt, den Punkt, der nicht die Indifferenz, sondern die absolute Gültigkeit ist.

Du hast verschiedene gute Ideen, viele schnurrige Einfälle, eine Menge Thorheiten, behalte alles, ich verlange es nicht, aber eine Idee bitte ich Dich festzuhalten, eine Idee, die mir sagt, daß mein Geist dem Deinigen verwandt ist. Du hast häufiger gesagt, Du wollest lieber alles andre sein als ein Dichter, da in der Regel eine Dichterexistenz ein Menschenopfer ist. Ich leugne nun keineswegs, daß es Dichter gegeben hat, die sich selber gewonnen hatten, ehe sie zu dichten anfingen, oder die sich selber fanden, indem sie dichteten; anderseits aber ist es auch gewiß, daß eine Dichterexistenz als solche in jenem Dunkel liegt, welches seinen Grund darin hat, daß eine Verzweiflung nicht durchgeführt wird, daß die Seele beständig in Verzweiflung zittert und der Geist seine wahre Verklärung nicht gewinnen kann. Das dichterische Ideal ist immer ein unwahres Ideal, denn das wahre Ideal ist immer das wirkliche. Darf der Geist sich nicht in die ewige Welt des Geistes aufschwingen, so bleibt er unterwegs, freut sich an den Bildern, die sich in den Wolken spiegeln, und weint bittere Thränen, weil sie so vergänglich sind. Eine Dichterexistenz ist daher als solche eine unglückliche Existenz;[502] sie ist höher als die Endlichkeit und ist doch nicht die Unendlichkeit. Der Dichter sieht die Ideale, aber er muß aus der Welt fliehen, um sich an ihnen zu erfreuen; er kann jene Götterbilder nicht mit sich tragen, er kann sie in der Verwirrung des Lebens nicht bewahren, kann nicht ruhig seinen Weg gehen, weil ihn immer und überall die Karikaturen des Ideals anfechten. Das Leben eines Dichters wird daher oft von solchen Menschen höchlich bedauert, die meinen, sie hätten das ihrige auf dem Trocknen, weil sie im Endlichen geblieben seien. In einem mißmutigen Augenblick äußertest Du einmal, es hätten gewiß schon manche Menschen im stillen mit Dir abgerechnet und sie wären bereit, unter folgender Bedingung zu quittieren: Du würdest als ein guter Kopf anerkannt, aber deshalb wärst Du auch zu Grunde gegangen, ohne ein nützliches Glied der Gesellschaft geworden zu sein. Ja, unzweifelhaft gibt es solch jammervoll niedrigen Sinn in der Welt, der so über alles siegen will, was nur einen Zoll breit über das andre hinausragt. Laß Dich das nicht quälen, trotze ihnen nicht, verachte sie nicht; hier sage ich auch, wie Du es so gern thust: Es ist wahrhaftig nicht der Mühe wert. Aber willst Du kein Dichter sein, dann weiß ich keinen andern Weg für Dich, als den ich Dir gezeigt habe: verzweifle!

So wähle die Verzweiflung, denn die Verzweiflung selber ist eine Wahl; man kann zweifeln, ohne es zu wählen, nicht aber verzweifeln. Und indem man verzweifelt, wählt man wieder; und was wählt man da? Man wählt sich selber, nicht in seiner Unmittelbarkeit, nicht als dieses zufällige Individuum, sondern man wählt sich selber in seiner ewigen Gültigkeit.

Diesen Punkt möchte ich mit Rücksicht auf Dich etwas näher zu beleuchten versuchen. In der neuem Philosophie ist es mehr denn genug in die Welt hineingeschrien worden, daß alle Spekulation mit dem Zweifel anfange; dagegen habe ich, sofern ich mich – wenn auch nur gelegentlich – mit solchen Fragen beschäftige, vergebens Auskunft gesucht, worin der Zweifel sich von der Verzweiflung unterscheidet. Ich will versuchen, diesen Unterschied in sein rechtes Licht zu stellen und hoffe, es wird das etwas zu Deiner Orientierung beitragen.

Eigentliche philosophische Tüchtigkeit traue ich mir keineswegs[503] zu, mir fehlt Deine Virtuosität, mit Kategorien zu spielen; aber was im tiefsten Sinn des Wortes die Bedeutung des Lebens ist, das muß doch wohl auch von einem einfältigeren Menschen begriffen werden können. Zweifel ist Verzweiflung des Gedankens, Verzweiflung ist Zweifel der Persönlichkeit; deshalb halte ich an dem Begriff des Wählens so fest. Das ist meine Losung, der Nerv meiner Lebensanschauung, und eine solche habe ich, wenn ich auch nicht so anmaßend bin, daß ich ein System zu haben glaube. Zweifel ist die innere Bewegung des Denkens, und in meinem Zweifel verhalte ich mich so unpersönlich wie möglich. Nun nehme ich an, daß das Denken dadurch, daß der Zweifel durchgeführt wird, das Absolute findet und in demselben zur Ruhe kommt, aber es findet seine Ruhe nicht zufolge einer Wahl, sondern zufolge derselben Notwendigkeit, wie der Zweifelnde; denn der Zweifel selbst ist eine Notwendigkeit, und das Zur-Ruhe-kommt gleicherweise. Das ist das Erhabene im Zweifel, weshalb er so oft von solchen angepriesen und angeschrien worden ist, die kaum verstanden, was sie sagten. Ist es aber eine Notwendigkeit, so wird dadurch offenbar, daß die ganze Persönlichkeit nicht an der Bewegung beteiligt ist. Es liegt daher etwas sehr Wahres darin, wenn ein Mensch sagt: Ich wollte gern glauben, aber ich kann nicht, ich muß zweifeln. Deshalb hat ein Zweifler auch nicht selten einen positiven Gehalt in sich selber, der ohne alle Kommunikation mit dem Denken lebt, und er kann ein sehr gewissenhafter Mensch sein, der keineswegs an der Gültigkeit der Pflicht zweifelt, keineswegs an einer Menge sympathischer Gefühle und Stimmungen zweifelt. Man sieht anderseits, besonders in unsrer Zeit, Menschen, die im tiefsten Herzen an allem verzweifeln, und die doch den Zweifel überwunden haben. Das ist mir besonders bei einzelnen deutschen Philosophen entgegengetreten. Das objektive logische Denken ist in seiner entsprechenden Objektivität zur Ruhe gekommen, und doch sind sie verzweifelt, ob sie sich auch durch das objektive Denken zerstreuen, denn ein Mensch kann sich auf sehr verschiedene Weise zerstreuen, und kaum gibt es ein so sicheres Betäubungsmittel als das abstrakte Denken, weil es da darauf ankommt, sich so unpersönlich wie möglich zu verhalten. Zweifel und Verzweiflung[504] gehören also ganz verschiedenen Sphären an, es sind verschiedene Seiten der Seele, die in Bewegung gesetzt werden.

Doch bin ich damit keineswegs zufrieden; denn es könnte nun ja scheinen, als wären Zweifel und Verzweiflung einander koordiniert; aber das ist nicht der Fall. Die Verzweiflung ist ein viel tieferer und vollständigerer Ausdruck, ihre Bewegung viel umfassender als die des Zweifels. Verzweiflung ist gerade ein Ausdruck für die ganze Persönlichkeit, der Zweifel nur für die Sphäre des Denkens. Die vermeintliche Objektivität, die der Zweifel hat, und die ihn so stolz macht, ist gerade ein Ausdruck seiner Unvollkommenheit. Der Zweifel liegt daher in der Differenz, die Verzweiflung im Absoluten. Zum Zweifeln gehört Talent, nicht aber zum Verzweifeln; aber das Talent ist als solches eine Differenz, und was, um sich selber zu behaupten, eine Differenz fordert, kann niemals das Absolute sein; denn das Absolute kann nur als das Absolute für das Absolute existieren. Der gewöhnlichste, unbegabteste Mensch kann verzweifeln; ein junges Mädchen, die nichts weniger als ein Denker ist, kann verzweifeln, wogegen jeder leicht einsieht, wie thöricht es wäre, wollte man von diesen beiden sagen, sie seien Zweifler. Der Grund, weshalb eines Menschen Zweifel beruhigt sein kann, während er selber doch verzweifeln kann, und das so hingehen mag, liegt darin, daß er nicht in tieferm Sinn die Verzweiflung sucht. Überhaupt kann man gar nicht verzweifeln, ohne daß man es will; um aber in Wahrheit zu verzweifeln, muß man es auch in Wahrheit wollen; aber wenn man es in Wahrheit will, so ist man auch schon wieder in Wahrheit über die Verzweiflung hinaus; wenn man in Wahrheit die Verzweiflung gewählt hat, so hat man in Wahrheit das gewählt, was die Verzweiflung wählt: sich selber in seiner ewigen Gültigkeit. Erst in der Verzweiflung ist die Persönlichkeit beruhigt, nicht mit Notwendigkeit, denn ich verzweifle niemals notwendig, sondern mit Freiheit, und erst darin ist das Absolute gewonnen. Und ich glaube, die Zeit ist nicht mehr sehr fern, da man es, vielleicht teuer genug, erfahren wird, daß man, um das Absolute zu finden, nicht vom Zweifel, sondern von der Verzweiflung ausgehen muß.

Doch ich kehre zu meiner Kategorie zurück, ich bin kein Logiker,[505] ich habe nur eine, aber ich versichere Dich, sie ist sowohl meines Herzens wie meines Geistes Wahl, meiner Seele Wonne und Seligkeit – ich kehre zur Bedeutung des Wählens zurück. Indem ich absolut wähle, wähle ich die Verzweiflung, und in der Verzweiflung wähle ich das Absolute, denn ich bin selber das Absolute – ich setze das Absolute und bin selber das Absolute; aber als ganz identisch damit muß ich sagen: Ich wähle das Absolute, und das Absolute wählt mich, ich setze das Absolute und das Absolute setzt mich; denn erinnere ich mich dessen nicht, daß dieser andre Ausdruck ebenso absolut ist, so ist meine Kategorie vom Wählen unwahr; denn sie ist gerade die Identität von jenen beiden. Was ich wähle, das setze ich nicht, denn wäre es nicht schon gesetzt, so könnte ich ja nicht wählen, und doch, setzte ich es nicht dadurch, daß ich es wählte, so wählte ich es nicht. Es existiert, denn sonst könnte ich es nicht wählen; es existiert nicht, denn es existiert erst dadurch, daß ich es wähle, sonst wäre meine Wahl eine Illusion.

Aber was wähle ich denn, ist's dieses oder jenes? Nein, denn ich wähle absolut, und absolut wähle ich ja gerade dadurch, daß ich nicht erwählt habe, dieses oder jenes zu wählen. Ich wähle das Absolute, und was ist das Absolute? Das ist mein eignes Selbst in seiner ewigen Gültigkeit. Etwas andres als mich selber kann ich niemals als das Absolute wählen, denn wähle ich etwas andres, so wähle ich es als eine Endlichkeit, und wähle es also nicht absolut. Selbst der Jude, der Gott wählte, wählte nicht absolut. Wohl wählte er das Absolute, aber er wählte es nicht absolut, und dadurch hörte es auf, das Absolute zu sein, und ward zu einer Endlichkeit.

Aber was ist denn dieses mein Selbst? Wollte ich von einem ersten Augenblick, einem ersten Ausdruck dafür reden, so wäre meine Antwort: Es ist das Abstrakteste von allem, und doch zugleich das Konkreteste von allem – es ist die Freiheit. Laß mich hier eine kleine psychologische Beobachtung machen. Man hört es sehr häufig, daß Menschen ihrer Unzufriedenheit in Klagen über das Leben Luft machen, man hört sie oft genug Wünsche aussprechen. Denk Dir nun einen solchen Stümper; laß uns über die Wünsche wegspringen, sie geben keine Auskunft, weil sie in dem ganz Zufälligen liegen.[506] Er wünscht: Ach, hätte ich jenes Menschen Geist, oder jenes Mannes Talent u.s.w., ja, um das Äußerste zu nennen: Ach, hätte ich jenes Menschen festen Charakter. Solche Wünsche hört man oft genug, aber hast Du jemals gehört, daß einer im Ernst den Wunsch gehabt hätte, er möchte ein andrer sein? Keineswegs, ja es ist gerade für die sogenannten unglücklichen Individualitäten charakteristisch, daß sie sich fest an sich selber klammern, daß sie trotz all ihrer Leiden doch um alles in der Welt nicht ein andrer zu sein wünschten; das hat seinen Grund nun aber darin, daß solche Individualitäten der Wahrheit sehr nahe sind, und sie fühlen die ewige Gültigkeit der Persönlichkeit, nicht in ihrem Segen, sondern in ihrer Qual, wenn sie auch den ganz abstrakten Ausdruck für die Freude in derselben zurückbehalten haben, daß sie doch am liebsten die bleiben wollen, die sie sind. Aber nun jener Mensch mit all seinen Wünschen, er meint doch beständig derselbe zu bleiben, auch wenn sich alles veränderte. Also es ist in ihm selber etwas, das im Verhältnis zu allem andern absolut ist, etwas, wodurch er der ist, der er ist, wenn auch die Veränderung, die er durch seine Wünsche zu erreichen hoffte, noch so groß würde. Daß er sich in einem Mißverständnis befindet, werde ich später nachweisen, hier will ich nur den abstrakten Ausdruck für dieses »Selbst« finden, das ihn zu dem macht, was er ist. Und dies ist nichts andres als die Freiheit. Wirklich ließe sich auf diesem Wege ein höchst plausibler Beweis für die ewige Gültigkeit der Persönlichkeit führen; ja sogar ein Selbstmörder will eigentlich nicht von diesem seinem Selbst geschieden werden, auch er wünscht, er wünscht eine andre Form seines Selbst, und es kann daher wohl einen Selbstmörder geben, der im höchsten Maße von der Unsterblichkeit der Seele überzeugt wäre, aber dessen ganzes Wesen so umnachtet wäre, daß er durch diesen Schritt die absolute Form für seinen Geist zu finden glaubte.

Doch der Grund, weshalb es einem Menschen vorkommen kann, als könnte er beständig verändert werden und doch derselbe bleiben, als wäre sein innerstes Wesen eine algebraische Größe, die bezeichnen könnte, was es sein sollte – der Grund liegt darin, daß jener Mensch sich nicht selber gewählt hat und nicht ahnt, was das bedeutet,[507] und doch liegt selbst in seinem Unverstand eine Anerkennung der ewigen Gültigkeit der Persönlichkeit. Dem aber, der anders steht, geht es auch anders. Er wählt sich selber, nicht in endlichem Sinn, denn dann würde ja dieses »Selbst« eine Endlichkeit, die in den andern Endlichkeiten verschwände, sondern in absolutem Sinn; und doch wählt er ja sich selbst und nicht einen andern. Dieses Selbst, das er dermaßen wählt, ist unendlich konkret, denn er ist es selber, und doch ist er von seinem frühern Selbst absolut verschieden, denn er hat es absolut gewählt. Dieses Selbst hat vorher nicht existiert, denn es ward erst durch die Wahl, und doch hat es existiert, denn es war ja »er selbst«.

Die Wahl macht hier auf einmal die beiden dialektischen Bewegungen; das, was gewählt wird, existiert nicht und findet in der Wahl seine Existenz – das, was gewählt wird, existiert, sonst wäre es ja keine Wahl. Wenn nämlich das, was ich wählte, nicht existierte, sondern durch die Wahl zum Absoluten würde, dann wählte ich nicht, sondern wäre der Schöpfer desselben; aber ich erschaffe mich nicht selber, ich wähle mich selber. Während daher die Natur aus nichts erschaffen ist, während ich selber als unmittelbare Persönlichkeit aus nichts erschaffen bin, bin ich als freier Geist aus dem Prinzip des Widerspruchs erschaffen, oder dadurch geboren, daß ich mich selber wählte.

Er entdeckt nun, daß das Selbst, das er wählt, eine unendliche Mannigfaltigkeit in sich hat, sofern es eine Geschichte hat, eine Geschichte, in welcher er sich anerkennt als die Identität mit sich selber. Diese Geschichte ist sehr verschiedener Art, denn in derselben steht er im Verhältnis zu andern Individuen des Geschlechts und zum ganzen Geschlecht, und diese Geschichte enthält etwas Schmerzliches, und doch ist er mir durch diese Geschichte der, der er ist. Es gehört also wohl Mut dazu, sich selber zu wählen; denn zur selben Zeit, da er sich – wie es scheint – am meisten isoliert, vertieft er sich mehr denn je in die Wurzel, durch welche er mit dem Ganzen zusammenhängt. Das ängstigt ihn, und doch muß es so sein; denn wenn die Leidenschaft der Freiheit in ihm erwacht ist – und dieselbe ist in der Wahl erwacht, wie sie sich gleicherweise in der Wahl selber[508] voraussetzt - , dann wählt er sich selber und kämpft um diesen Besitz wie um seine Seligkeit, und es ist auch seine Seligkeit. Nichts von dem allen kann er aufgeben, nicht das Schmerzlichste, nicht das Schwerste, und doch ist der Ausdruck für diesen Kampf, für dieses Gewinnen – die Reue. Durch seine Reue kehrt er zu sich selber zurück, zurück zur Familie, zurück zum Geschlecht, bis er sich selber in Gott findet. Nur unter dieser Bedingung kann er sich selber wählen, und das ist die einzige Bedingung, die er will, denn nur so kann er sich selber absolut wählen. –

Was ist doch ein Mensch ohne Liebe? Aber es gibt mancherlei Liebe; ich liebe einen Vater anders als eine Mutter, wieder anders mein Weib, und jede besondere Liebe hat ihren besondern Ausdruck; aber es gibt auch eine Liebe, in der ich Gott liebe, und diese hat in der Sprache nur einen Ausdruck: die Reue. Wenn ich ihn nicht so liebe, dann liebe ich ihn nicht absolut, nicht von ganzem Herzen und aus allen meinen Kräften; jede andre Liebe zum Absoluten ist ein Mißverständnis, denn um anzuführen, was man sonst so hoch preist, und was ich auch selber sehr schätze, wenn der Geist mit seiner ganzen Liebe fest am Absoluten hängt, dann ist es nicht das Absolute, was ich liebe, ich liebe nicht absolut, denn ich liebe notwendig; sobald ich frei liebe und Gott liebe, hat die Reue mich erfaßt. Und gäbe es keinen andern Grund dafür, daß der Ausdruck meiner Liebe zu Gott die Reue wäre, es wäre der, daß er mich zuerst geliebt hat. Und doch ist das eine unvollkommene Bezeichnung, denn nur wenn ich mich selber als schuldig ansehe, wähle ich mich selber absolut, falls ich überhaupt mich selber absolut so wählen soll, daß es nicht mit dem Begriffe: sich selber schaffen identisch wird; und wäre es des Vaters Sünde, die sich an dem Sohne heimsuchte, er nähme sie in seine Reue auf, denn nur so kann er sich selber wählen, nur so sich absolut wählen; und wollten die Thränen ihm alles fast verwischen, er bleibt seiner Reue treu, denn nur so wählt er sich selber. Sein Selbst ist gewissermaßen außerhalb seines Ich, und es soll erworben werden, und die Reue ist seine Liebe dazu, weil er es absolut wählt, aus des ewigen Gottes Hand.

Was ich hier gejagt habe, ist keine Kathederweisheit, es ist etwas,[509] was jeder Mensch sagen kann, wenn er will, und was jeder Mensch wollen kann, wenn er will. Ich habe es nicht in den Hörsälen der Universitäten gelernt, sondern im Wohnzimmer meines Hauses, oder wenn Du willst, in der Kinderstube; denn wenn ich es sehe, wie mein kleiner Sohn so froh, so glücklich spielt, dann denke ich: Wer weiß, ob ich nicht doch auch einen sehr schädlichen Einfluß auf ihn ausgeübt habe. Gott weiß es, ich hüte ihn, so gut ich kann, aber dieser Gedanke beunruhigt mich nicht. Ich sage mir selber, es wird in seinem Leben ein Augenblick kommen, da auch sein Geist im Augenblick der Wahl heranreifen wird, da wird auch er sich selber wählen, da wird auch er in seine Reue die Schuld aufnehmen, die ich auf sein Haupt geladen habe. Und es ist schön, daß ein Sohn über die Schuld seines Vaters leidträgt, aber doch wird er es nicht um meinetwillen thun, sondern weil er nur so sich selber wählen kann. Mag geschehen, was geschehen soll, oft kann das, was man für das Beste ansieht, schädliche Folgen für einen Menschen haben, aber das alles ist doch nichts. Ich kann ihm manchmal und auf mancherlei Weise helfen, und ihn auf den rechten Weg führen, und ich will thun, was ich kann; aber zum Höchsten kann nur er selber sich machen. Sieh, deshalb wird es den Menschen so sauer, sich selber zu wählen, weil hier die absolute Isolation mit der tiefsten Kontinuität identisch ist, weil man, solange man sich noch nicht selber gewählt hat, immer noch etwas andres werden kann, entweder auf diese oder auf jene Weise.

Sieh, hier hast Du meine bescheidene Meinung von dem, was die Wahl und die Reue eines Menschen bedeutet. Es ist nicht wohlanständig, wenn einer ein junges Mädchen liebt, als wäre sie seine Mutter, oder seine Mutter, als wäre sie ein junges Mädchen, jede Liebe hat ihre Eigentümlichkeit; auch die Liebe zu Gott hat ihre absolute Eigentümlichkeit, und der Ausdruck für dieselbe ist die Reue. Und was ist doch alle andre Liebe, wenn man sie mit dieser vergleicht, was anders als – Kinderlallen? Ich bin kein leicht erregter, schnell aufbrausender junger Mann, der seine Theorien immer und überall anzubringen sucht, ich bin ein Ehemann, ich darf es meine Frau schon hören lassen, wenn ich sage, daß alle andre Liebe, wenn ich sie mit der Reue vergleiche, nur Kinderlallen ist; und doch weiß[510] ich's, ich bin ein braver Ehemann, »ich, der ich noch als Ehemann unter dem siegreichen Banner der ersten Liebe kämpfe;« ich weiß es, sie teilt meine Anschauung, und darum liebe ich sie noch um so inniger, und möchte nicht von jenem jungen Mädchen geliebt werden, weil sie nicht diese Anschauung teilte.

Ja, wieder zeigen sich neue und gefährliche Abwege, und ich weiß es wohl, wer auf der Erde kriecht, fällt nicht so leicht, als wer die Spitzen der Berge erklimmt; wer hinter dem Ofen sitzen bleibt, verirrt sich nicht so leicht, als wer sich in die Welt hinauswagt, aber dennoch bleibe ich kühn und zuversichtlich bei meiner Wahl.

Von dieser Behauptung aus wird ein Theologe auf mancherlei Betrachtungen kommen; aber ich kann mich nun nicht weiter auf dieselben einlassen, da ich nur ein Laie bin. Nur füge ich noch eins hinzu: erst im Christentum hat die Reue ihren wahren Ausdruck gefunden. Der fromme Jude fühlte es, daß der Fluch seiner Väter auf ihm ruhe, und doch fühlte er es lange nicht so tief wie der Christ, denn jener konnte sich selber noch nicht absolut wählen. Die Sünden der Väter lagen schwer auf ihm, er brach unter dieser Last zusammen, er seufzte, aber er konnte die Last nicht aufheben; das kann nur der, der sich selber absolut wählt, mit Hilfe der Reue. Je größere Freiheit, desto größere Schuld, und das ist das Geheimnis der Seligkeit; und ist's nicht gerade feige, so ist's doch kleinmütig, wenn man nicht die Sünden der Väter in seine Reue aufnehmen will; ich will's nicht gerade jämmerlich nennen, aber doch ist's kleinlich und verrät Mangel an Hochherzigkeit.

Die Wahl der Verzweiflung ist also »das eigne Ich«; denn wohl ist es wahr: wenn ich verzweifle, so verzweifle ich wie an allem andern, so auch an mir selbst; aber das Ich, an dem ich verzweifle, ist eine Endlichkeit, wie jede andre Endlichkeit; das Ich, das ich wähle, ist das absolute Ich, oder das eigne Ich nach seiner absoluten Gültigkeit. Wenn sich das aber so verhält, so wirst Du wieder einsehen, weshalb ich im vorhergehenden sagte und es auch noch immer sage, daß das Entweder – Oder, welches ich zwischen dem ästhetischen und dem ethischen Leben setze, kein vollständiges Dilemma ist, weil da eigentlich nur von einer Wahl die Rede ist. Bei dieser Wahl[511] wähle ich eigentlich nicht zwischen Gut und Böse, sondern ich wähle das Gute; aber indem ich das Gute wähle, wähle ich eo ipso die Wahl zwischen Gut und Böse. Die ursprüngliche Wahl ist stets in jeder folgenden Wohl enthalten.

So verzweifle denn, und Dein Leichtsinn wird Dich niemals wieder verleiten, als ein unsteter Geist umherzuwandeln, als ein nächtlicher Geist zwischen den Ruinen einer Welt, die doch für Dich verloren ist; verzweifle, und Dein Geist wird niemals mehr in Schwermut seufzen, denn die Welt wird Dir wieder schön und ergötzlich werden, wenn Du sie auch mit andern Augen ansiehst wie zuvor, und erlöst, befreit wird Dein Geist sich aufschwingen in die Welt der Freiheit.

Hier könnte ich abbrechen; denn ich habe Dich nun dahin gebracht, wo ich Dich haben wollte; Du bist da nämlich, wenn Du es selber willst. Ich wollte, daß Du Dich losrissest von den Illusionen der Ästhetik, und aus den Träumen einer halben Verzweiflung, um für den Ernst des Geistes zu erwachen. Das ist indessen keineswegs mein höchstes Ziel, denn ich will Dir nur von diesem Gesichtspunkt eine andre Betrachtung des Lebens, eine ethische Lebensanschauung geben. Nur Mäßiges kann ich Dir bieten, teils weil meine Gabe in keinem Verhältnis zur Aufgabe steht, teils weil das Mäßige eine hauptsächliche Eigenschaft alles Ethischen ist, eine Eigenschaft, die dem, der von dem Überfluß der Ästhetik herkommt, wohl auffallen mag. Aber hier gilt's: nil ad ostentationem, omnia ad conscientiam. Und jetzt abbrechen könnte auch aus einem andern Grunde bedenklich erscheinen, da es leicht aussehen könnte, als käme ich schließlich doch nur zu einem gewissen Quietismus, in welchem die Persönlichkeit mit derselben Notwendigkeit ausruht, wie der Gedanke im Absoluten. Was hülfe es denn, ob man auch sich selber gewonnen hätte, was hülfe es, wenn einem ein Schwert gegeben wäre, mit dem man die Welt überwinden könnte, wenn man es nicht zu schwingen wüßte?

Ehe ich jedoch weitergehe und eine solche ethische Betrachtung des Lebens gebe, will ich mit einigen wenigen Worten die Gefahr andeuten, die für einen Menschen im Augenblick der Verzweiflung liegt, will ich den Felsen nennen, an dem das Schiff seines Lebens[512] scheitern und ganz zu Grunde gehen kann. Die Schrift sagt: Was hülfe es dem Menschen, so er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele? Den Gegensatz spricht die Schrift nicht aus, aber er liegt ja in dem Satz selber. Der Gegensatz würde heißen: Was schadete es dem Menschen, wenn er die ganze Welt verlöre und nähme doch keinen Schaden an seiner Seele? Es gibt Ausdrücke, die an sich sehr einfach zu sein scheinen und doch die Seele mit wunderbarer Angst erfüllen, weil sie um so dunkler werden, je mehr man über sie nachdenkt. Im Religiösen ist das Wort: Sünde wider den Heiligen Geist ein solcher Ausdruck. Ich weiß nicht, ob es den Theologen gelungen ist, das Wort so zu erklären, daß man wirklich erfährt, was es bedeutet; ich kann's nicht, aber ich bin ja auch kein Theologe. Aber der Ausdruck »schaden nehmen an seiner Seele« ist ein ethischer Ausdruck, und wer eine ethische Lebensanschauung zu haben meint, muß auch meinen, es erklären zu können. Das Wort wird oft gebraucht, und doch muß der, der es verstehen will, tiefe Bewegungen seiner Seele erlebt haben, ja er muß verzweifelt haben; denn es sind uns hier recht eigentlich die Bewegungen der Verzweiflung geschildert: auf der einen Seite die ganze Welt, auf der andern die eigne Seele. Du wirst leicht einsehen, daß man, wenn man diesen Ausdruck verfolgt, zu derselben abstrakten Bestimmung der »Seele« kommt, wie wir zuvor bei der psychologischen Untersuchung über das »Wünschen, ohne doch ein andrer zu werden« zu der Begriffsbestimmung des Wortes »das eigne Ich« kamen. Wenn ich nämlich die ganze Welt gewinnen und doch Schaden nehmen kann an meiner Seele, so müssen in dem Ausdruck »die ganze Welt« auch all die Endlichkeiten liegen, die ich unmittelbar als solche besitze. Meine Seele zeigt sich da indifferent gegen dieselben. Wenn ich die ganze Welt verlieren kann, ohne Schaden an meiner Seele zu nehmen, so liegen in dem Ausdruck »ganze Welt« wieder all die Bestimmungen der Endlichkeit, die ich unmittelbar als solche habe, und doch hat meine Seele keinen Schaden gelitten, sie ist also indifferent dagegen. Ich kann meinen Reichtum verlieren, in den Augen andrer meine Ehre, meine Geisteskraft, und doch keinen Schaden nehmen an meiner Seele; ich kann das alles gewinnen und doch Schaden nehmen. Was[513] ist denn meine Seele? was ist dieses mein innerstes Wesen, das bei diesem Verlust unangefochten bleiben und bei diesem Gewinn leiden kann? Dem Verzweifelten zeigt sich diese Bewegung; es ist kein rhetorischer Ausdruck, sondern der einzig adäquate, wenn ein solcher Mensch auf der einen Seite die ganze Welt sieht, und auf der andern sich selber, seine Seele. Im Augenblick der Verzweiflung zeigt sich die Scheidung, und nun gilt's, wie er verzweifelt; denn es ist, wie ich schon zuvor bei der Darstellung der ästhetischen Lebensanschauungen entwickelt habe, es ist Verzweiflung, wenn man die ganze Welt gewinnen will, auch auf die Gefahr hin, daß man Schaden nimmt an seiner Seele, und doch ist's meine tiefste Überzeugung, daß ein Mensch verzweifeln muß, ehe er zu seinem wahren Heil kommen kann. Hier zeigt sich wieder die Bedeutung von dem »verzweifeln wollen«, es in unendlichem, in absolutem Sinn wollen, denn ein solches Wollen ist mit der absoluten Hingebung identisch. Will ich dagegen in endlichem Sinn verzweifeln, so nehme ich Schaden an meiner Seele, denn da kommt mein innerstes Wesen nicht zum Durchbruch in der Verzweiflung, im Gegenteil, es verschließt sich in derselben.

Wenn ich in meiner Verzweiflung die ganze Welt gewinne, so nehme ich Schaden an meiner Seele, und zwar dadurch, daß ich mich selber endlich mache, weil ich mein Leben darin habe; und wenn ich verzweifle, weil ich die ganze Welt verliere, so nehme ich auch Schaden an meiner Seele, denn ich mache sie in derselben Weise ganz endlich, da ich hier wieder meine Seele als durch die Endlichkeit bestimmt sehe. Daß ein Mensch durch Verbrechen die ganze Welt gewinnen und doch Schaden nehmen kann an seiner Seele, versteht sich von selber, aber es gibt eine scheinbar viel unschuldigere Manier, in welcher es auch geschehen kann. Deshalb sagte ich von jenem jungen Mädchen, sie sei verzweifelt, ob der Geliebte sie nun nähme oder nicht. Jede endliche Verzweiflung ist ein Wählen her Endlichkeit, denn ich wähle sie, ob ich sie nun gewinne oder verliere; dieses letztere steht nicht in meiner Macht, wohl aber das erstere, das Wählen. Die endliche Verzweiflung ist daher eine unfreie Verzweiflung, sie will eigentlich nicht die Verzweiflung, sondern die Endlichkeit, aber das ist Verzweiflung.[514] Auf diesem Punkt nun kann ein Mensch sich halten, und solange er sich da hält, darf ich eigentlich noch nicht von ihm sagen, daß er Schaden genommen hat an seiner Seele. Er steht auf einem sehr gefährlichen Punkt, denn es ist jeden Augenblick möglich. Die Verzweiflung ist da, aber sie hat noch nicht sein innerstes Wesen angegriffen; erst wenn er sich in endlichem Sinn in ihr verhärtet, hat er Schaden an seiner Seele genommen. Seine Seele ist in Verzweiflung wie umnachtet, und erst wenn er, erwachend, einen endlichen Ausweg seiner Verzweiflung wählt, hat er Schaden genommen an seiner Seele, da hat er sich verschlossen, seine vernünftige Seele ist wie erstorben und er ist in ein wildes, reißendes Tier verwandelt, das sich vor nichts scheut. ES liegt eine entsetzliche Angst in diesem Gedanken, daß ein Mensch an seiner Seele Schaden genommen hat, und doch wird jeder, der schon verzweifelt, den Abgrund dieses Verderbens ahnen.

Daß ein Mensch so Schaden nehmen kann an seiner Seele, ist gewiß; wie weit es bei dem Einzelnen der Fall ist, läßt sich niemals entscheiden, und kein Mensch vermesse sich hier, den andern zu verdammen! Eines Menschen Leben kann seltsam aussehen, und man kann wohl zu dem Glauben versucht werden, daß einer Schaden genommen habe an seiner Seele, und doch kann er selber das Wort ganz anders deuten und zu einem ganz andern Urteil über sich selber kommen; anderseits kann ein Mensch Schaden an seiner Seele genommen haben, ohne daß ein andrer es ahnt, denn dieser Schaden ist nicht äußerlich sichtbar, er liegt im innersten, verborgensten Wesen des Menschen, wie das Herz einer Frucht verfault sein kann, während sie äußerlich noch lieblich anzusehen ist.

Indem Du Dich nun selber absolut wählst, entdeckst Du leicht, daß dieses Selbst keine Abstraktion oder Tautologie ist; als solche kann es sich höchstens im Augenblick der Orientierung zeigen, wo man scheidet, bis man den abstraktesten Ausdruck für dieses Selbst findet, und sogar da ist's eine Illusion, wenn man meint, daß es ganz abstrakt und inhaltsleer ist, denn es besteht ja doch nicht in dem Bewußtsein der Freiheit im allgemeinen – das wäre freilich nur ein Produkt des Gedankens; sondern es ist durch eine Wahl entstanden[515] und ist das Bewußtsein dieses bestimmten freien Wesens, das in sich selber und nicht in einem andern da ist. Dieses Selbst hat eine reiche Konkretion in sich, eine Mannigfaltigkeit von Eigenschaften, kurz, es ist das ganze ästhetische Selbst, das ethisch gewählt ist. Je mehr Du Dich daher in Dich selber vertiefst, um so mehr wirst Du auch die Bedeutung selbst des Unbedeutenden fühlen, nicht im endlichen, sondern im unendlichen Sinn, weil es durch Dich bestimmt ist, und wählt man also im ethischen Sinn sich selber, so heißt das nicht nur, daß man sich auf sich selber besinnt, sondern man könnte, um diesen Akt zu bezeichnen, an den Ausspruch der Schrift erinnern, nach welchem wir werden Rechenschaft ablegen von jedem unnützen Wort, das wir geredet haben. Wenn nämlich die Leidenschaft der Freiheit erwacht ist, dann ist sie eifersüchtig auf sich selber und will es keineswegs unbestimmt lassen, was einem gehört und was nicht. Im ersten Augenblick der Wahl geht die Persönlichkeit daher scheinbar ebenso nackend wie das Kind aus dem Mutterleibe hervor, im nächsten Augenblick ist sie konkret in sich selber, und nur bei einer willkürlichen Abstraktion ist es möglich, daß ein Mensch auf diesem Punkte bleibt. Er bleibt derselbe, ganz derselbe, der er zuvor war, bis auf die unbedeutendste Eigentümlichkeit, und doch wird er ein andrer, denn die Wahl durchdringt alles und verwandelt alles. So ist nun seine endliche Persönlichkeit durch die Wahl, in welcher er sich selber unendlich wählt, auch selber unendlich geworden.

Nun besitzt er sich selber, als durch sich selber bestimmt, will sagen, als von sich selber gewählt, als frei; aber indem er so sich selber besitzt, zeigt sich eine absolute Differenz, die Differenz zwischen Gut und Böse. Solange er sich noch nicht selber gewählt hat, ist diese Differenz latent. Wie tritt die Differenz zwischen Gut und Böse überhaupt ans Licht? Läßt sie sich denken, das heißt, existiert sie für den Gedanken? Nein. Damit bin ich wieder zu dem Punkt gekommen, vor welchem ich schon im vorhergehenden stand, weshalb es den Schein haben konnte, als ob die Philosophie in Wirklichkeit das Prinzip des Widerspruchs gehoben habe, was doch nur darin liegt, daß sie noch nicht bei demselben angekommen ist. Sobald ich denke, verhalte ich mich dem gegenüber, was ich denke, notwendig, aber eben darum existiert[516] die Differenz zwischen Gut und Böse nicht. Denk, was Du willst, denke Dir die abstrakteste aller Kategorien, denke Dir die konkreteste, Du denkst niemals unter der Bestimmung von Gut und Böse; denke Dir die ganze Geschichte, Du denkst Dir die notwendige Bewegung der Idee, aber Du denkst niemals unter der Bestimmung von Gut und Böse. Du denkst Dir stets relative Differenzen, niemals die absolute Differenz. Man kann der Philosophie daher gern darin recht geben, daß sie sich keinen absoluten Widerspruch denken kann, aber daraus folgt noch keineswegs, daß derselbe nicht existiert. Indem ich denke, mache ich auch mich selber unendlich, aber nicht absolut, denn ich verschwinde in dem Absoluten; erst indem ich mich selber absolut wähle, mache ich mich selber absolut unendlich; denn ich bin selber das Absolute, denn nur mich selber kann ich absolut wählen, und diese absolute Wahl meiner selbst ist meine Freiheit, und nur indem ich mich selber absolut wählte, setzte ich eine absolute Differenz, nämlich die Differenz zwischen Gut und Böse.

Um im Denken das Moment der Selbstbestimmung hervorzuheben, sagt die Philosophie: Das Absolute existiert dadurch, daß ich es denke; aber da sie es selber einsieht, daß damit das freie, nicht das notwendige Denken bezeichnet wird, so substituiert sie einen andern Ausdruck, nämlich den, daß mein Denken des Absoluten das Sichdenken des Absoluten in mir ist. Dieser Ausdruck ist mit dem vorhergehenden keineswegs identisch, dagegen ist er sehr bezeichnend. Mein Denken ist nämlich ein Moment des Absoluten, und darin liegt die Notwendigkeit meines Denkens, darin liegt die Notwendigkeit, mit welcher ich es denke. Anders verhält es sich mit dem Guten. Das Gute existiert dadurch, daß ich es will, sonst existiert es überhaupt nicht. Das ist der Ausdruck der Freiheit; glücklicherweise verhält es sich so auch mit dem Bösen, es existiert nur, wenn ich es will. Damit sind die Bestimmungen von Gut und Böse keineswegs zu nur subjektiven Bestimmungen herabgesetzt. Vielmehr ist die absolute Gültigkeit dieser Bestimmungen ausgesprochen. Das Gute ist das An-und-für-sich-seiende, von dem An-und-für-sich-selber-seienden gesetzt, und das ist Freiheit.

ES könnte bedenklich scheinen, daß ich den Ausdruck gebrauchte,[517] sich selber absolut wählen; denn darin könnte zu liegen scheinen, daß ich sowohl das Gute wie das Böse gleich absolut wählte, und daß sowohl das Gute wie das Böse mir gleich wesentlich gehörte. Um diesem Mißverständnis entgegenzutreten, sprach ich von der Reue, die nämlich ein Ausdruck dafür ist, daß das Böse mir wesentlich angehört, und zugleich ein Ausdruck dafür, daß es mir nicht wesentlich angehört. Gehörte es mir nicht wesentlich an, so könnte ich es nicht wählen; aber wäre etwas in mir, was ich nicht absolut wählen könnte, so wählte ich mich selber überhaupt nicht absolut, so wäre ich nicht selber das Absolute, sondern nur Produkt.

Hier will ich nun diese Untersuchung abbrechen, um nachzuweisen, wie eine ethische Lebensanschauung die Persönlichkeit und das Leben betrachtet, und welchen Wert sie sowohl dem letztern wie der erstern zuerkennt. Um der Ordnung willen kehre ich zu einigen Bemerkungen zurück, die ich früher über das Verhältnis zwischen dem Ästhetischen und dem Ethischen machte. Jede ästhetische Lebensanschauung – wurde gesagt – ist Verzweiflung; das kam daher, weil sie sich auf das gründete, was existieren und nicht existieren kann. Dies ist bei der ethischen Lebensanschauung nicht der Fall; denn sie gründet das Leben auf dasjenige, was ihm wesentlich angehört. Das Ästhetische – sagte ich – ist im Menschen das, wodurch er unmittelbar ist, was er ist; das Ethische aber das, wodurch ein Mensch wird, was er wird. Damit soll nun keineswegs gesagt sein, daß derjenige, der ästhetisch lebt, sich nicht entwickelt; er entwickelt sich nur mit Notwendigkeit, nicht mit Freiheit, es geht keine Metamorphose mit ihm vor, keine unendliche Bewegung in ihm, durch welche er zu dem Punkt hinkommt, von wo aus er wird, was er wird.

Wenn ein Individuum sich selber ästhetisch betrachtet, so wird es sich dieses Selbstbewußt als einer vielfach in sich selber bestimmten mannigfaltigen Konkretion; aber trotz all der innern Verschiedenheit ist doch das alles sein Wesen, hat gleiches Recht zu seiner Entwickelung, gleiches Recht zur Befriedigung seiner tiefsten Sehnsucht. Seine Seele ist wie ein Acker, auf welchem allerlei Kräuter wachsen, die alle Wachstum und Gedeihen haben wollen, sein Selbst liegt in dieser Mannigfaltigkeit, und er hat kein Selbst, das höher als dieses[518] wäre. Hat er nun, wovon Du so oft sprichst, ästhetischen Ernst und etwas Lebensklugheit, so wird er bald merken, daß das alles unmöglich gleiches Gedeihen haben kann, er wird also wählen, und was ihn bestimmt, ist ein Mehr oder Weniger, eine relative Differenz. Ließe es sich nun denken, daß ein Mensch leben könnte, ohne mit dem Ethischen in Berührung zu kommen, so würde er sagen können: Ich habe Anlage, ein Don Juan, ein Faust, ein Seeräuber zu werden; diese Anlage bilde ich nun aus, denn der ästhetische Ernst fordert es, daß ich etwas Bestimmtes werde, daß ich das, was als Keim in meine Seele gelegt ist, sich in seiner Totalität entwickeln lasse. Eine solche Betrachtung der Persönlichkeit und ihrer Entwickelung würde ästhetisch vollkommen richtig sein. Du siehst daher, was eine ästhetische Entwickelung bedeutet, es ist die Entwickelung einer Pflanze; so bleibt auch das Individuum immer dasselbe und wird nichts andres als was es unmittelbar ist. Wer aber die Persönlichkeit ethisch betrachtet, hat gleich eine absolute Differenz, die Differenz zwischen Gut und Böse; und ist in ihm auch des Bösen mehr als des Guten, so heißt das doch nicht, daß das Böse sich mehr und mehr entwickeln soll, sondern vielmehr, daß das Böse zurückgedrängt werden und das Gute ans Licht kommen muß. Wenn ein Mensch sich dann ethisch entwickelt, dann wird er das, was er wird; denn auch dann, wenn er dem Ästhetischen sein Recht läßt – nur dürfen wir nicht vergessen, daß für ihn das Ästhetische etwas andres ist, als für den, der nur ästhetisch lebt – so ist dasselbe doch dethronisiert. Selbst der ästhetische Ernst ist wie aller Ernst einem Menschen heilsam, aber das kann ihn niemals ganz und voll retten. So glaube ich, ist es gewissermaßen auch mit Dir gewesen; denn hat das Ideal Dir immer geschadet, weil Du Dich an demselben blind gesehen hast, so ist es Dir auch wieder heilsam gewesen, sofern das Ideal des Schlechten abschreckend auf Dich gewirkt hat. Heilen kann Dich natürlich der ästhetische Ernst nicht, denn Du kommst doch niemals weiter als daß Du das Schlechte existieren läßt, weil auch dieses nicht ideal durchgeführt werden kann; aber Du läßt es nicht existieren, weil es das Schlechte ist, oder weil Du es verabscheust. Du bist nicht weiter gekommen als zu dem Gefühl, daß Du ebenso ohnmächtig zum Guten wie[519] zum Bösen ist. Übrigens wirkt das Böse vielleicht niemals verführerischer, als wenn es unter ästhetischen Bestimmungen auftritt; es gehört ein hoher Grad ethischen Ernstes dazu, daß man das Böse niemals unter die ästhetischen Kategorien aufnehmen will. Eine solche Betrachtung schleicht sich hinterlistig bei jedem Menschen ein, und die überwiegend ästhetische Bildung unsrer Zeit trägt nicht wenig dazu bei. Man hört daher nicht selten sogar Tugendhelden in einer Weise gegen das Böse eifern, daß man es dem Redner ansieht, wie er, das Gute preisend, die Befriedigung genießt, er könnte sehr gut selbst der ränkevollste, verschlagenste Mensch sein, aber er verschmähe das, da er doch lieber ein guter Mensch sein wolle. Jedoch verrät das eine geheime Schwachheit, die es bezeugt, daß die Differenz zwischen Gut und Böse nicht deutlich genug, nicht in ihrem ganzen Ernst vor ihm steht. Aber so viel des Guten ist doch in jedem Menschen zurückgeblieben, daß er es fühlt, es sei der höchste Ruhm, ein guter Mensch zu sein; um aber doch eine kleine Distinktion vor dem Haufen der Menschen zu haben, fordert er hohe Anerkennung, weil er trotz vieler Talente ein böser Mensch zu werden, doch gut blieb. Recht als wären die vielen Talente, schlecht zu werden, noch ein besondrer Vorzug, und recht als ob er nicht deutlich genug zeigte, daß er im Grunde in diese Talente verliebt sei. So findet man auch häufig Menschen, die wirklich im tiefsten Herzen recht gute, brave Menschen sind, aber nicht den Mut haben, sich als solche vor aller Welt zu bekennen, da es dann ja scheinen könnte, als ob sie dadurch unter allzu triviale Bestimmungen fielen. Solche Menschen erkennen auch das Gute als das Höchste an, haben aber nicht den Mut, das Böse als das anzuerkennen, was es ist. Auch hört man oft die Bemerkung: das war ein trauriges Ende der Geschichte. Man kann in der Regel sicher sein, daß das, was so begrüßt und annonciert wird, das Ethische ist. Ist ein Mensch andern ein Rätsel geworden – einerlei wie – und es kommt dann die Lösung des Rätsels, und es zeigt sich, daß jener Mensch kein listiger und schlauer Betrüger gewesen war, wie die Menge gehofft hatte, sondern ein gutmütiger und braver Mensch, dann heißt's: War das die ganze Geschichte? Ja, es gehört in Wahrheit viel ethischer Mut dazu, sich zum Guten als zum Höchsten zu[520] bekennen, weil man dadurch unter ganz allgemeine Bestimmungen fällt. Das wollen die Menschen so ungern, ihre Freude ist ein Leben in Differenzen. Ein guter Mensch kann jeder sein, der es will, um aber böse zu sein, muß man Talent haben. Deshalb wollen viele für ihr Leben gern Philosophen sein, aber keine Christen, denn ein Philosoph muß Talent haben, ein Christ braucht nur Demut, und die kann jeder haben, der es will! Was ich hier sage, kannst Du Dir auch zu Herzen nehmen, denn in Deinem innersten Wesen bist Du kein Böser Mensch. Werde nur nicht Böse, ich habe nicht die Absicht, Dich zu beleidigen, Du weißt, daß ich aus der Not eine Tugend machen mußte, und weil ich Deine Gaben nicht habe, muß ich den guten Menschen etwas herausstreichen.

Auch in andrer Weise hat man zu unsrer Zeit die ethische Betrachtung abzuschwächen versucht. Während man nämlich der Ansicht ist, daß ein guter Mensch sein ein sehr armseliger Lebensberuf ist, so hat man doch noch eine gewisse Ehrfurcht vor demselben, aber – man mag es nicht gern, wenn er geltend gemacht wird. Keineswegs meine ich, daß ein Mensch seine Tugend zur Schau tragen und es bei jeder Gelegenheit zeigen solle, daß er ein guter Mensch sei, anderseits aber soll er es doch auch nicht verheimlichen oder sich fürchten, es offen und ehrlich auszusprechen, daß er sich in allem von ethischen Grundsätzen leiten lassen wolle. Thut er es, dann fällt die Welt gleich über ihn her und schreit: Er will sich wichtig machen, er will besser sein als andre Menschen; wir sind vor Gott doch alle gleich. Laßt uns nur Menschen sein! Es ist daher auch ganz in Ordnung, daß in dem neuern Drama das Schlechte immer von den glänzendsten Talenten repräsentiert wird, aber das Gute, das Rechtschaffene von höchst simplen Menschen. Das scheint dem Zuschauer ganz recht, und sie lernen im Theater nur, was sie schon lange vorher gewußt haben, daß es unter ihrer Würde ist, zur Klasse der höchst simplen Menschen zu gehören. Ja, mein junger Freund, es gehört viel ethischer Mut dazu, um sein Leben in ganzem, vollem Ernst nicht in den Differenzen, sondern in dem Allgemeinen zu haben. Unsre Zeit bedarf daher gewaltsamer Erschütterungen, denen sie wohl auch entgegengeht; denn es wird der Augenblick schon kommen, da sie es sehen wird,[521] wie die in ästhetischem Sinn ausgezeichnetsten Individuen, die, deren Leben gerade in den Differenzen liegt, an diesen verzweifeln, um das Allgemeine zu finden. Das kann für uns kleine Leute gut sein, sofern uns zuweilen auch bange wird, daß wir unser Leben nicht in den Differenzen haben können, weil wir zu unbedeutend dazu sind, nicht weil wir groß genug gewesen sind, sie zu verschmähen.

Jeder Mensch, der nur ästhetisch lebt, fühlt daher ein geheimes Grauen vor der Verzweiflung, denn er weiß es sehr gut, daß das, was die Verzweiflung ans Licht bringt, das Allgemeine ist, und er weiß zugleich, daß das, worin er sein Leben hat, die Differenz ist. Je höher ein Individuum steht, um so mehr Differenzen hat es vernichtet, um so häufiger ist es verzweifelt gewesen, aber es behält immer eine Differenz übrig, die es nicht vernichten will, in der es sein Leben hat. Es ist wirklich merkwürdig, wie selbst die einfältigsten Menschen mit einer bewundernswerten Sicherheit entdecken, was man ihre ästhetische Differenz nennen könnte, wie unbedeutend diese auch sein mag; und der thörichte Streit über die Frage, welche Differenz bedeutender sei als die andre, zeigt in der That eins der jämmerlichsten Blätter im Buche des menschlichen Lebens. Die ästhetischen Köpfe drücken ihren Unwillen gegen die Verzweiflung auch dadurch aus, daß sie sagen, sie sei ein Bruch. Der Ausdruck ist ganz richtig, sofern die Entwickelung des Lebens in einer notwendigen Entfaltung des Unmittelbaren bestehen sollte. Ist das nicht der Fall, dann ist die Verzweiflung kein Bruch, sondern eine Verklärung. Nur wer über etwas Einzelnes verzweifelt, erfährt es, was ein solcher Bruch bedeutet; aber das kommt gerade daher, weil er nicht ganz verzweifelt. Auch fürchten die Ästhetiker, es möchte das Leben die schöne Mannigfaltigkeit verlieren, die es hat, solange jedes einzelne Individuum unter ästhetischen Bestimmungen lebt. ES ist dies wieder ein Mißverständnis, das wohl verschiedene rigoristische Theorien veranlaßt haben. In her Verzweiflung geht nichts unter, alles Ästhetische bleibt in einem Menschen, nur herrscht es nicht mehr, sondern es dient. Ja, es ist wahr, man lebt in demselben nicht mehr wie zuvor, aber daraus folgt noch keineswegs, daß man es verloren hat. Der Ethiker führt nur die Verzweiflung durch, die der höhere Ästhetiker schon angefangen,[522] aber willkürlich unterbrochen hat; denn wenn die Differenz auch noch so groß ist, ist sie doch nur relativ. Und wenn der Ästhetiker es selber einräumt, daß auch die Differenz, welche seinem Leben Bedeutung gibt, eitel ist, aber hinzufügt, es sei doch immer am besten, sich derselben so lange zu freuen, als man sie habe, so ist das doch immer eine Feigheit, die es sich auf eine billige Weise bequem machen möchte, und dieselbe ist eines Menschen unwürdig.

Die ästhetische Lebensanschauung betrachtet auch die Persönlichkeit im Verhältnis zur äußern Welt, und der Ausdruck für dieses, sofern es sich auf die Persönlichkeit bezieht, ist der Genuß. Aber der ästhetische Ausdruck für den Genuß in seinem Verhältnis zur Persönlichkeit ist die Stimmung. In der Stimmung ist die Persönlichkeit gegenwärtig, wenn auch nur dämmernd. Wer ästhetisch lebt, sucht nämlich so weit wie möglich ganz in der Stimmung aufzugehen, sucht sich so in ihr zu verbergen, daß nichts in ihm übrig bleibt, was nicht von derselben verschlungen werden kann, denn ein solcher Rest wirkt immer störend. Je mehr die Persönlichkeit in der Stimmung dämmert, um so mehr ist das Individuum im Moment, und das ist wieder der adäquateste Ausdruck für die ästhetische Existenz: sie ist im Moment. Daher die ungeheuren Oszillationen, denen derjenige, der ästhetisch lebt, ausgesetzt ist. Auch wer ethisch lebt, kennt die Stimmung, aber sie ist ihm nicht das Höchste; weil er sich selber unendlich gewählt hat, sieht er die Stimmung unter sich. Das Mehr, das in der Stimmung nicht aufgehen will, ist eben die Kontinuierlichkeit, die ihm das Höchste ist. Wer ethisch lebt, erinnert sich seines Lebens, das thut der nicht, der nur ästhetisch lebt. Wer ethisch lebt, zerstört die Stimmung nicht, er sieht sie einen Augenblick an, aber dieser Augenblick bewahrt ihn vor einem Leben im Moment, dieser Augenblick verhilft ihm zur Herrschaft über die Lust; denn die Kunst, die Lust zu beherrschen, liegt nicht so sehr darin, daß man dieselbe tötet oder ihr ganz entsagt, sondern darin, daß man den Augenblick bestimmt. Nimm, welche Lust Du willst, das Geheimnis und die Kraft derselben liegt darin, daß sie im Moment absolut ist. Nun hört man oft sagen, das einzige Mittel wider sie sei, daß man ihr ganz[523] entsage. Das ist eine sehr falsche Methode, die auch höchstens nur eine Weile zum Ziele führt. Denk Dir einen Menschen, der sich dem Spiel ergeben hätte. Die Lust erwacht mit aller Leidenschaft, es ist, als stünde sein Leben auf dem Spiel, wenn sie nicht befriedigt würde; kann er sich selber sagen: in diesem Augenblick will ich nicht spielen, erst nach einer Stunde, dann ist er gerettet. Diese Stunde ist die Kontinuierlichkeit, die ihn rettet. Die Stimmung dessen, der ästhetisch lebt, ist immer exzentrisch, weil er sein Zentrum in der Peripherie hat. Die Persönlichkeit hat ihr Zentrum in sich selber, und wer sich nicht selber hat, ist exzentrisch. Die Stimmung dessen, der ethisch lebt, ist zentralisiert, er ist nicht in der Stimmung, er ist nicht Stimmung, sondern er hat Stimmung und hat die Stimmung in sich. Wofür er arbeitet, ist die Kontinuierlichkeit, und diese ist immer der Stimmung Meister. Seinem Leben fehlt die Stimmung nicht, ja er hat eine Totalstimmung; aber diese ist erworben; es ist das, was man aequale temperamentum nennen könnte, aber das ist keine ästhetische Stimmung, und kein Mensch hat sie von Natur oder unmittelbar.

Kann nun aber der, der sich selber unendlich gewählt hat, sagen: Jetzt besitze ich mich selber, mehr verlange ich nicht, und wider allen Wechsel des Lebens setze ich den stolzen Gedanken: Ich bin, der ich bin? Mit nichten! Wollte ein Mensch sich so ausdrücken, so würde man bald erkennen, daß er auf falschem Wege ist. Der Grundfehler läge dann auch darin, daß er im strengsten Sinn nicht sich selber gewählt hätte; wohl hätte er sich selber gewählt, aber außerhalb seines Ich; er hätte das Wählen ganz und gar abstrakt aufgefaßt und nicht sich selber in seiner Konkretion ergriffen; er hätte nicht so gewählt, daß er in der Wahl in sich selber blieb; er hätte sich selber nach seiner Notwendigkeit, nicht in seiner Freiheit gewählt; er hätte die ethische Wahl ästhetisch eitel genommen. Je bedeutungsvoller das in seiner Wahrheit ist, was ans Licht kommen soll, um so gefährlicher sind auch die Abwege. So ist's auch hier. Hat das Individuum sich in seiner ewigen Gültigkeit ergriffen, so überwältigt diese ihn ganz und gar. Die Zeitlichkeit verschwindet vor seinen Augen. Im ersten Augenblick erfüllt es ihn mit einer[524] unbeschreiblichen Seligkeit und gibt ihm eine absolute Sicherheit. Fängt er nun an, einseitig darauf hinzustarren, so macht die Zeitlichkeit ihre Forderungen geltend. Diese werden abgewiesen; was die Zeitlichkeit geben kann, ist ihm so unbedeutend, wenn er es mit dem vergleicht, was er ewig besitzt. Alles bleibt vor seinen Augen stehen, er ist gewissermaßen vor der Zeit zur Ewigkeit gekommen. Er versinkt in Kontemplation, er starrt auf sich selber, aber das kann die Zeit nicht ausfüllen. Da zeigt sich's ihm, daß die Zeit, die Zeitlichkeit sein Verderben ist, er fordert eine vollkommene Form des Daseins, und wieder erfaßt ihn eine Müdigkeit, eine Apathie, welche mit der Mattigkeit, die die Begleiterin des Genusses ist, eine große Ähnlichkeit hat. Diese Apathie kann so schwer auf einem Menschen lasten, daß ihm der Selbstmord als einzige Rettung erscheint. Keine Macht kann ihn sich selber entreißen, aber sie hält die Umarmung des Geistes auf, mit welcher er sich selber ergreift. Er hat nicht sich selber gewählt, sondern sich, wie Narzissus, in sich selber verliebt. Ein solcher Zustand hat gewiß nicht selten im Selbstmord sein Ende gefunden.

Der Fehler liegt darin, daß er nicht in der rechten Weise wählte, nicht gerade in dem Sinn, daß er für seine Fehler gar keine Augen hatte, sondern er sah sich selber unter der Bestimmung der Notwendigkeit; sich, diese Persönlichkeit mit der ganzen Mannigfaltigkeit von Bestimmungen, sah er in seiner Verbindung mit dem Lauf der Welt, er sah sie der ewigen Macht gegenüber, deren Feuer sie durchdrang, ohne sie zu verzehren. Aber er sah sich noch nicht in seiner Freiheit, er wählte sich noch nicht in derselben. Thut er das, dann ist er in demselben Augenblick, in welchem er sich selber wählt, in Bewegung; wie konkret auch sein Selbst ist, er hat sich doch selber nach seiner Möglichkeit gewählt, er hat sich in der Reue losgekauft, um in seiner Freiheit zu bleiben, aber in seiner Freiheit kann er nur dadurch bleiben, daß er sie beständig realisiert. Wer sich daher selber wählt, ist eo ipso ein Handelnder.

Hier dürfte es vielleicht am Platze sein, mit einigen Worten einer Lebensanschauung zu erwähnen, die Dir in hohem Grade zu gefallen scheint, und in der Du Dich besonders wohlfühlst, besonders[525] als Dozent, zuweilen auch als Praktikus. Sie läuft auf nichts Geringeres hinaus als darauf, daß das Leidtragen doch eigentlich die Bedeutung des Lebens, und der Unglücklichste im Grunde der Glücklichste sei. Auf den ersten Blick scheint diese Anschauung nun zwar keine ästhetische Lebensanschauung zu sein; denn der Genuß kann doch eigentlich nicht ihre Losung sein. Sie ist indessen noch weniger eine ethische Lebensbetrachtung, denn sie liegt in dem gefahrvollen Moment, in welchem das Ästhetische in das Ethische übergehen soll, wo die Seele sich so leicht von dieser oder jener Äußerung einer Prädestinationstheorie gefangennehmen läßt. Du hast verschiedene Häresien, diese ist fast die schlimmste, aber Du weißt zugleich, daß sie sehr praktisch ist, wenn es gilt, sich an einen Menschen heranzuschleichen und ihn an Dich zu ziehen. Du kannst über alles spotten, sogar über die Schmerzen der Menschen. Es ist Dir nicht unbekannt, daß dies die Jugend verführt, und doch kommst Du derselben dadurch ziemlich fern, weil ein solcher Umgang ebensosehr abstößt wie anzieht. Ist es eine Jungfrau, die Du solchermaßen betrügen willst, so wird es Dir gewiß nicht entgehen, daß eine weibliche Seele zu tief angelegt ist, um sich auf die Dauer von Derartigem fesseln zu lassen; ja, wenn Du sie auch einen Augenblick beschäftigt hättest, sie würde schließlich doch bald müde werden und Dich fast verabscheuen.

Jetzt wird eine andre Methode genommen. Du läßt in einzelnen rätselhaften Ausbrüchen, die nur sie verstehen kann, eine ferne Melancholie als eine Erklärung des Ganzen ahnen. Nur ihr erschließt Du Dein Herz, aber so vorsichtig, daß sie eigentlich doch nie etwas Näheres erfährt; Du überläßt es ihrer Phantasie, die tiefe Wehmut zu ermessen, die in Deinem Herzen wohnt. Ja wahrhaftig, klug bist Du, das läßt sich nicht leugnen, und wahr ist es, was ein junges Mädchen einmal von Dir sagte, Du würdest vermutlich am Ende ein Jesuit werden. Je schlauer Du es anfängst, um ihnen den Faden in die Hand zu spielen, der tiefer und tiefer in das Labyrinth der Wehmut hineinführt, um so froher bist Du, um so sicherer, sie an Dich zu ziehen. Du hältst keine langen Reden, Du zeigst Deinen Schmerz nicht dadurch an, daß Du ihnen treu und fest die Hand drückst, oder indem Du »in das romantische Auge einer gleichgesinnten[526] Seele romantisch hineinstarrst« – dazu bist Du zu klug. Du willst keine Zeugen haben, und in einzelnen Augenblicken läßt Du Dich überrumpeln. Es gibt ein Alter, in welchem die Wehmut das gefährlichste Gift für eine Jungfrau ist; das weißt Du, und diese Wissenschaft mag ja wie jede an und für sich recht gut sein, aber wie wendest Du sie an? Das ist's, was ich nicht rühmen kann.

Da Du das ganze Leben in ästhetische Kategorien zusammenfaßt, so ist – wie sich von selber versteht – das Leid Deiner Aufmerksamkeit nicht entgangen, denn dasselbe ist an und für sich ebenso interessant wie die Freude. Da Du das Interessante überall, wo es sich zeigt, in Deinen Dienst ziehst und darin eine unglaubliche Virtuosität entwickelst, so mißversteht Deine Umgebung Dich immer wieder und sieht in Dir bald einen kalten und herzlosen, bald einen wirklich gutmütigen Menschen, obgleich Du keins von beiden bist. Schon das kann ein solches Mißverständnis veranlassen, daß Du ebenso oft den Schmerz aufsuchst, wie die Freude, vorausgesetzt, daß sowohl im Schmerz wie in der Freude eine Idee verborgen ist, denn erst dadurch erwacht das ästhetische Interesse. Wenn Du leichtsinnig genug sein könntest, einen Menschen unglücklich zu machen, so würdest Du zu der seltsamsten Täuschung Veranlassung geben können. Du würdest Dich nicht wie andre, die treulos nur die Freude suchen, zurückziehen und ihr auf andern Wegen nachjagen, nein, das Leid im selben Individuum würde Dir noch interessanter sein als die Freude, Du würdest bei ihm bleiben, würdest Dich in sein Leid vertiefen. Du hast Erfahrungen gemacht, kennst die Macht des Wortes und das Pathos der Tragödie, Du weißt dem Leidenden die Linderung zu bieten, die allein der ästhetisch Leidende begehrt – den Ausdruck. Es ergötzt Deine Seele, wenn Du es siehst, wie der Leidende im Saitenspiel der Stimmung, wenn Du es vorträgst, zur Ruhe kommt; Du wirst ihm bald unentbehrlich, denn Dein Ausdruck hebt ihn aus den dunkeln Wohnungen des Leides empor. Er dagegen bleibt Dir nicht unentbehrlich, und bald bist Du müde. Denn Dir ist nicht nur die Freude »ein flüchtiger Freund, dem man auf der Reise begegnet,« – nein, auch der Schmerz, da Du immer auf Reisen bist. Hast Du den Leidenden getröstet und[527] – um Dich selber für Deine ärztlichen Bemühungen zu honorieren – das Interessante aus seinem Schmerz destilliert, dann wirfst Du Dich in Deinen Wagen und rufst: Vorwärts! Fragt man Dich, wohin, so antwortest Du mit Deinem Helden Don Juan: »Zur Lust und Freude.« Nun bist Du nämlich des Leides überdrüssig, und Deine Seele fordert den Gegensatz des Schmerzes: die Freude.

Ganz so schlimm, wie ich Dich hier geschildert habe, machst Du's nun freilich nicht, und ich will's nicht leugnen, daß Du oft ein wirkliches Interesse für den Leidenden hast, daß Du ihn gern heilen und der Freude zurückgeben möchtest. Du strengst alle Deine Kräfte an, und zuweilen gelingt es Dir. Trotzdem kann ich Dich nicht rühmen; es verbirgt sich etwas dahinter. Du bist nämlich neidisch auf das Leid, Du kannst es nicht leiden, daß ein andrer Mensch einen Kummer hat, oder einen Kummer, der nicht besiegt werden konnte. Wenn Du nun den Leidenden heilst, dann genießt Du die Befriedigung, daß Du zu Dir selber sprichst: Aber mein eignes Leid, das kann niemand heilen. Das ist ein Resultat, daß Du immer in mente behältst, ob Du nun die Zerstreuung der Freude oder des Leides suchst, das steht Dir unerschütterlich fest, es gibt ein Leid, das läßt sich nicht heben.

So bin ich nun zu dem Punkt gekommen, wo Du meinst, es sei Leidtragen die Bedeutung des Lebens. Die ganze moderne Entwickelung hat es an sich, daß man mehr das Leid als die Freude sucht. Es gilt als eine höhere Lebensanschauung, und mit Recht, sofern Sichfreuen natürlich ist, und Leidtragen unnatürlich. Dazu kommt, daß die Freude für den Einzelnen eine gewisse Verpflichtung zur Dankbarkeit in sich schließt, wenn seine Gedanken auch noch so durcheinander gehen, daß er nicht recht weiß, wem er danken soll. Davon befreit das Leid, und die Eitelkeit wird da besser befriedigt. Unsre Zeit hat außerdem die Eitelkeit des Lebens in so vielfacher Weise erfahren, daß sie nicht mehr an die Freude glaubt, und um doch an etwas zu glauben, glaubt sie an das Leid. Die Freude vergeht – so sagt sie - , aber das Leid besteht, und wer sein Leben auf dieses letztere baut, der baut daher auf sichern Grund.

Fragt man nun näher, was es denn für ein Leid ist, von[528] welchem Du sprichst, so bist Du klug genug, das ethische Leid nicht zu erwähnen. Die Reue meinst Du nicht; nein, vielmehr das ästhetische, besonders das reflektierte Leid. Dasselbe hat seinen Grund nicht in der Schuld, sondern im Unglück, im Schicksal, in einer betrübenden Disposition, im Einfluß andrer u.s.w. Das alles hast Du in Romanen kennen gelernt. Liest Du es dort, dann lachst Du, hörst Du andre davon reden, so spottest Du; aber wenn Du es selber vorträgst, dann ist ein Sinn drin und Wahrheit.

Je tiefer der Grund des Leides liegt, um so mehr könnte es scheinen, als ließe es sich doch durch das ganze Leben bewahren, ja als brauchte man nichts zu thun, da es einem ja überallhin von selber folge. Ist es eine einzelne Begebenheit, so fällt es schon sehr schwer. Das siehst Du sehr gut ein, und wenn Du Dich in solchem Fall über die Bedeutung des Leides für das ganze Leben aussprechen sollst, dann denkst Du vor allem an unglückliche Individualitäten und tragische Helden. Die ganze Geistesdisposition der unglücklichen Individualität hat es an sich, daß dieselbe nicht glücklich oder froh werden kann, es schwebt ein Fatum über ihr und ebenso über dem tragischen Helden. Hier hat es nun freilich seine volle Richtigkeit, daß das Leidtragen die Bedeutung des Lebens ist, und hier stehen wir vor einem schlechten und rechten Fatalismus, der immer etwas Verführerisches an sich hat. Und hier kommst Du dann natürlich auch immer wieder mit Deiner Prätension, daß Du der Unglücklichste bist und kein andrer. In der That, ein stolzer und trotziger Gedanke!

Laß mich Dir antworten, wie Du es verdienst. Zunächst und vor allem: Du trägst ja nicht leid! Du hast ja keinen Kummer. Das weißt Du sehr wohl; denn es ist ja Dein Lieblingsausdruck, daß der Unglücklichste der Glücklichste ist. Aber das ist eine schreckliche Falschmünzerei, eine Falschmünzerei, die sich gegen die ewige Macht wendet, welche Himmel und Erde regiert, es ist Aufruhr gegen Gott, ebensosehr wie es Aufruhr gegen Gott ist, wenn man lachen wollte, wo man weinen sollte; und doch gibt's eine Verzweiflung, die das über sich gewinnt, es gibt einen Trotz, in welchem man Gott selber zum Kampf herausfordert. Aber zugleich ist's ein Verrat an dem menschlichen Geschlecht. Wohl unterscheidest Du[529] auch zwischen Leid und Leid, aber Du meinst doch, es sei da eine Differenz, so groß, daß es unmöglich sei, das Leid als solches zu tragen. Aber existiert ein solches Leid, so hast Du nicht zu entscheiden, was das für ein Leid ist. Die eine Differenz ist geradeso gut wie die andre, und Du hast das tiefste und heiligste Recht des Menschen oder die Gnade verraten. Es ist ein Verrat an dem Großen und Erhabenen, ist gemeiner Neid! denn es läuft schließlich doch darauf hinaus, daß die großen Männer nicht versucht worden sind in den gefährlichsten Prüfungen, und daß sie nicht bestehen würden, wenn die übermenschliche Versuchung, von welcher Du redest, sie betreten hätte. Und Du meinst das Große zu ehren, wenn Du es in den Staub ziehst?

Mißverstehe mich nicht. Ich bin nicht der Mensch, der da meint, daß man nicht leidtragen solle; ich verachte jenes jämmerliche Philistertum, und hätte ich nur die Wahl zwischen diesen beiden, ich wählte das Leid. Nein, ich weiß es wohl, leidtragen ist schön, und es liegt eine Kraft, ein Zauber in den Thränen; aber ich weiß auch, daß man nicht trauern soll wie die, die keine Hoffnung haben. Zwischen uns, mein Freund, ist ein absoluter Gegensatz, der niemals gehoben werden kann. Ich kann nicht unter ästhetischen Bestimmungen leben, ich fühle es, daß das Heiligste meines Lebens untergeht, ich fordere einen höheren Ausdruck, und diesen gibt mir das Ethische. Und hier empfängt das Leid erst seine wahre und tiefe Bedeutung. Stoß Dich nicht an dem, was ich sagen will, halte Dich nicht darüber auf, daß ich von Kindern reden kann, während von dem Leid geredet wird, das nur Helden tragen können. Es ist das Zeichen eines wohlerzogenen Kindes, daß es gern um Verzeihung bittet, ohne viel zu überlegen, ob es das im Grunde müßte oder nicht, und gleicherweise ist's das Zeichen eines hochherzigen Menschen, einer tiefen Seele, daß er leicht Reue fühlt, daß er mit Gott nicht ins Gericht geht, sondern Reue fühlt und Gott in seiner Reue liebt. Ohne diese Reue ist sein Leben nichts, nur wie der Schaum auf dem Wasser. Ja, ich versichere Dich: und ob mein Leben so sehr ohne eigne Schuld von Sorgen und Leiden erfüllt wäre, daß ich mich selber den größten tragischen Held nennen könnte,[530] meine Wahl ist getroffen, ich lege den Mantel des Helden und das Pathos der Tragödie ab, ich bin nicht der Geplagte, der auf seine Leiden stolz ist, ich bin der Gedemütigte, und fühle meine Verbrechen, ich habe nur einen Ausdruck für das, was ich leide – Schuld, einen Ausdruck für meinen Schmerz – Reue, eine Hoffnung vor meinem Auge – Vergebung. Und wird's mir schwer, das zu thun, o! ich habe nur ein Gebet, ich wollte mich auf die Erde werfen und die ewige Macht, die Himmel und Erde regiert, anflehen und sie um eine Gnade bitten, früh und spät, um die Gnade, daß ich mich ihr in Reue nahen dürfe; denn ich kenne nur ein Leid, das mich zur Verzweiflung bringen könnte – so die Reue Täuschung wäre, eine Täuschung, nicht wegen der Vergebung, die sie sucht, sondern wegen der Zurechnung, die sie voraussetzt.

Und meinst Du, daß dem Leide dadurch nicht sein Recht geschieht, daß ich ihm entfliehe? Nein, und abermal nein! Ich lege dasselbe in mein Wesen hinein und vergesse es daher niemals. Überhaupt ist's ein Unglaube an die Autorität des Geistes, wenn ich nicht glauben will, daß ich etwas in mir besitzen kann, ohne es jeden Augenblick zu sehen. Was man im täglichen Leben am besten verwahren will, das legt man an einen Ort, wohin man nicht alle Tage kommt. Gerade so ist's in der Welt des Geistes. Ich habe das Leid in mir, und ich weiß, daß es meinem Wesen angehört, und ich weiß, daß ich es so viel sicherer verwahrt habe, als der, der einen Schatz, in der Angst ihn zu verlieren, täglich hervorholt.

Mein Leben ist niemals so bewegt gewesen, daß ich mich hätte versucht fühlen können, die ganze Welt chaotisch zu verwirren; aber in meinem täglichen Leben habe ich es oft erfahren, wie heilsam es ist, dem Leid einen ethischen Ausdruck zu geben; nicht das Ästhetische im Leide zu verwischen, sondern es ethisch zu beherrschen. Solange das Leid still und demütig ist, fürchte ich es nicht; wird es heftig und leidenschaftlich oder sophistisch und will mich zum Mißmut reizen, dann erhebe ich mich, ich dulde keinen Aufruhr; nichts in der Welt soll mir entreißen, was ich aus Gottes Hand als eine Gnadengabe empfangen habe. Ich verscheuche das Leid nicht, suche nicht es zu vergessen, aber ich trage leid in der Reue, die niemand gereut. Und[531] ist das Leid auch der Art, daß ich selber keine Schuld daran habe, mich reut's, daß ich es habe zu einer Macht über mich werden lassen, mich reut's, daß ich es nicht gleich auf Gott geworfen habe; wäre das geschehen, dann hätte es keine Macht mehr über mich und könnte mich nicht bethören.

Verzeih, wenn ich hier wieder von Kindern spreche. Wenn ein Kind verdrießlich weder das eine noch das andre will, so sagt man ihm: Du willst wohl etwas haben, damit Du weinen kannst? – die Methode soll vortrefflich sein. So geht's mir auch; denn ob man noch so alt wird, man behält doch immer etwas vom Kinde an sich. Wenn ich etwas verdrießlich bin, sage ich mir auch: Du willst wohl etwas haben, damit Du weinen kannst? und alsobald nehme ich die Verwandlung vor. Und ich versichre Dich, das ist sehr wohlthuend für einen Menschen; denn die Thränen, die der ästhetisch Trauernde über sich selber vergießt, sind doch nur heuchlerische Thränen und bringen keine Frucht. Aber sich schuldig fühlen – ja, das ist wirklich zum Weinen, und die Thränen der Reue haben einen ewigen Segen. Als unser Herr und Heiland nach Jerusalem hinaufzog und über die große Stadt weinte, weil sie nicht bedenken wollte, was zu ihrem Frieden diente, da wär's möglich gewesen, daß er auch sie zu Thränen gerührt hätte; aber wären es ästhetische Thränen gewesen, so hätte es wenig gefrommt, und doch hat die Welt wohl wenige Tragödien gesehen, wie die, als das auserwählte Volk verworfen ward. Wären es Thränen der Reue gewesen, o, dann wäre eine Kraft in ihnen gewesen, die es hätte erretten können, und doch war ja hier die Rede von einer Reue, die mehr als die eigne Schuld in sich schloß; war doch nicht das Geschlecht, welches gerade damals lebte, das einzig Schuldige, nein, es waren auch die Sünden der Väter, die auf ihm lasteten. Und hier tritt uns die Reue in ihrer ganzen, tiefen Bedeutung entgegen; denn während dieselbe mich einerseits isoliert, knüpft sich mich anderseits unauflöslich an das ganze Geschlecht; denn mein Leben beginnt ja nicht in der Zeit und mit einem Nichts, und kann ich die vorigen Zeiten nicht in meine Reue aufnehmen, so ist die Freiheit ein Traum.

Du siehst nun vielleicht ein, weshalb ich diese Lebensanschauung[532] so ausführlich behandle. Die Persönlichkeit tritt auch hier wieder unter den Bestimmungen der Notwendigkeit entgegen, und es ist nur so viel Freiheit übriggeblieben, daß diese wie ein unruhiger Traum das Individuum beständig halb wachhalten und es im Labyrinth der Leiden und Schicksale hin und her führen kann, so daß es überall sich selber sieht und doch nicht zu sich selber kommen kann.

Es ist unglaublich, mit welchem Leichtsinn solche Probleme oft behandelt werden, selbst systematische Denker behandeln es als eine Naturmerkwürdigkeit, von der sie weiter nichts zu sagen haben, und die sie nur beschreiben, ohne daß es ihnen in den Sinn kommt, daß, wenn eine solche Naturmerkwürdigkeit existiert, ihre ganze übrige Weisheit Nonsens und Illusion ist. Deshalb hilft einem die christliche Anschauung so viel weiter als die Weisheit oller Philosophen. Diese setzt alles unter die Sünde, etwas, das der Philosophie zu ästhetisch ist, als daß sie dazu ethischen Mut hätte. Und doch ist dieser Mut das Einzige, was das Leben und den Menschen retten kann, wenn man nicht launisch seine Skepsis abbrechen und sich mit einigen Gleichgsinnten zusammenthun will, um zu erfahren, was Wahrheit ist.

Die erste Form, welche die Wahl sich gibt, ist eine vollkommene Isolation. Indem ich mich nämlich selbst wähle, sondre ich mich aus meinem Verhältnis zu der ganzen Welt aus, bis ich in dieser Aussonderung zu der abstrakten Identität komme. Da das Individuum sich nach seiner Freiheit gewählt hat, so ist es eo ipso handelnd. Doch steht sein Handeln in keinem Verhältnis zur äußern Welt; denn das Individuum hat diese ganz und gar vernichtet und existiert nur für sich selber. Die Lebensanschauung, die sich hier zeigt, ist indessen eine ethische Anschauung. Sie fand in Griechenland ihren Ausdruck in dem Bestreben eines einzelnen Individuums, sich selber zu einem Muster der Tugend zu entwickeln. Wie später die christlichen Anachoreten, so zog sich dieses von der Thätigkeit des Lebens zurück, nicht um sich in metaphysische Grübeleien zu vertiefen, sondern um zu handeln, nicht nach außen hin, sondern nach innen. Dieses innere Handeln hat zugleich seine Aufgabe und seine Befriedigung; denn es war ja nicht seine Absicht,[533] sich selbst auszubilden, um später um so besser dem Staate dienen zu können; nein, in dieser Ausbildung war es sich selbst genug, und es verließ das Staatsleben, um niemals wieder zu demselben zurückzukehren. Im eigentlichen Sinn zog es sich daher wohl nicht vom Leben zurück, im Gegenteil, es blieb in seiner Mannigfaltigkeit, weil die Berührung mit demselben um sein selbst willen pädagogisch notwendig war; aber das Staatsleben hatte als solches keine Bedeutung für dasselbe, das war durch diese oder jene Zauberformel unschädlich gemacht, indifferent und für sich selbst bedeutungslos. Die Tugenden, die es entwickelte, waren keine bürgerlichen Tugenden – (und doch waren diese die wahren Tugenden des Heidentums, die den religiösen Tugenden im Christentum entsprechen) – es waren die persönlichen Tugenden, Mut, Tapferkeit, Enthaltsamkeit, Genügsamkeit u.s.w. In unsern Zeiten sieht man diese Lebensanschauung natürlich sehr selten realisiert, weil jeder zu sehr vom Religiösen berührt ist, um bei solch abstraktem Begriff der Tugend stehen bleiben zu können. Leicht erkennt man das Unvollkommene dieser Lebensanschauung. Der Fehler lag darin, daß das Individuum ganz abstrakt sich selber gewählt hatte, weshalb die Vollkommenheit, die dasselbe suchte und fand, ebenso abstrakt war. Aus diesem Grunde, sagte ich, sei das »Sich-selber-wählen« identisch mit dem »in herzlicher Reue über sich selber leid tragen«; denn die Reue setzt das Individuum in die innigste Verbindung und den genausten Zusammenhang mit einer äußern Welt.

Man hat in der christlichen Welt oft eine Analogie zu dieser griechischen Lebensanschauung gefunden und findet sie zuweilen noch, nur daß sie im Christentum durch den Zusatz des Mystischen und Religiösen noch schöner und reicher wird. Eine griechische Individualität, die sich selber zu einem vollkommenen Ideal aller persönlichen Tugenden ausarbeitet, mag nun einen solchen Grad von Virtuosität erreichen wie sie will, ihr Leben ist doch nicht unsterblicher als die Welt, deren Versuchung ihre Tugend besiegte; ihre Seligkeit ist eine einsame Selbstzufriedenheit, vergänglich wie alles andre. Eines Mystikers Leben ist viel tiefer. Er hat sich selber absolut gewählt; denn obgleich ein Mystiker sich nur selten so ausdrücken[534] wird, obgleich er viel häufiger den scheinbar entgegengesetzten Ausdruck gebraucht, daß er Gott gewählt hat, die Sache selber bleibt doch, wie wir oben nachgewiesen haben, dieselbe; denn hat er sich selber nicht absolut gewählt, dann steht er in keinem freien Verhältnis zu Gott, und in der Freiheit liegt gerade das Eigentümliche der christlichen Frömmigkeit. Dieses freie Verhältnis wird in der Sprache der Mystik oft so ausgedrückt, daß er das absolute Du ist. Der Mystiker hat sich selber absolut und also nach seiner Freiheit gewählt, und ist also eo ipso handelnd, aber sein Handeln ist ein inneres Handeln. Der Mystiker wählt sich selber in seiner vollkommenen Isolation, ihm ist die ganze Welt tot und vernichtet, und die ermüdete Seele wählt Gott oder sich selbst. Dieser Ausdruck »die ermüdete Seele« darf nicht mißverstanden, oder zur Herabsetzung der Mystik mißbraucht werden, als ob die Seele erst, nachdem sie der Welt und ihres Treibens müde geworden wäre, Gott gewählt hätte. Mit diesem Ausdruck bezeichnet der Mystiker ohne Zweifel seine Reue darüber, daß er Gott nicht früher gewählt und seine Müdigkeit darf nicht mit Lebensüberdruß verwechselt werden. Schon hier wirst Du sehen, wie wenig ethisch das Leben des Mystikers eigentlich angelegt ist, da es der höchste Ausdruck der Reue ist, wenn es einen reut, daß er nicht früher, ehe er konkret in der Welt ward, daß er nicht, während seine Seele nur abstrakt bestimmt war, also als Kind, Gott wählte.

Der Mystiker ist, da er gewählt hat, eo ipso handelnd; aber sein Handeln ist inneres Handeln. Sofern er handelnd ist, hat sein Leben eine Bewegung, eine Entwickelung, eine Geschichte. Eine Entwickelung kann indessen in dem Grade metaphysisch oder ästhetisch sein, daß er zweifelhaft wird, wie weit man sie eigentlich eine Geschichte nennen darf, weil man dabei ja an eine Entwickelung unter der Form der Freiheit denkt. Eine Bewegung kann in dem Grade desultorisch sein, daß es zweifelhaft sein kann, wie weit man sie eine Entwickelung nennen darf. Wenn also die Bewegung darin besteht, daß ein Moment wieder und wieder ans Licht kommt, so hat man unleugbar eine Bewegung, ja man kann vielleicht ein Gesetz der Bewegung entdecken, aber man hat keine Entwickelung. Die Wiederholung[535] in der Zeit ist ohne Bedeutung, und die Kontinuität fehlt. Das ist in hohem Grade mit dem Leben des Mystikers der Fall. Schrecklich ist's, wenn man die Klagen eines Mystikers über die matten Augenblicke liest. Ist der matte Augenblick vorüber, dann kommt der helle Augenblick, und so wechselt sein Leben beständig, es hat wohl Bewegung, aber keine Entwickelung. Seinem Leben fehlt die Kontinuität. Was diese in dem Leben eines Mystikers eigentlich bildet, ist ein Gefühl, nämlich die Sehnsucht, ob diese Sehnsucht nun nach dem ausschaut, was vergangen ist, oder nach dem, was noch kommen soll. Aber eben dies, daß nämlich ein Gefühl den Zwischenraum bildet, beweist es gerade, daß der Zusammenhang fehlt. Die Entwickelung eines Mystikers ist in dem Grade metaphysisch und ästhetisch bestimmt, daß man sie nur in dem Sinn eine Geschichte nennen darf, wie man von der Geschichte einer Pflanze redet. Für den Mystiker ist die ganze Welt tot, er hat sich in Gott verliebt. Die Entwickelung seines Lebens ist die Entfaltung dieser Liebe. Wie man Beispiele hat, daß Liebende eine gewisse Ähnlichkeit miteinander haben, auch im Äußern, in den Zügen des Gesichtes u.s.w., also versenkt der Mystiker sich in das Anschauen der Gottheit, deren Bild sich mehr und mehr in seiner liebenden Seele abspiegelt; so erneuert der Mystiker das verlorne Gottesbild im Menschen. Je mehr er kontempliert, um so deutlicher spiegelt dieses Bild sich in ihm ab, um so ähnlicher wird er dem Bilde. Sein inneres Handeln besteht demnach nicht im Erwerben persönlicher Tugenden, sondern im Entwickeln der religiösen oder kontemplativen Tugenden. Aber selbst dies ist ein zu ethischer Ausdruck für sein Leben, und deshalb ist das Gebet sein eigentliches Leben. Natürlich will ich nicht leugnen, daß das Gebet auch zum ethischen Leben gehört, aber je ethischer ein Mensch lebt, um so mehr trägt das Gebet den Charakter des Entschlusses; das Moment eines solchen liegt sogar in dem Opfer des Dankes, das er Gott darbringt. Anders verhält es sich mit dem Gebet des Mystikers. Für ihn ist das Gebet um so bedeutungsvoller, je erotischer es ist, je mehr es von einer brennenden Liebe entzündet ist. Das Gebet ist der Ausdruck für seine Liebe, die Sprache, in welcher er allein mit der Gottheit reden kann, in die er sich verliebt hat.[536] Wie im irdischen Leben die Liebenden sich nach dem Augenblick sehnen, in welchem sie einander ihre Liebe bekennen, ihre Seelen in einem leisen Flüstern zusammenschmelzen lassen können, so sehnt sich der Mystiker nach dem Augenblick, da er sich im Gebet gewissermaßen mit Gottes innerstem Wesen verbinden kann. Wie die Liebenden den höchsten Grad der Seligkeit in jenem Flüstern finden, wenn sie eigentlich gar nichts mehr zu sprechen haben, so ist dem Mystiker sein Gebet um so seliger, seine Liebe um so glücklicher, je weniger Inhalt es hat, je mehr er in seinem Seufzen fast vor sich selber verschwindet.

Es dürfte hier vielleicht am Orte sein, das Unwahre eines solchen Lebens hervorzuheben, um so mehr, als jede tiefere Persönlichkeit sich immer von demselben angezogen fühlt. Auch Dir fehlen die Momente nicht, um – wenigstens für eine Weile – ein Mystiker zu werden. Überhaupt begegnen sich auf diesem Gebiet die größten Gegensätze, die reinsten und unschuldigsten Seelen sowohl wie die fluchwürdigsten Menschen, die begabtesten nicht weniger als die einfältigsten.

Zunächst will ich mich ganz schlicht darüber aussprechen, was mich in einem solchen Leben unangenehm berührt. Das ist mein individuelles Urteil. Später werde ich nachzuweisen suchen, daß es mit den von mir angedeuteten Übelständen seine Richtigkeit hat, und werde zeigen, worin sie ihren Grund haben, sowie ich endlich auch vor den traurigen Abwegen, die hier gar nahe liegen, warnen will.

Nach meiner Meinung kann man den Mystiker nicht von einer gewissen Zudringlichkeit in seinem Verhältnis zu Gott freisprechen. Daß ein Mensch Gott von ganzer Seele und aus allen seinen Kräften lieben soll, und daß er es nicht nur soll, sondern daß Liebe auch die Seligkeit selber ist, wer wollte das leugnen? Daraus folgt indessen noch keineswegs, daß der Mystiker das äußere, wirkliche Leben, in welches Gott ihn hineingesetzt hat, verachten soll; denn dadurch verachtet er eigentlich die Liebe Gottes oder fordert einen andern Ausdruck für dieselbe, als Gott selber ihr gibt. Hier gilt das ernste Wort Samuels: Gehorsam ist besser als Opfer. Aber diese Zudringlichkeit kann zuweilen eine noch bedenklichere Form annehmen. Wenn z.B. ein Mystiker sein Verhältnis zu Gott dadurch begründet, daß[537] er gerade der ist, der er ist, und meint, Gott liebe ihn auf Grund dieser oder jener zufälligen Eigenschaft. Dadurch zieht er Gott und sich selber in den Staub; sich selber – denn es ist immer entwürdigend, wenn man glaubt, durch etwas Zufälliges wesentlich verschieden von andern zu sein, und Gott – denn er macht ihn zu einem launischen Tyrannen und sich selber zu einem Liebling an dem Hof desselben.

Was mir weiter an dem Leben eines Mystikers unangenehm ist, das ist die Weichlichkeit und Schwachheit, von der man ihn nicht freisprechen kann. Daß ein Mensch es wünscht, in seinem innersten Herzen des gewiß zu sein, daß er Gott wahr und aufrichtig liebt, und daß es ihn oft ins Gebet treibt und er Gott anfleht, es möchte der Heilige Geist es seinem Geiste aufs allergewisseste bezeugen, daß diese Liebe wirklich die Kraft und das Geheimnis seines Lebens sei, wer wollte leugnen, daß das wahr und schön ist? Aber daraus folgt noch keineswegs, daß er diesen Versuch jeden Augenblick wiederholen, jeden Augenblick seine Liebe prüfen wird. Er wird Seelenstärke genug haben, um an die Liebe Gottes zu glauben, auch wo er sie nicht sieht und fühlt, und der Glaube an die Liebe Gottes wird ihn mit hoher Freudigkeit erfüllen und er wird gern in den ihm von Gott selber angewiesenen Verhältnissen bleiben, gerade weil er es weiß, daß dieses Bleiben der sicherste Ausdruck für seine Liebe, für seine Demut ist.

Schließlich gefällt mir das Leben des Mystikers nicht, weil es in meinen Augen ein Betrug gegen die Welt ist, in welcher er lebt, ein Betrug gegen die Menschen, mit welchen er verbunden ist oder mit welchen er in ein Verhältnis treten könnte, wenn es ihm nicht gefallen hätte, ein Mystiker zu werden. Im allgemeinen wählt der Mystiker das einsame Leben, aber damit ist die Sache noch nicht entschieden; denn es fragt sich doch: hatte er denn das Recht, es zu wählen? Sofern er es gewählt hat, betrügt er andre nicht, denn er sagt dadurch ja: Ich will in keinem Verhältnis zu euch stehen; aber darf er so sprechen? darf er so handeln? Besonders als Ehemann, als Vater bin ich ein Feind des Mystizismus. Mein häusliches Leben hat auch sein adyton; aber wäre ich Mystiker, dann müßte ich ja noch[538] eins für mich allein haben, und in dem Fall wäre ich ein schlechter Ehemann. Da es nun meiner Ansicht nach – und ich werde dieselbe später entwickeln – Pflicht eines jeden Menschen ist, sich zu verheiraten, und da es unmöglich meine Meinung sein kann, daß man sich verheiraten soll, um ein schlechter Ehemann zu werden, so siehst Du wohl ein, daß mir der Mystizismus nicht gefallen kann.

Wer sich einseitig einem mystischen Leben hingibt, wird Schließlich allen Menschen so fremd, daß jedes Verhältnis, selbst das schönste und zarteste, ihm gleichgültig wird. Nein, in dem Sinn ist's gewiß nicht gemeint, daß man Gott mehr als Vater und Mutter lieben soll; so selbstsüchtig ist Gott nicht, auch ist er kein Dichter, dem es Freude macht, die Menschen durch gräßliche Kollisionen zu quälen, und Gräßlicheres läßt sich kaum denken, als wenn wirklich eine Kollision zwischen der Liebe zu Gott und der Liebe zu den Menschen, zu welchen er die Liebe in unsre eignen Herzen hineingelegt hat, möglich wäre. Du hast wohl noch nicht den jungen Ludwig Blackfeld vergessen, mit dem wir vor einigen Jahren viel verkehrten, ich insonderheit. Er war gewiß ein sehr begabter junger Mann, sein Unglück war, daß er sich einseitig in einen weniger christlichen als indischen Mystizismus verlor. Hätte er im Mittelalter gelebt, so würde er ohne Zweifel in einem Kloster den rechten Zufluchtsort gefunden haben. Unsre Zeit hat solche Zufluchtsörter nicht mehr. Verirrt ein Mensch sich, so muß er notwendig zu Grunde gehen, wenn er nicht ganz geheilt wird; ein solch relatives Heil können wir ihm nicht bieten. Du weißt, daß er seinem Leben durch einen Selbstmord ein Ende machte. Er schloß sich mir mit einem gewissen Vertrauen an, wenn er damit auch selber mit seiner Lieblingstheorie brach, nach welcher man sich in kein Verhältnis zu einem Menschen setzen dürfe, sondern nur unmittelbar mit Gott verkehren müsse. Groß war sein Vertrauen zu mir jedoch nicht, denn er öffnete mir niemals sein Herz ganz und voll. In dem letzten halben Jahr seines Lebens war ich mit Angst Zeuge seiner exzentrischen Bewegungen. Schließlich machte er seinem Leben durch einen Selbstmord ein Ende; niemand konnte diesen Schritt erklären. Sein Arzt meinte, es sei partieller Wahnsinn; das war eine sehr vernünftige Ansicht vom Arzt. In gewissem[539] Sinn war sein Geist bis zum letzten Augenblick ungeschwächt. Du weißt vielleicht nicht, daß ein Brief von ihm an seinen Bruder, den Justizrat, existiert, in dem er ihm mitteilt, daß er die Absicht habe, sich das Leben zu nehmen. Ich lege eine Abschrift an. Der Brief hat eine erschütternde Wahrheit und ist ein objektiver Ausdruck für die letzte Agonie der vollkommenen Isolation.7

Der arme Ludwig war gewiß nicht religiös bewegt, aber doch mystisch bewegt; denn das Eigentümliche im Mystischen ist nicht das Religiöse, sondern die Isolation, in welcher das Individuum sich, ohne die Verhältnisse zu der gegebenen Wirklichkeit zu berücksichtigen, in unmittelbaren Rapport zum Ewigen setzen will. Daß man, sobald man das Wort Mystik hört, gleich an etwas Religiöses denkt, hat seinen Grund darin, daß das Religiöse eine Neigung hat, das Individuum zu isolieren, etwas, wovon die einfachste Beobachtung Dich überzeugen kann. Du gehst vielleicht nur selten in die Kirche, aber Du beobachtest um so mehr. Hast Du nicht bemerkt, daß, obgleich[540] man in gewissem Sinn den Eindruck einer Gemeinde empfängt, der einzelne sich doch isoliert fühlt? man bleibt einander fremd, erst auf einem langen Umweg finden sich die einzelnen. Und woher kommt das, wenn nicht daher, daß der einzelne sein Gottesverhältnis so stark in seiner ganzen Innerlichkeit fühlt, daß seine irdischen Verhältnisse ganz ihre Bedeutung verlieren. Für einen gesunden Menschen wird dieser Augenblick nicht lange währen, und eine solche momentane Entfernung ist durchaus kein Betrug, vielmehr macht er die irdischen Verhältnisse noch fester und inniger. Was aber für einen Moment gesund sein kann, wird, einseitig entwickelt, eine sehr bedenkliche Krankheit.

Da ich keine theologische Bildung besitze, ist's mir nicht möglich, den religiösen Mystizismus eingehender zu skizzieren. Ich habe ihn mir von meinem ethischen Gesichtspunkt aus betrachtet, und habe dem Worte Mystizismus daher – ich möchte annehmen, mit Recht – größeren Umfang zuerkannt, als man ihm gewöhnlich zu geben pflegt. Daß sich in dem religiösen Mystizismus sehr viel Schönes findet, daß die vielen tiefen und ernsten Naturen, die sich ihm ergaben, in ihrem Leben vieles erfahren haben und dadurch tüchtig geworden sind, andern, die sich auf diesen gefährlichen Weg hinauswagen, mit Rat und That zu dienen, daran zweifle ich keinen Augenblick; aber dessenungeachtet bleibt dieser Weg nicht mir ein gefährlicher, sondern auch ein falscher. Immer liegt eine Inkonsequenz in demselben.

Achtet der Mystiker überhaupt nicht die realen Lebensverhältnisse, so sieht man nicht ein, weshalb er nicht mit demselben Mißtrauen den realen Moment betrachtet, in welchem er von dem Höheren berührt ward.

Des Mystikers Fehler ist also nicht der, daß er sich selber wählt – denn daran thut er meiner Anschauung nach wohl - , sondern, daß er sich nicht richtig wählt; er wählt nach seiner Freiheit, und wählt doch nicht ethisch; man kann sich selber aber nur nach seiner Freiheit wählen, wenn man sich ethisch wählt; ethisch aber kann man sich selber nur in der Reue über sein eignes Ich wählen, denn nur dadurch wird man selber konkret, und nur als konkretes Individuum[541] ist man ein freies Individuum. Der Fehler des Mystikers liegt daher nicht in etwas Späterem, sondern in der allerersten Bewegung. Sieht man diese als richtig an, so ist jede Entfernung vom Leben, jede asketische Selbstquälerei nur eine weitere und richtige Konsequenz. Der Fehler des Mystikers ist der, daß er in der Wahl weder vor sich selber noch vor Gott konkret wird; er wählt sich selber abstrakt, und daher fehlt ihm die Durchsichtigkeit. Wenn man nämlich glaubt, daß das Abstrakte das Durchsichtige sei, so irrt man; das Abstrakte ist das Unklare, Nebelhafte. Sein Verliebtsein in Gott hat daher seinen höchsten Ausdruck in einem Gefühl, in einer Stimmung; in der Abenddämmerung, zur Zeit der Nebel schmilzt er mit seinem Gott in unbestimmten Bewegungen zusammen. Aber wenn man sich selber abstrakt wählt, so wählt man sich nicht ethisch. Erst wenn man in der Wahl sich selber – ich möchte sagen – übernommen, sich selber total so durchdrungen hat, daß jede Bewegung von dem Bewußtsein einer hohen Verantwortlichkeit für sein ganzes Leben begleitet wird, erst dann hat man sich selber ethisch gewählt, erst dann hat man in Reue leid über sich selber getragen, erst dann ist man konkret, erst dann ist man in seiner totalen Isolation in absoluter Kontinuität mit der Wirklichkeit, der man angehört.

Auf die Bestimmung, daß »sich selber wählen« und »in Reue über sich selber leidtragen« identische Begriffe sind, kann ich nicht oft genug zurückkommen, wie einfach dieselbe im übrigen auch sein mag. Darum dreht sich alles. Der Mystiker kennt auch die Reue; aber das ist eine Reue aus sich selber heraus, nicht in sich selber hinein, es ist eine metaphysische, keine ethische Reue. Die ästhetische Reue ist abscheulich, weil sie sehr weichlicher Natur ist; die metaphysische Reue ist ein unzeitiger Luxus, denn das Individuum hat die Welt ja nicht geschaffen und braucht es sich nicht so sehr zu Herzen zu nehmen, wenn die Welt der Eitelkeit unterworfen ist und überhaupt nicht so ist, wie sie sein sollte. Der Mystiker wählt sich selber abstrakt, und deshalb muß auch seine Reue abstrakt sein. Das sieht man am besten aus dem Urteil der Mystik über die Welt, die endliche Wirklichkeit, in welcher er doch lebt. Der Mystiker sagt nämlich, sie sei Eitelkeit, Täuschung, Sünde; aber das sind metaphysische[542] Urteile und bestimmen mein Verhältnis zu ihr nicht ethisch. Selbst wenn er behauptet, die Endlichkeit sei Sünde, so sagt er damit im Grunde doch dasselbe, als wenn er sie die Eitelkeit nennt. Will er dagegen das Wort »Sünde« ethisch nehmen, so bestimmt er sein Verhältnis zu derselben nicht ethisch, sondern metaphysisch, denn der ethische Ausdruck würde nicht heißen »entfliehe ihr«, sondern »gehe in dieselbe ein, nimm sie auf, pflege sie.« Die ethische Reue hat nur zwei Bewegungen, entweder hebt sie ihren Gegenstand auf oder sie trägt ihn. Diese beiden Bewegungen deuten auch ein konkretes Verhältnis zwischen dem Individuum, das in Reue leidträgt, und dem Gegenstand seiner Reue an, wohingegen die Bewegung des Entfliehens ein abstraktes Verhältnis ausdrückt.

Der Mystiker wählt sich selber abstrakt; man kann daher sagen: Indem er sich selber wählt, kommt er mehr und mehr von der Welt hinweg; aber die Folge ist, daß er nicht wieder zur Welt zurückkehren kann. Die wahre konkrete Wahl aber entführt mich nicht nur der Welt, sondern bringt mich im selben Augenblick wieder zurück. Wenn ich mich nämlich durch die Reue selber wähle, so sammle ich mich selbst in meiner ganzen endlichen Konkretion, und indem ich also durch die Wahl aus der Endlichkeit herausgekommen bin, bin ich in die absoluteste Kontinuität mit derselben getreten.

Da der Mystiker sich selber abstrakt wählt, ist es sein Unglück, daß er so schwer in Bewegung kommt, oder richtiger, daß es ihm unmöglich ist. Wie es Dir mit Deiner irdischen ersten Liebe geht, so geht es dem Mystiker mit seiner religiösen ersten Liebe. Er hat ihre ganze Seligkeit geschmeckt, und wartet nun immer, ob sie ihm in ebenso großer Herrlichkeit wiedererscheinen werde, und da kann ihm leicht ein Zweifel kommen, ob nämlich die Entwickelung nicht vorwärts, sondern rückwärts schreite, und damit ist die Furcht verbunden, es möchte das Leben ihm rauben, was er einmal besessen. Wollte man daher einen Mystiker nach der Bedeutung des Lebensfragen, so würde er vielleicht antworten: Daß ich Gott kenne und mich in ihn verlieben lerne. Das ist jedoch keine Antwort auf jene Frage; denn hier ist die Bedeutung des Lebens als Moment aufgefaßt, nicht als Succession. Wenn ich ihn daher weiter fragte:[543] Welche Bedeutung hat es für das Leben, daß das Leben diese Bedeutung gehabt hat, oder mit andern Worten: Was ist die Bedeutung der Zeitlichkeit? so weiß er nicht viel zu antworten, wenigstens nicht viel Erfreuliches. Sagt er, die Zeitlichkeit sei eine Feindin, die überwunden werden müsse, so müßte man fragen, ob es denn gar keine Bedeutung habe, daß diese Feindin überwunden ward. Das meint der Mystiker nun eigentlich nicht, und am liebsten wäre er doch mit der Welt fertig. Wie er daher die Wirklichkeit verkannte und sie metaphysisch als Eitelkeit auffaßte, so verkennt er auch das Historische und faßt es metaphysisch als vergebliche Mühe auf. Die höchste Bedeutung, die er der Zeitlichkeit zuerkennt, ist die, daß sie eine Prüfungszeit ist, in welcher man wieder und wieder geprüft wird, ohne daß doch eigentlich etwas daraus resultiert, oder daß man weiter gekommen ist als man anfangs war. Das ist jedoch eine Verkennung der Zeitlichkeit; denn wohl behält dieselbe immer etwas von einer ecclesia pressa an sich, aber sie ist zugleich die Möglichkeit der Verherrlichung des endlichen Geistes. Das ist gerade das Schöne in der Zeitlichkeit, daß ein unendlicher und der endliche Geist sich in derselben scheiden, und es ist gerade die Größe des endlichen Geistes, daß die Zeitlichkeit ihm angewiesen ist. Die Zeitlichkeit ist also, wenn ich so sagen darf, nicht um Gottes willen da, damit er – um mich mystisch auszudrücken – in ihr den Liebenden prüfen und versuchen kann, sondern sie ist um des Menschen willen da, und ist die größte aller Gnadengaben. Darin liegt nämlich eines Menschen ewiger Wert, daß er eine Geschichte haben kann; darin liegt das Göttliche desselben, daß er, wenn er will, dieser Geschichte selbst eine Kontinuität geben kann; denn diese letztere findet die Geschichte erst, wenn sie nicht nur das alles, was geschehen und mir geschehen ist, in sich schließt, sondern wenn sie meine eigne That ist, also daß selbst das, was mir begegnet ist, durch mich Verwandelt und aus der Notwendigkeit in die Freiheit hinübergeführt wird. Das ist das Beneidenswerte eines Menschenlebens, daß man Gott zu Hilfe kommen, ihn verstehen kann, und das ist wieder die einzige, eines Menschen würdige Weise, ihn zu verstehen, daß man sich in Freiheit alles aneignet, was einem geschickt wird, sowohl[544] die Freude wie den Schmerz. Oder scheint's Dir nicht so? Mir kommt es so vor, ja, es scheint mir, man brauchte es einem Menschen nur laut zu sagen, um ihn neidisch auf sich selber zu machen.

Die beiden hier angedeuteten Standpunkte könnten nur als ein Versuch angesehen werden, eine ethische Lebensanschauung zu realisieren. Der Grund aber, weshalb es nicht gelingt, ist der, daß das Individuum sich selber in seiner Isolation gewählt, oder daß es sich selber abstrakt gewählt hat. Das kann nun auch so ausgedrückt werden: das Individuum hat sich selber nicht ethisch gewählt. Selbiger Mensch ist daher nicht im Zusammenhang mit der Wirklichkeit, und wenn dies der Fall ist, dann kann keine ethische Lebensanschauung durchgeführt werden. Wer sich selber aber ethisch wählt, der wählt sich konkret als dieses bestimmte Individuum; das Individuum bleibt sich da als dieses bestimmten Individuums bewußt, mit den besonderen Gaben und Neigungen, Trieben und Leidenschaften, beeinflußt von einer bestimmten Umgebung, kurz als dieses bestimmte Produkt einer bestimmten Welt. Aber indem ein Mensch sich also seiner selbst bewußt wird, übernimmt er das alles und unterwirft es seiner Verantwortung. Er häsitiert nicht, ob er das Einzelne mitnehmen soll oder nicht; denn er weiß es, daß etwas viel Höheres verloren geht, wenn er es nicht thut. Im Augenblick der Wahl ist er in der vollkommensten Isolation, denn er zieht sich ganz aus seiner Umgebung zurück; und doch ist er im selben Moment in absoluter Kontinuität, denn er wählt sich selber als Produkt; und diese Wahl ist eine vollkommen freie Wahl, also daß es, wenn er sich selber als Produkt wählt, ebensogut von ihm gesagt werden kann, daß er sich selber produziert. Er ist im Augenblick der Wahl am Ende, denn seine Persönlichkeit schließt sich zusammen; und doch ist er im selben Augenblick gerade am Anfang, denn er wählt sich selber nach seiner Freiheit. Als Produkt ist er in die Formen der Wirklichkeit eingeengt, in der Wahl macht er sich selber elastisch, verwandelt seine ganze Äußerlichkeit in Innerlichkeit. Er hat seinen Platz in der Welt, in der Freiheit wählt er selbst seinen Platz, daß heißt, er wählt diesen Platz. Er ist ein bestimmtes Individuum, in[545] der Wahl macht er sich selbst zu einem bestimmten Individuum, zu demselben nämlich; denn er wählt sich selbst.

Das Individuum wählt sich selbst als eine mannigfach bestimmte Konkretion, und wählt sich daher nach seiner Kontinuität. Diese Konkretion ist die Wirklichkeit des Individuums; aber da er sie nach seiner Freiheit wählt, so kann man auch sagen, daß sie seine Möglichkeit ist, oder, um nicht einen so ästhetischen Ausdruck zu gebrauchen, daß sie seine Aufgabe ist. Wer ästhetisch lebt, sieht nämlich überall nur Möglichkeiten, diese machen für ihn den Inhalt der zukünftigen Zeit aus, während derjenige Mensch, der ethisch lebt, überall Aufgaben sieht. Diese seine wirkliche Konkretion sieht das Individuum also als seine Aufgabe, als seinen Zweck, als sein Ziel an. Wenn aber vom Individuum gesagt wird, daß es seine Möglichkeit als seine Aufgabe ansieht, dann drückt das gerade seine Souveränität über sich selber aus, die er niemals aufgibt, wenn er sich anderseits auch nicht gerade in der höchst ungenierten Souveränität gefaßt, die ein König ohne Land immer hat. Das gibt dem ethischen Individuum eine Sicherheit, die dem, der nur ästhetisch lebt, ganz und gar fehlt. Wer ästhetisch lebt, erwartet alles von außen her. Daher die krankhafte Angst, mit welcher viele Menschen davon sprechen, es sei so schrecklich, wenn man nicht seinen Platz in der Welt gefunden habe. Wer will's leugnen, daß es gar schön ist, wenn man da wirklich einen glücklichen Griff gethan hat; aber eine solche Angst deutet immer darauf hin, daß das Individuum alles vom Platze, nichts von sich selber erwartet. Auch wer ethisch lebt, wird suchen, daß er seinen Platz richtig wähle; merkt er indessen, daß er sich geirrt hat, oder daß sich Hindernisse erheben, die nicht in seiner Macht stehen, so verliert er den Mut nicht; denn die Souveränität über sich selber gibt er nicht auf. Er sieht daher sofort seine Aufgabe, und handelt augenblicklich. So findet man auch oft Menschen, die sich fürchten, sie möchten, wenn sie sich einmal verlieben, nicht ein Mädchen bekommen, das gerade das Ideal ist, welches für sie paßt. Wer will's leugnen, daß es eine wahre Freude ist, wenn man solch ein Mädchen findet; aber anderseits ist's doch ein Aberglaube, daß das, was außerhalb eines Menschen liegt, ihn[546] glücklich machen kann. Auch wer ethisch lebt, wünscht in seiner Wahl glücklich zu sein; zeigt es sich jedoch, daß die Wahl nicht ganz nach Wunsch ausgefallen ist, so verliert er den Mut nicht, er erkennt sofort seine Aufgabe, und daß die Kunst nicht im Wünschen, sondern im Wollen besteht. Viele, die doch eine Ahnung davon haben, was ein Menschenleben ist, möchten wohl Zeugen großer Begebenheiten sein und in bedeutungsvollen Lebensverhältnissen eine Stimme haben. Wer will leugnen, daß solcher Wunsch seine Berechtigung hat; anderseits aber ist's auch wieder Aberglaube, zu meinen, daß Begebenheiten und Lebensverhältnisse als solche einen Menschen zu etwas machen. Wer ethisch lebt, weiß, daß er sich in den unbedeutendsten Lebensverhältnissen und durch sie selber bilden und in ihnen mehr erleben kann, als wer Zeuge merkwürdiger Begebenheiten gewesen ist oder gar selber in dieselben eingegriffen hat. Er weiß es, daß überall ein Tanzplatz ist, daß selbst der unbedeutendste Mensch einen solchen hat, daß sein Tanz, wenn er will, ebenso schön, ebenso graziös, ebenso mimisch, ebenso bewegt sein kann wie derer, denen ein Platz in der Geschichte angewiesen ist. Diese Fechter-Tüchtigkeit, diese Gewandheit ist's, die eigentlich das unsterbliche Leben im Ethischen ist. Von dem, der ästhetisch lebt, gilt das alte Wort: Sein oder nicht sein, und je ästhetischer er leben darf, um so mehr Bedingungen fordert sein Leben, und wenn nur die geringste derselben nicht erfüllt wird, so ist er tot; wer ethisch lebt, hat immer einen Ausweg, wenn sich alles wider ihn verschwört, wenn dunkle Wolken ihn so verhüllen, daß selbst sein Nachbar ihn nicht sehen kann, er geht doch nicht unter, es bleibt immer ein Punkt, an dem er festhält, und das ist – er selber.

Nur eins will ich nicht unterlassen, einzuschärfen, daß, sobald die Gymnastik des Ethikers zu einem Experimentieren wird, er aufgehört hat, ethisch zu leben. All solches gymnastische Experimentieren ist nichts andres, als was auf dem Gebiet des Denkens die Sophistik ist.

Hier will ich nun an die Bestimmung erinnern, die ich von dem Ethischen gegeben habe. Ich sagte: Es ist das, wodurch ein Mensch wird, was er wird. Es wird das Individuum nicht in ein andres Wesen verwandeln, sondern es je mehr und mehr zu dem[547] machen, was es schon war; es wird das Ästhetische nicht vernichten, sondern verklären. Damit ein Mensch ethisch leben könne, ist es notwendig, daß er sich dessen bewußt wird, so durchgreifend, daß nichts Zufälliges ihm entgeht. Diese Konkretion will das Ethische nicht zerstören, sondern sieht in ihr gerade ihre Aufgabe, sieht das, woraus sie bilden und das, was sie bilden soll. Im allgemeinen betrachtet man das Ethische ganz abstrakt und hat daher ein geheimes Grauen vor demselben. Das Ethische wird als etwas betrachtet, was der Persönlichkeit fremd ist, und man wehrt sich mit Händen und Füßen, ehe man sich ihm ergibt, da man doch nicht recht sicher sein kann, wohin es mit der Zeit kommen kann. So fürchten sich auch viele Menschen vor dem Tode, weil sie dunkle und unklare Vorstellungen nähren, es solle die Seele im Tode in eine andre Ordnung der Dinge übergehen, wo Gesetze und Sitten herrschten, die ganz verschieden von denen seien, die sie in dieser Welt kennen gelernt haben. Der Grund zu solcher Furcht vor dem Tode ist der, daß das Individuum sich so schwer entschließen kann, sich selber durchsichtig zu werden; denn sobald man das will, sieht man leicht das Thörichte dieser Furcht ein. So ist's auch mit dem Ethischen. Wenn ein Mensch sich fürchtet, sich selber durchsichtig zu werden, so flieht er immer vor dem Ethischen, denn etwas andres will dieses eigentlich nicht.

Im Gegensatz zu einer ästhetischen Lebensanschauung, die das Leben genießen will, hört man oft eine andre Lebensanschauung erwähnen, nämlich diejenige, welche die Bedeutung des Lebens darin erkennt, daß man der Erfüllung seiner Pflichten lebt. Damit meint man denn auch zugleich eine ethische Lebensanschauung zu bezeichnen. Der Ausdruck ist indessen sehr unvollkommen, und fast sollte man glauben, er sei erfunden, um das Ethische in Mißkredit zu bringen. Jedenfalls wird es in unsrer Zeit oft so gebraucht, daß man fast lächeln muß, wie wenn Scribe z.B. diesen Satz mit einem gewissen niedrig-komischen Ernst vortragen läßt, der einen sehr mißrekommandierenden Gegensatz zur Freude des Genusses bildet. Der Fehler ist der, daß das Individuum in ein äußerliches Verhältnis zur[548] Pflicht gesetzt wird. Das Ethische wird als Pflicht bestimmt, und Pflicht wieder als eine Mannigfaltigkeit einzelner Sätze, während das Individuum und die Pflicht außerhalb einander stehen. Ein solches Pflichtleben ist natürlich sehr unschön und langweilig, und hätte das Ethische nicht einen viel tieferen Zusammenhang mit der Persönlichkeit, so würde es immer sehr schwierig sein, dasselbe dem Ästhetischen gegenüber zu verfechten. Daß es viele Menschen gibt, die nicht weiter kommen, will ich nicht leugnen; aber das liegt nicht in der Pflicht, sondern in den Menschen.

Seltsam genug, daß man bei dem Wort »Pflicht« an ein äußerliches Verhältnis denken kann, da schon die Derivation dieses Wortes es andeutet, daß es ein innerliches Verhältnis ist; denn was mir aufliegt, nicht als diesem zufälligen Individuum, sondern nach meinem wahren Wesen, das steht ja doch in dem innigsten Verhältnis zu mir selber. Wenn die Pflicht so angesehen wird, dann ist es ein Beweis dafür, daß das Individuum in sich selber orientiert ist. Die Pflicht wird sich ihm da nicht in vielen einzelnen Bestimmungen zersplittern; denn das deutet immer darauf hin, daß ein Mensch nur in einem äußerlichen Verhältnis zu derselben steht. Er hat die Pflicht angezogen, sie ist ihm der Ausdruck seines innersten Wesens. Hat er sich so in sich selber orientiert, dann hat er sich in das Ethische vertieft, und er wird sich nicht außer Atem rennen, um seine Pflichten zu erfüllen. Das wahre ethische Individuum hat daher Ruhe und Sicherheit in sich selber. Je tiefer ein Mensch sein Leben ethisch angelegt hat, um so weniger wird er das Bedürfnis fühlen, jeden Augenblick von der Pflicht zu reden, jeden Augenblick in Angst zu sein, ob er sie erfüllen werde, jeden Augenblick mit andern zu überlegen, was doch seine Pflicht sei. Wird das Ethische richtig angesehen, so macht dasselbe das Individuum unendlich sicher in sich selber; wo nicht, in hohem Grade unsicher, und ich kann mir keine unglücklichere oder qualvollere Existenz denken, als wenn ein Mensch die Pflicht immer nur vor sich sieht und sie doch beständig realisieren will.

Sieht man das Ethische außerhalb der Persönlichkeit und in einem äußern Verhältnis zu dieser letzteman, so hat man alles aufgegeben, so hat man verzweifelt. Das Ästhetische als solches ist Verzweiflung,[549] das Ethische ist das Abstrakte und als solches unvermögend, auch nur das Geringste zu schaffen. Begegnen einem daher zuweilen Menschen, die mit einem gewissen redlichen Eifer sich keine Mühe verdrießen lassen, das Ethische zu realisieren, obgleich es immer wie ein Schatten vor ihnen flieht, sobald sie danach greifen, so ist das zugleich komisch und tragisch.

Das Ethische ist das Allgemeine und also das Abstrakte. In seiner Vollkommenen Abstraktion ist das Ethische daher immer verbietend, und tritt aus diesem Grunde als Gesetz auf. Sobald das Ethische befehlend ist, hat es bereits etwas von dem Ästhetischen an sich. Die Juden waren das Volk des Gesetzes. Sie verstanden daher die meisten Gebote im Gesetze herrlich; aber das Gebot, das sie nicht scheinen verstanden zu haben, war das Gebot, an welches das Christentum vor allem anknüpfte; Du sollst lieben Gott von ganzem Herzen und aus allen deinen Kräften. Dieses Gebot ist auch nicht negativ, es ist noch viel weniger abstrakt, sondern im höchsten Grade positiv und im höchsten Grade konkret. Wird das Ethische konkreter, dann geht es zur Bestimmung der Sitten über. Aber die Realität des in dieser Beziehung Ethischen liegt in der Realität einer nationalen Individualität, und hier hat das Ethische bereits ein ästhetisches Moment in sich aufgenommen. Jedoch ist das Ethische noch abstrakt und läßt sich nicht ganz und voll realisieren, weil es außerhalb des Individuums liegt. Erst wenn das Individuum selber das Allgemeine ist, erst dann läßt sich das Ethische realisieren. Und es ist das Geheimnis, das im Gewissen liegt, das Geheimnis, welches das individuelle Leben in sich selber trägt, daß es zugleich ein individuelles Leben und doch das allgemeine ist, wenn auch nicht unmittelbar als solches, so doch nach seiner Möglichkeit. Wer das Leben ethisch betrachtet, sieht das Allgemeine, und wer ethisch lebt, drückt in seinem Leben das Allgemeine aus, macht sich zu dem allgemeinen Menschen, nicht dadurch, daß er seine Konkretion ablegt, denn dann würde er zu einem absoluten Nichts, sondern dadurch, daß er dieselbe anlegt und sie mit dem Allgemeinen durchdringt. Der allgemeine Mensch ist nämlich kein Phantom, sondern jeder Mensch ist der allgemeine Mensch, will sagen, jedem Menschen ist der Weg gezeigt, auf welchem[550] er zu dem allgemeinen Menschen werden kann. Wer ästhetisch lebt, ist der zufällige Mensch, er glaubt, dadurch der vollkommene Mensch zu sein, daß er der einzige Mensch ist. Wer ethisch lebt, arbeitet dahin, daß er der allgemeine Mensch wird. Wenn ein Mensch ästhetisch verliebt ist, so spielt das Zufällige eine ungeheure Rolle, und es ist ihm von großer Wichtigkeit, daß niemand so geliebt hat, mit den Nüancen, wie er; wenn der, der ethisch lebt, sich verheiratet, so realisiert er das allgemeine. Er wird daher kein Hasser des Konkreten werden, sondern er hat nur einen Ausdruck mehr, tiefer als jeden ästhetischen Ausdruck, indem er in der Liebe eine Offenbarung des allgemein Menschlichen sieht. Wer ethisch lebt, hat sich selber als seine Aufgabe. Sein »Selbst« ist unmittelbar zufällig bestimmt, und seine Aufgabe, das Zufällige mit dem Allgemeinen zu verarbeiten.

Das ethische Individuum hat also die Pflicht nicht außerhalb seines Ich, sondern in sich; im Augenblick der Verzweiflung kommt dieses ans Licht und arbeitet sich nun durch das Ästhetische in und mit demselben heraus. Von dem ethischen Individuum kann man sagen, es sei wie das stille Wasser, das einen tiefen Grund hat, während der, der ästhetisch lebt, nur oberflächlich bewegt ist. Wenn daher das ethische Individuum seine Aufgabe vollendet, den guten Kampf gekämpft hat, dann ist es – der einzige Mensch geworden, das heißt, es ist kein Mensch wie er, und zugleich, er ist – der allgemeine Mensch geworden. Der einzige Mensch sein ist an und für sich noch nichts Besondres, denn das hat jeder Mensch mit jedem Naturprodukt gemein; aber es so sein, daß er darin zugleich das Allgemeine ist, das ist die wahre Lebenskunst.

Die Persönlichkeit hat also das Ethische nicht außerhalb ihres Ich, sondern in sich, und dasselbe bricht aus dieser Tiefe hervor. Es gilt dann, wie gesagt, daß sie nicht in einem abstrakten und inhaltslosen Sturm das Konkrete vernichtet, sondern es sich assimiliert. Da das Ethische nun aber so tief in der Seele liegt, fällt's nicht immer in die Augen, und ein Mensch, der ethisch lebt, kann ganz dasselbe thun, wie einer, der ästhetisch lebt, also daß man lange getäuscht werden kann; endlich aber kommt ein Augenblick, wo es sich zeigt, daß, wer ethisch lebt, eine Grenze hat, die der andre nicht kennt.[551]

In der tiefen Überzeugung, daß sein Leben ethisch angelegt ist, ruht das Individuum mit voller Sicherheit, und plagt daher weder sich selbst noch andre mit spitzfindigen, ängstlichen Fragen über dieses oder jenes. Daß nämlich derjenige, welcher ethisch lebt, ein ganzes Spatium für das Indifferente hat, finde ich ganz in Ordnung, und es ist sogar eine Veneration für das Ethische, daß man es nicht in jede Kleinigkeit hineinzwängen will. Ein solches Streben, das außerdem immer mißglückt, findet man auch nur bei denen, die nicht den Mut haben, an das Ethische zu glauben, und denen in tieferm Sinn die innere Sicherheit fehlt. Es gibt Menschen, deren Pusillanimität man eben daran erkennt, daß sie niemals mit dem Totalen fertig werden, weil das gerade für sie das Mannigfache ist; aber diese liegen auch außerhalb des Ethischen, natürlich aus keinem andern Grunde als wegen der Schwachheit des Willens, die wie alle andre Geistesschwachheit als ein gewisser Wahnsinn betrachtet werden kann. Solche Menschen haben weder von dem schönen und reinen Ernst des Ethischen, noch von der sorglosen Freude des Indifferenten ein Ahnung. Jedoch ist das Indifferente natürlich für das ethische Leben dethronisiert, und er kann ihm jeden Augenblick eine Grenze setzen. So glaubt man auch, daß eine Vorsehung existiert, und sicher ruht die Seele in dieser Gewißheit, und doch denkt man nicht daran, jeden Zufall mit diesem Gedanken zu durchdringen, oder jede Minute sich dieses Glaubens bewußt zu werden. Das Ethische wollen ohne von dem Indifferenten gestört zu werden, an eine Vorsehung glauben, ohne sich vom Zufall stören zu lassen, das ist eine Gesundheit, die erworben und bewahrt werden kann, wenn ein Mensch es selber will. Auch da gilt's, die Aufgabe ins Auge zu fassen; das aber ist die Aufgabe: es muß ein Mensch, wenn er leicht geneigt ist, sich so zerstreuen zu lassen, Widerstand leisten und das Unendliche festhalten.

Wer sich selber ethisch wählt, hat sich selber als seine Aufgabe. Ethisch kann er sich nur dann wählen, wenn er sich in Kontinuität wählt, und aus diesem Grunde hat er sich selber als eine mannigfach bestimmte Aufgabe. Diese Mannigfaltigkeit sucht er nicht auszulöschen oder zu verflüchtigen, vielmehr hält er sich durch die Reue krampfhaft an ihr fest, denn diese Mannigfaltigkeit ist er selber, und[552] nur dadurch, daß er sich durch die Reue in sie vertieft, kann er zu sich selber kommen, da er nicht annimmt, daß die Welt mit ihm anfängt, oder daß er sich selber schafft. Aber indem er sich durch die Reue selber wählt, ist er handelnd, jedoch nicht, um sich in der Isolation von andern abzuschließen, sondern um sich in der Kontinuität mit ihnen zusammenzuschließen.

Laß uns nun einmal ein ethisches und ein ästhetisches Individuum vergleichen. Der Unterschied, um den sich alles dreht, ist der, daß das ethische Individuum sich selber durchsichtig ist und nicht ins Blaue hineinlebt, wie es das ästhetische Individuum thut. Mit diesem Unterschiede ist alles gegeben. Wer ethisch lebt, hat sich selber gesehen, kennt sich selber, durchdringt mit seinem Bewußtsein seine ganze Konkretion, läßt unbestimmte Gedanken nicht in seinem Geiste umherschwärmen und läßt sich nicht von versucherischen Möglichkeiten zerstreuen – er kennt sich selber. Der Ausdruck gnôthi seauton ist oft genug wiederholt worden, und man hat in demselben das Ziel für das ganze Streben des Menschen gesehen. Das ist auch sehr richtig, aber doch ist es ebenso gewiß, daß es nicht das Ziel sein kann, wenn es nicht zugleich der Anfang ist. Das ethische Individuum kennt sich selber, aber das ist nicht nur eine Kontemplation, denn dann bliebe das Individuum nach seiner Notwendigkeit bestimmt, es ist ein Besinnen auf sich selbst, das selber ein Handeln ist, und daher habe ich absichtlich den Ausdruck gebraucht: sich selber wählen, und nicht: sich selber kennen. Indem das Individuum sich selber kennt, ist es nicht fertig, vielmehr ist diese Selbsterkenntnis in hohem Grade fruchtbar, und aus dieser innern Arbeit geht das wahre Individuum hervor. Wenn ich geistreich sein wollte, könnte ich sagen, daß das Individuum sich selber in ähnlicher Weise kennt, wie wenn es im alten Testament heißt, daß Adam Eva erkannte. Durch den Umgang des Individuums mit sich selber wird das Individuum von sich selber geschwängert und gebiert sich selbst. Das Selbst, welches das Individuum kennt, ist zugleich das wirkliche Selbst, und das ideale Selbst, welches das Individuum außerhalb seines Ich hat, dem Bilde gleich, nach welchem es sich bilden soll, und das es anderseits doch in sich hat, da es dasselbe selbst ist. Nur in sich selber[553] hat das Individuum das Ziel, nach welchem es streben soll, und doch hat es dieses Ziel außer sich, indem es danach strebt. Glaubt das Individuum nämlich, daß der allgemeine Mensch außerhalb seines Selbst liegt, daß er von außen her ihm entgegenkommen soll, dann ist es desorientiert, dann hat es eine abstrakte Vorstellung, und seine Methode bleibt immer eine abstrakte Vernichtung des ursprünglichen Selbst. Nur in sich selber kann das Individuum über sich selber Auskunft erhalten. Daher hat das ethische Leben diesen doppelten Charakter, daß das Individuum sich selber außerhalb seines Ich in sich selber hat. Das typische Selbst ist jedoch das unvollkommene Selbst, denn es ist nur eine Weissagung, und daher nicht das wirkliche. Indessen begleitet es ihn beständig; aber je mehr er es realisiert, um so mehr verschwindet es in ihm, bis es zuletzt, statt sich vor ihm zu zeigen, hinter ihm liegt als eine verblichene Möglichkeit. Es geht mit diesem Bilde wie mit dem Schatten des Menschen. Am Morgen wirft der Mensch seinen Schatten vor sich, mittags geht derselbe fast unbemerkt neben ihm, abends fällt er hinter ihn. Wenn das Individuum sich selber erkannt und sich selber gewählt hat, so fängt es an, sich selber zu realisieren; da ein Mensch sich aber frei realisieren soll, so muß er wissen, was er realisieren will. Was er realisieren will, ist er nun wohl selber, aber er ist sein ideales Selbst, das er doch nirgend anders als in sich selber findet. Hält man daran fest, daß das Individuum das ideale Selbst in sich selber hat, so bleibt sein Dichten und Trachten abstrakt. Wer einen andern Menschen, oder wer den normalen Menschen kopieren will, beide werden, wenn auch in verschiedener Weise, gleich affektiert.

Das ästhetische Individuum betrachtet sich selbst in seiner Konkretion und distinguiert nun inter et inter. Es hält dieses für zufällig ihm angehörend, jenes für wesentlich. Diese Distinktion ist indessen äußerst relativ; denn solange ein Mensch nur ästhetisch lebt, gehört ihm eigentlich alles gleich zufällig an, und es ist nur Mangel an Energie, wenn ein ästhetisches Individuum diese Distinktion festhält. Das ethische Individuum hat es in Verzweiflung gelernt, und hat daher eine andre Distinktion; denn auch dieses unterscheidet zwischen dem Wesentlichen und dem Zufälligen. Alles was durch seine Freiheit[554] gesetzt ist, gehört ihm wesentlich an, wie zufällig es auch scheinen kann, alles aber, was das nicht ist, ist ihm zufällig, wie wesentlich es auch scheinen kann. Diese Distinktion ist jedoch für das ethische Individuum keine Frucht seiner Willkür, so daß es scheinen könnte, es könne aus sich selber machen, was es wolle. Wohl darf das ethische Individuum den Ausdruck gebrauchen, daß es sein eigner Redakteur ist, aber es ist sich zugleich voll bewußt, daß es verantwortlich ist; verantwortlich für sich selber in persönlicher Bedeutung, sofern es entscheidenden Einfluß auf ihn selber haben wird, was er wählt, verantwortlich aber auch der Ordnung der Dinge gegenüber, in welcher er lebt, verantwortlich endlich Gott gegenüber. So angesehen ist die Distinktion, wie ich glaube, richtig; denn wesentlich gehört es doch nur mir an, was ich ethisch als eine Aufgabe übernehme. Will ich es z.B. nicht übernehmen, dann gehört auch dieses Abweisen einer Aufgabe mir wesentlich an und ich bin dafür verantwortlich. Betrachtet ein Mensch sich selber aber ästhetisch, so distinguiert er vielleicht folgendermaßen. Er sagt: Ich habe Talent zum Malen, das sehe ich als einen Zufall an; aber ich habe Witz und Scharfsinn, das sehe ich als etwas Wesentliches an, was mir nicht genommen werden kann, ohne daß ich ein andrer werde. Hierauf antworte ich: Diese ganze Distinktion ist eine Illusion; denn wenn Du Deiner Witz und Scharfsinn nicht ethisch übernimmst, d.h. als eine Aufgabe, als etwas, wofür Du verantwortlich bist, so gehört er Dir nicht wesentlich an, und vornehmlich aus dem Grunde, weil Dein ganzes Leben total unwesentlich ist, solange Du nur ästhetisch lebst. Wer ethisch lebt, hebt nun gewissermaßen die Distinktion zwischen dem Zufälligen und Wesentlichen auf, denn er übernimmt sich selber ganz und gar als gleich wesentlich; aber die Distinktion kommt wieder, denn auch nachdem er das gethan hat, unterscheidet er, doch so, daß er für das, was er als Zufälliges ausschließt, aus keinem andern Grunde verantwortlich wird, als weil er es ausschließt.

Sofern das ästhetische Individuum sich mit »ästhetischem Ernst« eine Lebensaufgabe setzt, besteht diese eigentlich darin, daß er sich in seine eigne Zufälligkeit vertieft und ein Individuum wird, so paradox und unregelmäßig, wie man es noch nie gesehen hat, die[555] wahre Grimasse eines Menschen. Der Grund, weshalb man solche Gestalten seltener im Leben trifft, ist der, daß die Menschen so selten eine Vorstellung von dem haben, was »leben« heißt. Da aber viele eine entschiedene Vorliebe für Plaudern und Schwatzen haben, so hört man auf der Straße und in Gesellschaften und liest in Büchern mancherlei, was unverkennbar eine Originalitätswut an sich trägt, die, auf das Leben übertragen, die Welt mit einer Menge von Kunstprodukten bereichern würde, von denen eins lächerlicher als das andre wäre. Die Aufgabe, welche das ethische Individuum sich setzt, ist die, daß man sich selber in das allgemeine Individuum verwandelt. Nur das ethische Individuum zieht sich selber ernstlich zur Rechenschaft und hat den paradigmatischen Anstand, der schöner als alles andre ist. Ich kann mich selber aber nur dann in den allgemeinen Menschen verwandeln, wenn ich ihn schon kata dynamin in mir selber habe. Das Allgemeine kann nämlich sehr wohl mit und in dem Besonderen bestehen, ohne es zu verzehren; es gleicht jenem Feuer, das da brannte, ohne den Busch zu verzehren. Liegt der allgemeine Mensch außerhalb meines Ich, so ist nur eine Methode möglich; ich muß selber meine ganze Konkretion ablegen. Diesem Streben nach einer ungezügelten Abstraktion begegnet man oft. Unter den Hussiten war eine Sekte, die meinte, um der normale Mensch zu werden, müsse man nackend umhergehen, wie Adam und Eva im Paradiese. Es finden sich in unsrer Zeit nicht selten Menschen, die in geistigem Sinn dasselbe lehren und meinen, nur dadurch werde man ein normaler Mensch, daß man splitternackend umherlaufe, und das erreiche man, wenn man seine ganze Konkretion ablege. Aber so verhält es sich nicht. Im Akt der Verzweiflung kam der allgemeine Mensch zur Welt, nun steht er hinter der Konkretion und bricht sich durch dieselbe hindurch. Eine Sprache hat viel mehr paradigmatische Verben als das eine, das in der Grammatik als Paradigma gebraucht wird; es ist der reine Zufall, daß dieses eine genommen wird, alle andern regelmäßigen Verben könnten denselben Dienst leisten. Gleicherweise ist es mit dem Menschen. Jeder Mensch kann, wenn er will, ein paradigmatischer Mensch werden, nicht dadurch, daß er seine Zufälligkeit abstreift, sondern[556] dadurch, daß er in ihr bleibt und sie veredelt. Aber er veredelt sie dadurch, daß er sie wählt.

Man wird nun leicht einsehen, daß das ethische Individuum in seinem Leben diejenigen Stadien durchläuft, die wir zuvor als besondre Stadien nachgewiesen haben; er wird in seinem Leben die persönlichen, die bürgerlichen, die religiösen Tugenden entwickeln, und sein Leben schreitet dadurch vorwärts, daß er sich selber immer von einem Stadium ins andre übersetzt. Sobald man meint, es genüge eins jener Stadien, und man könne einseitig in demselben seine Kräfte konzentrieren, so hat man sich nicht ethisch gewählt, sondern entweder die Bedeutung der Isolation oder der Kontinuität übersehen, und vor allem hat man nicht erkannt, daß die Wahrheit in der Identität derselben liegt.

Wer sich selber ethisch gewählt und gefunden hat, der hat sich selber in seiner ganzen Konkretion be stimmt, und sieht sich dann als ein Individuum an, das diese Gaben und Kräfte, diese Neigungen und Leidenschaften, diese Sitten und Gewohnheiten hat, und unter diesen äußern Einflüssen steht, die ihm bald diese, bald jene Richtung geben. Hier hat er sich nun selber als eine Aufgabe, und zwar dadurch, daß er zunächst ordnen, bilden, temperieren, anfeuern, unterdrücken, kurz eine Harmonie der Seele schaffen muß, welche eine Frucht der persönlichen Tugenden ist. Das Ziel seiner Thätigkeit ist er selber, aber nicht willkürlich bestimmt, denn er hat sich ja selber als eine Aufgabe, die ihm gesetzt ist, wenn er sie auch selber gewählt hat. Aber obgleich er selber sein Ziel ist, so ist doch dieses Ziel zugleich ein andres; denn das »Selbst«, welches das Ziel ist, ist kein abstraktes Selbst, das überall und daher nirgends ist, sondern ein konkretes Selbst, das in lebendiger Wechselwirkung mit den bestimmten Umgebungen, den bestimmten Lebensverhältnissen, der bestimmten Ordnung der Dinge steht. Das Selbst, welches das Ziel ist, ist nicht nur ein persönliches Selbst, sondern auch ein soziales, ein bürgerliches Selbst. ES hat sich selber als Aufgabe einer Thätigkeit, durch welche es als diese bestimmte Persönlichkeit in die Verhältnisse des Lebens eingreift. Seine Aufgabe ist da nicht, sich selber zu bilden, sondern zu schaffen und zu wirken, und doch bildet es zu gleicher[557] Zeit sich selber; denn, wie ich oben bemerkte, das ethische Individuum lebt so, daß es beständig von einem Stadium in das andre übergeht. Hat das Individuum sich selber ursprünglich nicht als eine konkrete Persönlichkeit in Kontinuität gefaßt, so wird es diese spätere Kontinuität auch nicht gewinnen. Meint ein solcher Mensch, es sei die Kunst des Lebens, als ein Robinson anzufangen, so bleibt er sein ganzes Leben ein Abenteurer. Sieht er dagegen ein, daß er niemals zum rechten Anfang kommt, wenn er nicht konkret anfängt, und daß er niemals zum Ende kommt, wenn er nicht zum Anfang kommt, so wird er zugleich mit dem Vergangenen sowohl wie mit dem Zukünftigen in Kontinuität sein. Von dem persönlichen Leben geht er in das bürgerliche über, von diesem in das persönliche. Das persönliche Leben als solches war eine Isolation und daher unvollkommen; indem er aber durch das bürgerliche Leben zu seiner Persönlichkeit zurückkehrt, zeigt sich das persönliche Leben in einer höhern Form, als das Absolute, das seine Teleologie in sich selber hat. Wo es zur Aufgabe für das Leben eines Menschen gemacht würde, die Pflicht zu erfüllen, da hat man oft an die Skepsis erinnert, daß die Pflicht selber ja etwas Schwankendes sei und die Gesetze verändert werden könnten. Was den letzten Ausdruck betrifft, so siehst Du leicht ein, daß da zunächst an diejenigen Fluktuationen gedacht ist, denen die bürgerlichen Tugenden immer ausgesetzt sind. Doch diese Skepsis trifft nicht das Negativ-Moralische; das bleibt unverändert. Dagegen gibt es eine andre Skepsis, die jede Pflicht trifft, das ist die, daß ich überhaupt die Pflicht gar nicht thun kann. Die Pflicht ist das Allgemeine; das, was von mir gefordert wird, ist das Allgemeine, das, was ich thun kann, das Einzelne. Diese Skepsis hat indessen ihre große Bedeutung, sofern sie zeigt, daß die Persönlichkeit selber das Absolute ist. Dies muß jedoch noch etwas näher bestimmt werden. Merkwürdig genug, daß die Sprache selber diese Skepsis hervorhebt. Ich sage niemals von einem Menschen: Er thut die Pflicht oder die Pflichten, sondern ich sage: Er thut seine Pflicht; ich sage: Ich thue meine Pflicht, Du thust Deine Pflicht. Das bezeugt's, daß das Individuum zugleich das Allgemeine und das Einzelne ist. Die Pflicht ist das Allgemeine, was von mir gefordert wird; bin ich also nicht[558] das Allgemeine, so kann ich auch die Pflicht nicht thun. Anderseits ist meine Pflicht das Einzelne, etwas, was allein für mich da ist und doch ist's wieder die Pflicht und also das Allgemeine. Hier zeigt sich die Persönlichkeit in ihrer höchsten Gültigkeit. Sie ist nicht ungesetzlich, gibt sich noch viel weniger selber ihr Gesetz; denn die Bestimmung der Pflicht bleibt, aber die Persönlichkeit zeigt sich als die Einheit des Allgemeinen und Einzelnen.

Daß sich dies so verhält, ist klar, man kann es einem Kinde begreiflich machen; denn ich kann die Pflicht thun, und doch nicht meine Pflicht thun, und ich kann meine Pflicht thun, und doch nicht die Pflicht thun. Daß die Welt deshalb in Skepsis hinsinken müßte, sehe ich nicht ein; denn der Unterschied zwischen Gut und Böse bleibt immer, ebenso die Verantwortlichkeit und die Pflicht, wenn auch ein andrer Mensch unmöglich sagen kann, was meine Pflicht ist, wogegen er wohl immer sagen kann, was seine Pflicht ist; und das wäre nicht der Fall, wenn nicht die Einheit des Allgemeinen und Einzelnen gesetzt wäre. ES scheint vielleicht alle Skepsis entfernt, wenn man die Pflicht zu etwas Äußerlichem, Festem und Bestimmtem machen und dann von demselben sagen kann: Siehe, das ist die Pflicht. Das ist jedoch ein Mißverständnis; denn der Zweifel liegt nicht im Äußern, sondern im Innern, in meinem Verhältnis zum Allgemeinen. Als einzelnes Individuum bin ich nicht das Allgemeine, und fordert man das von mir, so ist's ungereimt. Soll ich also das Allgemeine thun können, dann muß ich zur selben Zeit geradeso, wie ich das Einzelne bin, auch das Allgemeine sein, aber dann liegt die Dialektik der Pflicht in mir selber. Wie gesagt, diese Lehre ist für das Ethische nicht gefährlich, gibt ihm vielmehr erst seinen rechten Wert. Nimmt man dieses nicht an, so wird die Persönlichkeit abstrakt, ihr Verhältnis zur Pflicht abstrakt, ihre Unsterblichkeit abstrakt. Auch der Unterschied zwischen Gut und Böse wird nicht aufgehoben; denn es dürfte kaum je ein Mensch behauptet haben, es sei Pflicht, Böses zu thun. Daß er Böses that, ist etwas andres, aber er suchte sich selber und andern zugleich einzubilden, es sei gut. Daß er in diesem Wahn sollte bleiben können, ist undenkbar, da er selber das Allgemeine ist; er hat den Feind nicht außer sich, sondern in sich. Nehme ich dagen an, daß die Pflicht[559] etwas Äußeres ist, so wird der Unterschied zwischen Gut und Böse freilich aufgehoben, denn wenn ich nicht selber das Allgemeine bin, kann ich auch in kein abstraktes Verhältnis zu demselben treten; aber der Unterschied zwischen Gut und Böse ist für ein abstraktes Verhältnis inkommensurabel.

Erst wenn man einsieht, daß die Persönlichkeit das Absolute ist, sein eignes Ziel, die Einheit des Allgemeinen und des Einzelnen, erst dann wird jede Skepsis, die vom Historischen ausgeht, überwunden sein. Die Freidenker haben oft genug die Begriffe zu verwirren gesucht und darauf aufmerksam gemacht, wie Völker zuweilen etwas für heilig und gesetzlich erklärten, was in den Augen andrer Völker ein abscheuliches Verbrechen war. Man hat sich hier selber vom Äußern blenden lassen; aber bei dem Ethischen handelt es sich niemals um ein Äußeres, sondern um ein Inneres. Aber auch wenn das Äußere noch so sehr verändert wird, der sittliche Gehalt der Handlung kann doch derselbe bleiben. Es hat gewiß niemals Völker gegeben, die der Ansicht gewesen sind, die Kinder müßten ihre Eltern hassen. Indessen hat man, um den Zweifel zu nähren, darauf aufmerksam gemacht, daß, während alle gebildeten Nationen es den Kindern zur Pflicht machten, für ihre Eltern zu sorgen, die wilden Völker die Sitte hätten, ihre alten Eltern totzuschlagen. Möglich, daß es sich so verhält; aber damit ist man noch keinen Schritt weitergekommen, denn es fragt sich ja doch, ob die Wilden damit etwas Böses zu thun meinen. Das Ethische liegt immer in diesem Bewußtsein, wogegen es eine andre Frage ist, ob nicht eine mangelhafte Erkenntnis auch verantwortlich macht. Der Freidenker sieht sehr wohl ein, daß das Ethische sich am leichtesten verflüchtigen lasse, wenn man die Thür der historischen Unendlichkeit öffnet. Und doch liegt in seinem Verfahren etwas Wahres, denn wenn das Individuum schließlich nicht doch selber das Absolute ist, dann ist die Empirie der einzige Weg, der ihm angewiesen ist, und dieser Weg hat, was seinen Anfang betrifft, große Ähnlichkeit mit dem Fluß Niger, sofern wir an seine Quelle denken: niemand kennt sie. Bin ich der Endlichkeit überwiesen, so ist's die reine Willkür, wenn ich bei einem einzelnen Punkt stehen bleibe. Auf diesem Wege kommt[560] man daher niemals zum Anfang, denn um anfangen zu können, müßte man schon vorher zum Ende gekommen sein, aber das ist unmöglich. Wenn die Persönlichkeit das Absolute ist, dann ist sie selber der archimedische Punkt, von welchem man die Welt aufheben kann. Man wird leicht einsehen, daß dieses Bewußtsein ein Individuum nicht verleiten kann, die Wirklichkeit wegwerfen zu wollen, denn will es in dem Sinne das Absolute sein, so ist es gar nichts, eine Abstraktion. Nur als das Einzelne ist es das Absolute, und dieses Bewußtsein wird es vor allem revolutionären Radikalismus bewahren.

Hier will ich mein Theoretisieren abbrechen; ich fühle es sehr gut, daß ich dazu im Grunde nicht berufen bin, verlange es auch nicht, bin aber ganz zufrieden, wenn man mich als einen annehmbaren Praktikus betrachtet.

Alles Theoretisieren nimmt außerdem so viel Zeit weg; was ich durch eine rasche That in einem Augenblick thun kann, das erfordert viel Mühe und Arbeit, ehe man es ausgesprochen oder aufgeschrieben hat. Und beim Ethischen kommt es ja auch nicht auf die Mannigfaltigkeit der Pflichten, sondern auf ihre Intensivität an. Wenn die Persönlichkeit die Intensivität der Pflicht mit ihrer ganzen Energie gefühlt hat, dann ist sie ethisch herangereift, und die Pflicht wird sich schon von selber melden. Es kommt also nicht darauf an, daß ein Mensch an den Fingern herzählen kann, wie viele Pflichten er hat, sondern daß er ein für allemal die Intensivität der Pflicht so gefühlt hat, daß das Bewußtsein derselben ihm die Gewißheit von der ewigen Gültigkeit seines Wesens ist. Laß die Kasuistik sich in die Mannigfaltigkeit der Pflichten vertiefen: das, worauf es vor allem ankommt, das einzig Seligmachende, ist immer das, daß ein Mensch im Verhältnis zu seinem eignen Leben nicht sein Onkel, sondern sein Vater ist.

Laß mich Dir durch ein Beispiel sagen, was ich meine. Ich wähle dazu einen Eindruck, den ich seit meiner frühsten Kindheit bewahrt habe. Als ich fünf Jahre alt war, kam ich zur Schule. Daß ein solches Ereignis immer einen tiefen Eindruck auf ein Kind macht, ist natürlich, aber es fragt sich, was für einen. Auch mich interessierte all das Neue, was mir entgegentrat, in hohem Maße, indessen übte doch etwas ganz andres den tiefsten Eindruck auf mich aus. Ich[561] trat in die Klasse ein, ward dem Lehrer vorgestellt, und erhielt nun meine Lektion für den folgenden Tag. Jeder andre Eindruck war nun verlöscht, und meine Aufgabe stand lebendig vor meiner Seele. Als Kind hatte ich ein sehr glückliches Gedächtnis. Bald war die Lektion gelernt. Mehrere Male hatte ich sie meiner Schwester aufgesagt, und sie versicherte, daß ich sie wisse. Ich ging zu Bett, aber ehe ich einschlief, verhörte ich mich selber noch einmal; ich schlief mit dem festen Vorsatz ein, sie am folgenden Morgen wieder überzulernen. Ich wachte früh am 5 Uhr auf, kleidete mich an, nahm mein Buch und lernte von neuem meine Lektion. Noch diesen Augenblick steht alles so lebendig vor mir, als wäre es gestern geschehen. Es war mir, als müßten Himmel und Erde zusammenfallen, wenn ich meine Lektion in der Schule nicht wüßte, und anderseits war es mir klar, daß auch wenn Himmel und Erde einfiele, mich das nicht von meiner Pflicht entbinden könnte. In dem Alter wußte ich natürlich noch gar wenig von meinen Pflichten, ich kannte nur eine Pflicht, die, meine Lektion zu lernen, und doch schreibe ich meine ganze ethische Lebensanschauung von diesem Eindruck her. Ich lächle heute wohl über solch kleinen Burschen von fünf Jahren, der eine Sache so leidenschaftlich angreift, und doch versichere ich Dich: ich habe keinen höhern Wunsch, als den, daß ich in jedem Alter meines Lebens meine Arbeit mit der Energie und mit dem ethischen Ernst, wie damals, angreifen möchte. Daß man im spätern Leben seine Arbeit besser verstehen lernt, ist wahr; aber nicht darauf kommt es an, sondern auf die Energie, mit welcher wir sie angreifen. Daß jenes Ereignis einen so tiefen Eindruck auf mich machte, verdanke ich ganz besonders dem hohen sittlichen Ernst meines Vaters, und wenn ich ihm nichts andres verdankte, so wäre das schon genug, ihm gegenüber in einer ewigen Schuld zu bleiben. Und darauf kommt es ja bei der Erziehung an, nicht daß ein Kind dieses oder jenes lernt, sondern daß der Geist heranreift, die Energie geweckt wird. Du sprichst so oft davon, wie herrlich es sei, einen guten Kopf zu haben, und wer will's leugnen, daß das auch seine Bedeutung hat? Und doch glaube ich fast, daß man sich das selber geben kann, wenn man will. Gib einem Menschen Energie und Leidenschaft, und er[562] ist alles. Denk Dir ein junges Mädchen, so albern und verschroben, wie nur möglich, eine recht dumme Gans – sie liebt tief und innig, und Du wirst sehen, der gute Kopf kommt von selber, Du wirst sehen, wie klug und schlau sie es einzurichten weiß, um zu erfahren, ob sie wieder geliebt werde; laß sie glücklich werden, und schwärmerische Liebe wird auf ihren Lippen blühen; laß sie unglücklich werden, so wirst Du die kalten Reflexionen eines berechnenden Witzes hören.

Ja, ich darf es frei bekennen: ich habe eine glückliche Kindheit verlebt, denn sie hat mich mit ethischen Eindrücken bereichert. Laß mich noch einen Augenblick bei ihr verweilen. Die teuerste Erinnerung derselben ist mein Vater, und diese Erinnerung ist durchaus nicht arm und unfruchtbar; denn auch sie hat mich je mehr und mehr davon überzeugt, daß der Totaleindruck der Pflicht, nicht aber die Mannigfaltigkeit derselben die Hauptsache ist. Als ich zwei Jahre älter geworden war, kam ich in die gelehrte Schule. Hier fing ein neues Leben an, aber auch hier war das Ethische der Haupteindruck, obgleich ich die größte Freiheit genoß. Ich kam unter die andern Schüler und hörte zu meiner großen Verwunderung, wie sie über ihre Lehrer klagten, sah das Wunderbare, daß ein Schüler aus der Schule genommen ward, weil er sich nicht mit dem Lehrer vertragen konnte. Wäre ich nicht von frühester Kindheit an unter so ernstsittlichen Eindrücken aufgewachsen, so hätte solche Begebenheit vielleicht schädlich auf mich wirken können. Nun war es nicht der Fall. Ich wußte, daß es meine Aufgabe war, zur Schule zu gehen, und zwar in die Schule, in die ich von meinem Vater geschickt war. Wenn auch alles andre sich veränderte, das konnte nicht geändert werden. Und dieses Gefühl hatte seinen Grund nicht etwa darin, daß ich mich vor dem Ernst meines Vaters fürchtete, sondern weil ich so hohe Vorstellungen von der Pflicht eines Menschen hatte. Ob mein Vater gestorben, und ich unter die Aufsicht eines andern gekommen wäre, den ich vielleicht hätte bewegen können, mich aus jener Schule zu nehmen, ich würde es niemals gewagt, oder richtiger es niemals gewollt haben; es würde mir gewesen sein, als ob der Schatten meines Vaters mich in die Schule hätte verfolgen müssen; denn wieder hatte ich einen unendlich tiefen Eindruck von dem[563] empfangen, was meine Pflicht war, und keine Zeit hätte die Erinnerung aus meiner Seele löschen können, daß ich seinen Willen verletzt hätte. Im übrigen genoß ich meine Freiheit, ich kannte nur eine Pflicht, die, treu zur Schule zu gehen und fleißig meine Arbeiten zu machen, und ich selber war für alles, was die Schule betraf, ganz und voll verantwortlich. Als ich in die Schule gekommen war, überreichte mir mein Vater die Schulbücher, die er gekauft hatte, und sagte: »Wilhelm, wenn der Monat zu Ende ist, bist du Nr. 3 in deiner Klasse.« Dann ließ mein Vater mich meine Wege gehen, fragte niemals nach meiner Lektion, verhörte mich niemals, las niemals meine Aufsätze, erinnerte mich niemals an meine Arbeit, sagte nicht, nun müsse ich lernen, nun aufhören, und kam niemals dem Gewissen des Schülers zu Hilfe. Sollte ich ausgehen, so fragte er mich nur, ob ich Zeit habe – aber ich selber entschied es, nicht er. Daß er mich im übrigen sehr beobachtete, glaube ich gewiß, aber er ließ es mich niemals merken. Also wieder dasselbe: ich hatte nicht viele Pflichten – und wie viele Kinder werden nicht gerade dadurch verdorben, daß man sie mit einem ganzen Zeremoniell von Pflichten überhäuft – aber ich lernte, was Pflicht heißt, und ich lernte, daß sie eine ewige Gültigkeit habe. Wir trieben zu meiner Zeit die lateinische Grammatik mit einer so peinlichen Gründlichkeit, wie mau es jetzt nicht mehr kennt. Bei diesem Unterricht empfing ich einen Eindruck, der in andrer Weise harmonisch auf meine Seele wirkte. Darf ich mir die Gabe etwas philosophisch zu betrachten, zuerkennen, so verdanke ich sie diesem Eindruck meiner Kindheit. Der unbedingte Respekt, mit welchem ich die Regel betrachtete, die Ehrerbietung, die ich für dieselbe hegte, die Verachtung, mit welcher ich auf das kümmerliche Leben herabsah, das die Ausnahme fristete, die in meinen Augen gerechte Weise, in welcher diese letztere immer und überall verfolgt und gebrandmarkt wurde, was ist das andres, als die Distinktion, die jeder philosophischen Betrachtung zu Grunde liegt? Wenn ich nun unter dem Einfluß einer solchen Erziehung und eines solchen Unterrichts meinen Vater ansehe, so erscheint er mir als eine Inkarnation der Regel; was anderswoher kam, war Ausnahme, sofern es nicht in Übereinstimmung mit seinem[564] Gebot war. Wenn ich an jenen Schüler, von dem ich oben erzählt habe, dachte, so fühlte ich, er müsse eine Ausnahme sein, und es sei nicht der Mühe wert, viel auf ihn zu achten, um so mehr als das viele Aufheben, das von ihm gemacht wurde, genügend bezeugte, daß er eine Ausnahme war. Der kindliche Rigorismus, mit welchem ich damals zwischen Regel und Ausnahme unterschied, sowohl in der Grammatik wie im Leben, ist wohl gemildert, aber jenes Unterscheiden zwischen Regel und Ausnahme habe ich doch nicht vergessen, und ich weiß es mir immer wieder zu vergegenwärtigen, besonders wenn ich Dich und Deinesgleichen sehe; denn Ihr scheint der Ansicht zu sein, daß die Ausnahme das Wichtigste sei, ja daß die Regel nur existiere, um die Ausnahme nur noch mehr hervorzuheben.

Die Energie, in der ich meiner selbst ethisch bewußt werde, die ist's also, worauf es ankommt, oder richtiger, ich kann meiner nicht ohne Energie ethisch bewußt werden. Ich kann meiner daher niemals ethisch bewußt werden, ohne mich meines ewigen Wesens bewußt zu werden. Dies ist der wahre Beweis für die Unsterblichkeit der Seele. Ganz und voll ist derselbe natürlich nur erst da gegeben, wo die Aufgabe mit der Verpflichtung kongruiert; wozu ich aber für eine Ewigkeit verpflichtet bin, das ist auch eine ewige Aufgabe.

Ich will Dir daher nicht die Mannigfaltigkeit der Pflicht vor Augen malen; wollte ich die Pflicht negativ ausdrücken, dann wäre es leicht gethan, wollte ich sie positiv ausdrücken, dann würde es sehr schwierig und weitläufig sein, ja in gewissem Sinn unmöglich. Was ich dagegen in sein rechtes Licht hatte stellen wollen, das war die absolute Bedeutung der Pflicht, die ewige Gültigkeit des Pflichtverhältnisses für die Persönlichkeit. Sobald die Persönlichkeit sich nämlich in der Verzweiflung selber gefunden, absolut sich selber gewählt hat, so hat sie sich selber, so hat sie sich selber als ewige Aufgabe unter einer ewigen Verantwortlichkeit, und also ist die Pflicht in ihrer Absolutheit gesetzt. Da jener Mensch sich indessen nicht selber erschaffen, sondern sich selber gewählt hat, so ist die Pflicht der Ausdruck für seine absolute Abhängigkeit und seine absolute Freiheit in Identität mit einander. Die einzelne Pflicht wird er sich selber lehren und vergebens bei einem andern Auskunft suchen, und[565] doch wird er hier ebensowohl Autodidakt sein, wie er Theodidakt ist, und umgekehrt. Die Pflicht wird ihm da in keinem Fall etwas Abstraktes, teils weil sie ihm nichts Äußerliches ist, denn wenn das der Fall ist, ist sie immer abstrakt; teils weil er selber konkret ist, denn da er sich ethisch wählte, wählte er sich in seiner ganzen Konkretion und verzichtete auf die Abstraktheit der Willkür.


* * *


Was nun noch erübrigt, ist, daß ich nachweise, wie das Leben sich ausnimmt, wenn man es ethisch betrachtet. Du bist mit allen Ästhetikern sehr bereit zu teilen, Ihr räumt ein, daß das Ethische seine Bedeutung hat, Ihr sagt, es sei höchst respektabel, wenn ein Mensch für seine Pflichten lebe, es sei das in der That aller Ehren wert, ja, Ihr laßt es nicht an verblümten Reden fehlen, daß es ganz in Ordnung sei, wenn es auch Menschen gebe, die für ihre Pflichten lebten, daß es sogar gut sei, wenn viele Menschen es thäten; und manche Pflichtmenschen sind auch so gutmütig, daß sie meinen, in dieser Rede sei ein Sinn, obgleich sie natürlich wie alle Skepsis ohne Sinn ist. Ihr selber wollt Euch dagegen mit dem Ethischen nicht einlassen; das würde Eurem Leben ja seine Bedeutung und vor allem seine Schönheit rauben. Das Ethische sei etwas ganz andres als das Ästhetische, und jenes vernichte dieses ganz und gar. – Und wenn's so wäre, ich wüßte wohl, was ich wählte. In der Verzweiflung gibt es einen Augenblick, wo es so scheint, und wer es nicht gefühlt hat, der hat sich in seiner Verzweiflung selber betrogen und hat sich selber nicht ethisch gewählt. Indessen ist es doch nicht so, und deshalb erweist die Verzweiflung sich im nächsten Augenblick nicht als ein Bruch, sondern als eine Metamorphose. Alles kehrt wieder, aber verklärt. Also erst wenn man das Leben ethisch betrachtet, wird es schön und wahr, bedeutungsvoll und bleibend; erst wenn man selber ethisch lebt, wird das Leben schön, wahr, bedeutungsvoll und sicher; erst in der ethischen Lebensanschauung wird der autopathische und der sympathische Zweifel beruhigt. Der autopathische und der sympathische Zweifel können nämlich nur zugleich miteinander beruhigt werden, weil sie wesentlich gleicher Natur sind. Der autopathische Zweifel ist nämlich keine Äußerung des Egoismus,[566] sondern eine Forderung derjenigen Selbstliebe, die im selben Sinn ihr eignes Ich und das Selbst jedes andern fordert. Das ist meiner Ansicht nach von großer Bedeutung. Wäre ein Ästhetiker nämlich kein Egoist, so müßte er, unter der Voraussetzung, daß jede denkbare Vergünstigung ihm in den Schoß gefallen wäre, über all sein Glück verzweifeln, weil er sich sagen müßte: Das, wodurch ich glücklich bin, ist etwas, was so keinem Menschen gegeben werden kann und das kein andrer Mensch sich selber erwerben kann. Er müßte ja in steter Angst schweben, daß ihn jemand fragte, worin er sein Glück suchte, denn er war ja glücklich geworden, damit alle andern Menschen es fühlen sollten, daß sie es nicht werden könnten. Hätte ein solcher Mensch etwas Sympathie, er würde sich selber keine Ruhe gönnen, ehe er einen höhern Ausgangspunkt für das Leben gefunden hätte. Wenn er denselben gefunden, dann würde er sich nicht fürchten, sein Glück zu preisen; denn wollte er es recht aussprechen, dann würde er etwas sagen, was ihn mit jedem Menschen, mit dem ganzen menschlichen Geschlecht absolut versöhnte.

Laßt uns jedoch bei der Kategorie stehen bleiben, welche die Ästhetik sich immer vindiziert – der Schönheit. Das Leben verliert seine Schönheit, sagst Du, sobald das Ethische geltend gemacht wird. Wärst Du nun selber persönlich gegenwärtig, dann würde ich Dich bitten, mir eine Definition des Schönen zu geben, damit ich anfangen könnte. Da das nun aber nicht der Fall ist, so erlaube ich mir, an die Definition anzuknüpfen, die Du zu geben pflegst: Das Schöne ist das, was seine Teleologie in sich selber hat. Du denkst Dir ein junges Mädchen und sagst, sie sei schön, fröhlich, sorglos, glücklich, vollkommene Harmonie, in sich vollendet, und es sei die reine Dummheit, wenn man frage, wozu sie da sei, denn sie habe ja ihre Teleologie in sich selber. Ich will Dich nun nicht mit dem Einwand schikanieren, ob einem jungen Mädchen wirklich damit gedient sei, so allein ihre Teleologie in sich selber zu heben, oder ob es Dir nicht etwa schmeicheln würde, wenn sie, nachdem sie Deine Anschauung von der Göttlichkeit ihres Daseins gehört hätte, sich schließlich selber irrte und glaubte, daß sie nur dazu da sei, um Deine Insinuationen anzuhören. Du betrachtest die Natur, findest sie ebenfalls schön, und willst nichts[567] von einer endlichen Betrachtung derselben hören. Auch hier will ich Dich nicht mit der Bemerkung plagen, ob es nicht der Natur wesentlich sei, für ein andres dazusein. Du betrachtest die Werke der Kunst und Poesie, rufst mit dem Dichter aus: procul, o procul este profani, und verstehst unter den »profani« diejenigen, welche Poesie und Kunst dadurch in den Staub ziehen, daß sie ihnen eine Teleologie geben, die außerhalb ihrer eignen Grenzen liegt. Was Poesie und Kunst betrifft, so will ich Dich an das erinnern, was ich schon früher bemerkt habe, daß sie nur unvollkommen mit dem Leben aussöhnen, sowie auch, daß Du, wenn Du auf Kunst und Poesie blickst, nicht die Wirklichkeit betrachtest, und davon wollten wir hier doch eigentlich sprechen. Wir kehren nun wieder zu dieser zurück, und da Du es vermutlich selbst einsiehst, daß Du sehr wenig Schönes im Leben finden würdest, wenn Du die Forderungen der Kunst in ihrer ganzen Strenge geltend machen wolltest, so gibst Du dem Schönen eine andre Bedeutung. Das Schöne, wovon Du redest, ist das Individuell-Schöne. Du siehst jeden einzelnen Menschen als einen kleinen Moment im Ganzen, siehst ihn gerade in seiner Eigentümlichkeit, und so erhält selbst das Zufällige, das Unbedeutende, Bedeutung und das Leben den Stempel der Schönheit. Du betrachtest also jeden einzelnen Menschen als Moment. Aber das Schöne war ja das, was seine Teleologie in sich selber hatte; aber wenn ein Mensch nur Moment ist, dann hat er ja eben seine Teleologie nicht in sich selber, sondern außerhalb seines Ich. Ist auch das Ganze schön, die einzelnen Teile sind es nicht. Und nun Dein eignes Leben. Hat das seine Teleologie in sich selber? Ob ein Mensch wirklich berechtigt ist, nur solch betrachtendes Leben zu führen, will ich nicht entscheiden, aber eh bien, laßt uns annehmen, es sei Deines Lebens Bedeutung die, daß Du dazu da seist, das Übrige zu betrachten, so hättest Du ja doch Deine Teleologie nicht in Dir. Du betrachtest erst dann jeden einzelnen Menschen nach seiner Schönheit, wenn er Moment und zugleich das Ganze ist; dann aber betrachtest Du ihn ethisch, und wenn ethisch, auch nach seiner Freiheit. Laß ihn noch so eigentümlich bestimmt sein, wenn diese Bestimmtheit eine Notwendigkeit ist, dann ist er nur Moment, und sein Leben ist nicht schön.[568]

Wenn Du das Schöne als das definierst, was seine Teleologie in sich selber hat, und als Beispiel ein junges Mädchen anführst, oder die Natur oder ein Werk der Kunst nennst, so möchte ich annehmen, alles Reden davon, daß es seine Teleologie in sich selber habe, sei eine Illusion. Sobald von einer Teleologie geredet wird, muß eine Bewegung vorausgesetzt werden, denn sobald ich an ein Ziel denke, denke ich mir doch immer eine Bewegung, da ein Mensch zu seinem Ziele nur durch eine Bewegung gekommen ist. Dem, was Du schön nennst, fehlt offenbar die Bewegung; denn das Schöne in der Natur ist auf einmal da; und betrachte ich ein Werk der Kunst und suche den Gedanken desselben mit meinen Gedanken zu durchdringen, so geht eigentlich in mir die Bewegung vor sich, nicht in dem Werke der Kunst. Du magst daher wohl recht haben, daß das Schöne seine Teleologie in sich selber hat, aber so, wie Du es auffaßt und anwendest, ist es doch eigentlich ein negativer Ausdruck, der da sagt, daß das Schöne seine Teleologie in etwas anderm hat. Du wirst daher auch nicht einen scheinbar synonymen Ausdruck anwenden können, daß das Schöne, von welchem Du redest, innere oder immanente Teleologie habe. Sobald Du nämlich den Ausdruck brauchst, forderst Du Bewegung, Geschichte, und damit hast Du die Sphäre der Natur und der Kunst überschritten, und bist in dem Gebiet der Freiheit und also auch in dem der Ethik.

Wenn ich nun sage, daß das Individuum seine Teleologie in sich selber habe, so darf das nicht mißverstanden werden, wie wenn ich meinte, das Individuum sei das Zentrale, oder es müsse das Individuum in abstraktem Sinn sich selber genug sein; denn wird es abstrakt genommen, so erhalte ich doch seine Bewegung. Das Individuum hat seine Teleologie in sich selber, hat innere Teleologie, ist seine eigne Teleologie; sein Selbst ist da das Ziel, wonach es strebt. Dieses sein Selbst ist jedoch keine Abstraktion, sondern absolut konkret. In der Bewegung auf sich selber zukann er sich nicht negativ gegen die äußere Welt um sich her verhalten, denn dann ist und bleibt sein Selbst eine Abstraktion; sein Selbst muß sich nach seiner ganzen Konkretion erschließen, aber zu dieser Konkretion gehören auch die Faktoren, deren Bestimmung es ist, thätig in die[569] Welt einzugreifen. So bewegt er sich von selber nur durch die Welt auf sich selber zu. Hier ist Bewegung und eine Wirkliche Bewegung; denn diese Bewegung ist die That der Freiheit, ist aber zugleich immanente Teleologie. Erst hier kann also von der Schönheit geredet werden. Wenn sich dies so verhält, dann steht das Individuum in gewissem Sinne höher als jedes Verhältnis; aber daraus folgt keineswegs, daß er nicht in diesem Verhältnis steht. Darin liegt doch nichts Tyrannisches, da dasselbe ja von jedem Individuum gilt. Ich bin ein Ehemann, und Du weißt, daß ich die größte Hochachtung für dieses Verhältnis habe, und ich weiß, daß ich mich in aller Liebe unter dasselbe demütige, aber in einem andern Sinn stehe ich doch über diesem Verhältnis. Und mit meiner Frau ist's nicht anders, und deshalb würde ich, wie Dir bekannt ist, das junge Mädchen nicht lieben, weil es diese Anschauung nicht mit mir teilte.

Also erst dann, wenn ich das Leben ethisch betrachte, erkenne ich es in seiner Schönheit, erst wenn ich mein eignes Leben ethisch betrachte, sehe ich es in seiner Schönheit. Und sagst Du, diese Schönheit sei unsichtbar, so antworte ich: in gewissem Sinne ja, in anderm nein; sie ist nämlich sichtbar in den Spuren des Historischen, sichtbar, wie wenn es heißt: loquere, ut videam te. Wohl wahr, ich sehe nicht die Vollendung, sondern den Kampf, und doch sehe ich auch die Vollendung, wann ich will und den Mut habe, und ohne Mut sehe ich überhaupt nichts Ewiges und also auch nichts Schönes.

Wenn ich das Leben, ethisch betrachte, betrachte ich es in seiner Schönheit. Da wird mir das Leben reich an Schönheit, nicht arm, wie es eigentlich für Dich ist. Ich brauche nicht im Lande umherzureisen, um Schönheiten aufzusuchen, habe auch nicht nötig, in den Straßen umherzustöbern. Versteht sich, ich habe auch nicht so viel Zeit wie Du; denn da ich mit Freude, aber auch mit Ernst mein Leben in seiner Schönheit betrachte, so habe ich immer genug zu thun. Hab' ich denn einmal eine Stunde frei, dann sehe ich mir von meinem Fenster aus die Menschen an, und sehe jeden Menschen in seiner Schönheit an. Und wäre er noch so unbedeutend, noch so niedrig und arm, ich sehe ihn in seiner Schönheit an; denn ich sehe in ihm den einzelnen Menschen, der doch zugleich der allgemeine[570] Mensch ist; ich sehe in ihm den, der diese konkrete Lebensaufgabe hat; er hat seine Teleologie in sich selber, er realisiert diese seine Aufgabe – er siegt, wie ich wohl sehe. Denn der Mutige sieht nicht Gespenster, dagegen siegreiche Helden; aber der Feige sieht nirgends Helden, sondern überall Gespenster. Und er muß siegen, davon bin ich überzeugt, deshalb ist sein Kampf schön. Ja, für diesen Glauben an den Sieg des Schönen will ich auf Tod und Leben kämpfen, und keine Macht der Welt soll ihn mir rauben. Für nichts in der Welt lasse ich ihn mir nehmen, und nicht für die ganze Welt; denn erst, wenn ich diesen Glauben verlöre, verlöre ich die ganze Welt. In diesem Glauben sehe ich die Schönheit des Lebens, und die Schönheit, die ich sehe, hat nicht das Wehmütige an sich, das von aller Schönheit der Natur und der Kunst unzertrennlich ist, unzertrennlich selbst von der ewigen Jugend der griechischen Götter. Die Schönheit, die vor dem Auge meines Geistes steht, ist fröhlich und reich an Siegen, und stärker als die ganze Welt. Und diese Schönheit sehe ich überall, auch da, wo Dein Auge nichts sieht. Komm einmal an mein Fenster. Sieh, da geht ein junges Mädchen vorüber. Erinnerst Du Dich dessen, daß wir sie einmal auf der Straße sahen? Sie war nicht schön, sagtest Du, aber als Du sie Dir etwas näher angesehen hattest, kanntest Du sie wieder und Du fuhrst fort: »Vor einigen Jahren war sie reizend und machte auf Bällen viel Glück, dann kam eine Liebesgeschichte, et quidem eine unglückliche. Der Teufel weiß, woher es kam, aber sie nahm sich die Sache so zu Herzen, daß ihre Schönheit rasch verblühte. Kurz, sie war schön, nun ist sie's nicht mehr, und damit ist die Geschichte aus.« Sieh, das heißt etwa das Leben in seiner Schönheit betrachten. In meinen Augen hat sie jedoch nichts verloren, und sie scheint mir schöner denn je.

Laß uns nun einzelnen Lebensverhältnissen näher treten, insonderheit solchen, in welchen das Ästhetische und das Ethische einander begegnen, um zu erkennen, wie weit die ethische Betrachtung uns das Schöne raubt, oder um zu sehen, ob sie nicht allem eine höhere Schönheit verleiht. Ich denke mir ein bestimmtes Individuum, das in gewissem Sinn so ist, wie die meisten Menschen sind, in anderm[571] Sinn konkret in sich selber. Laß uns ganz prosaisch sein. Dieser Mensch soll leben, sich kleiden, kurz, er soll existieren können. Vielleicht wendet er sich an einen Ästhetiker, um von ihm zu hören, wie er sich im Leben einrichten soll. Er wird auch von ihm keine Auskunft erhalten. Wohl möglich, daß der Ästhetiker antworten wird: »Als Garçon braucht man 3000 Thaler jährlich, um bequem zu leben, hat man 4000, so braucht man sie auch; will man sich verheiraten, so muß man wenigstens 6000 Thaler haben. Das Geld ist und bleibt doch der nervus rerum gerendarum, die wahre conditio sine qua non; ich lese gern von ländlicher Genügsamkeit, von idyllischer Frugalität, aber ich würde doch nicht lange so leben können; und diejenigen, die so leben, genießen dieses Leben auch nicht halb so schön, wie diejenigen, die Geld haben, und nun in guter Ruhe Schilderungen des einfachen ländlichen Lebens lesen. Das Geld ist und bleibt die absolute Bedingung des Lebens. Sobald man kein Geld hat, ist und bleibt man von der Zahl der Patrizier ausgeschlossen, ist und bleibt man Plebejer. Das Geld ist die conditio, aber daraus folgt noch nicht, daß jeder, der Geld hat, es zu gebrauchen versteht. Diejenigen, die auch diese Kunst gelernt haben, sind unter den Patriziern wieder die wahren Optimaten.« Mit dieser Weisheit war nun unserm Helden offenbar nicht gedient; es mußte ihm ungefähr wie einem Sperling unter einer Schar von Kranichen zu Mut sein. Sagte er dem Ästhetiker nämlich: »Ja, das ist alles sehr schön; aber ich habe weder 3000 noch 6000 Thaler jährlich, ich habe weder Kapitalien noch Rentenbriefe, ich habe überhaupt gar nichts, kaum einen Hut,« dann würde derselbe ihm etwa antworten: »Hm, hm, das ist eine andre Sache, dann bleibt nichts andres übrig, als in ein Arbeitshaus zu gehen.« Wäre der Ästhetiker sehr gutmütig, so würde er den armen Burschen noch einmal zurückrufen und ihm sagen: »Ich will Sie nicht in Verzweiflung bringen, ehe ich das Äußerste versucht habe; man kann's wenigstens versuchen, ehe man der Freude auf ewig Lebewohl sagt, das Gelübde ablegt und die Zwangsjacke anzieht. Verheiraten Sie sich mit einem reichen Mädchen, spielen Sie in der Lotterie, reisen Sie nach den Kolonien, wenden Sie einige Jahre an, um Geld zusammenzuscharren, oder schmeicheln Sie sich[572] bei einem alten unverheirateten Menschen ein, daß er Sie als seinen Universalerben einsetzt. Für den Augenblick gehen unsre Wege auseinander; schaffen Sie Geld, und Sie werden in mir stets einen Freund finden, der es schon vergessen wird, daß Sie einmal sein Geld hatten.« Es ist doch etwas schrecklich Herzloses in einer solchen Lebensbetrachtung, so mit kaltem Blut jedem, der kein Geld hat, alle Lebensfreude zu morden. Und das thut jener Geldmensch ja, denn es ist wenigstens seine Meinung, daß es ohne Geld keine Freude im Leben gibt. Du mußt nicht meinen, daß ich Dich für einen solchen Ästhetiker ansehe, nein, da würde ich Dir in hohem Maße Unrecht thun. Teils ist nämlich Dein Herz zu gut, als daß so abscheuliche, niedrig-gemeine Gedanken in demselben wohnen könnten, teils ist Deine Seele zu sympathisch, als daß Du solche Gedanken, selbst wenn sie in Deiner Brust wohnten, äußern möchtest. Laß einen Menschen stolz sein, in Gottes Namen, besser freilich wär' es, wenn er's nicht wäre, aber laß ihn denn stolz sein, nur nicht – auf Geld und auf Gut, denn nichts entwürdigt einen Menschen so sehr wie dieser Stolz. Du hast nun für gewöhnlich Geld und weißt es auch zu gebrauchen, und Du beleidigst keinen, weil er kein Geld hat, darin bist Du von jenen Ästhetikern verschieden. Du hilfst, wo Du kannst, und wo Du davon sprichst, wie jammervoll es sein müsse, wenn man kein Geld habe, so geschieht es in Sympathie. Dein Spott richtet sich daher nicht gegen die Menschen, sondern gegen die traurigen Verhältnisse der ganzen Welt, da nicht alte Geld haben. »Prometheus und Epimetheus«, sagst Du, »waren unzweifelhaft sehr klug, aber eins ist mir unbegreiflich: sie rüsteten die Menschen so herrlich aus, aber gaben ihnen kein Geld mit.« Wärest Du damals gegenwärtig gewesen und hättest gewußt, was Du nun weißt, Du wärest hervorgetreten und hättest gesagt: »Ihr guten Götter, Dank, feurigen Dank für alles, was ihr uns gegeben habt, aber – verzeiht mir, wenn ich so freimütig mit euch rede – euch fehlt die Klugheit dieser Welt; eins fehlt dem Menschen noch, wenn er glücklich leben soll – das ist Geld. Was hilft's ihm, daß er erschaffen ist, über die Welt zu herrschen, wenn er aus Nahrungssorgen nicht dazu kommt und keine Zeit dazu findet? Was soll das heißen, einen vernünftigen Menschen[573] in die Welt zu jagen und ihm so viele Mühe und Arbeit zu machen; ist das eine Art und Weise, einen Menschen zu behandeln?« Bei diesem Thema bist Du unerschöpflich. »Die meisten Menschen,« sagst Du, »leben, damit sie etwas zu leben finden; wenn sie das gefunden haben, wollen sie gut leben; und haben sie das erreicht, dann sterben sie. Mit wahrer Rührung las ich vor einiger Zeit unter den Familiennachrichten einer Zeitung, wie eine Frau den Tod ihres Mannes anzeigte. Statt über das Schmerzliche des Verlustes viel zu klagen und zu jammern, daß sie den besten Ehemann und den liebreichsten Vater ihrer Kinder verloren habe, faßte sie sich sehr kurz und sagte: der Verlust sei um so schwerer, als ihr Mann gerade kurz vorher ein so gutes Brot gefunden habe. Darin liegt mehr, als was die trauernde Witwe oder ein gewöhnlicher Zeitungsleser darin findet. Diese Betrachtung ließe sich zu einem Beweis für die Unsterblichkeit des Menschen entwickeln. Nämlich so: es ist jedes Menschen Beruf, ein gutes Brot zu finden. Stirbt er, ohne daß er es findet, so hat er seine Bestimmung nicht erreicht, und es bleibt unserm forschenden Geiste überlassen, ob er annehmen will, daß er auf einem andern Stern seine Bestimmung erreichen wird. Findet er dagegen sein gutes Brot, so hat er seine Bestimmung erreicht, aber die Bestimmung, sein gutes Brot zu finden, kann nicht die sein, daß er sterben, sondern vielmehr, daß er von seinem guten Brot gut leben soll; ergo: ein Mensch ist unsterblich. Diesen Beweis könnte man den populären Beweis, oder den Beweis vom guten Brot nennen. Kommt dieser Beweis noch zu den frühern Beweisen, dann muß jeder vernünftige Zweifel an der Unsterblichkeit der Seele als überwunden an gesehen werden. Dieser Beweis läßt sich auch herrlich mit den früheren in Verbindung bringen, ja gerade dadurch erscheint er in seiner vollen Glorie, da er gewissermaßen den Schluß der andern bildet und diese dadurch beweist. Die andern Betrachtungen gehen davon aus, daß der Mensch ein vernünftiges Wesen ist. Sollte nun jemand daran zweifeln, so tritt der Beweis vom guten Brot hinzu und beweist diese Voraussetzung mit folgenden Syllogismen: Wem Gott sein Brot gibt, dem gibt er auch Verstand; wem Gott sein gutes Brot gibt, dem gibt er auch guten Verstand, ergo. Das hat jene trauernde Witwe geahnt,[574] sie hat das tief Tragische in diesem Widerspruch des Lebens gefühlt.«

Sei vorsichtig, mein Freund! denn Du könntest durch solchen Vortrag vielleicht einem Menschen schaden. Wie, wenn nun einer, der schon so wie so nur sehr ungern an die Arbeit geht, durch Deine dumme Leidenschaftlichkeit, mit welcher Du für ihn einzutreten meinst, durch Deinen sympathischen Spott noch mürrischer zur Arbeit würde! Drum, sieh Dich vor, mein Freund!

Nein, auf dem eingeschlagenen Weg wird unser Held vergebens Auskunft suchen. Laßt uns denn hören, was ein Ethiker ihm sagen würde. Seine Antwort würde etwa so lauten: Die Arbeit ist jedes Menschen Pflicht; man muß arbeiten, um leben zu können. Wüßte er nicht mehr zu sagen, so würdest Du vielleicht antworten: »Da haben wir den alten Schnack: Pflicht und wieder Pflicht! immer und überall die Pflicht. Wahrhaftig, es läßt sich nichts Langweiligeres denken! es schnürt einem der Gedanke schon das Herz zusammen.« Bitte, erinnere Dich freundlich dessen, daß unser Held kein Geld hatte, daß jener herzlose Ästhetiker ihm nichts überlassen konnte, daß auch Du nichts für ihn übrig hattest, um ihm seine Zukunft zu sichern. Er mußte also einen andern Weg einschlagen, um zum erwünschten Ziel zu kommen. Weiter wirst Du sehen, daß der Ethiker ihn sehr höflich anredete und ihn nicht als Ausnahme betrachtet, er sagte nicht: Mein Gott, Sie sind nun einmal so unglücklich, Sie müssen sich drin zu finden suchen. Im Gegenteil, er machte den Ästhetiker zur Ausnahme; denn er sagte ja: Die Arbeit ist jedes Menschen Pflicht, man muß arbeiten, um leben zu können. Hat ein Mensch das nicht nötig, so ist er eine Ausnahme; aber eine Ausnahme sein – so sahen wir oben und waren darin einig – ist nicht das Höchste, sondern das Niedrigste. Wenn ein Mensch die Sache daher ethisch ansehen will, so wird er es als eine Demütigung ansehen, wenn man Geld hat; denn jede Vergünstigung ist eine Demütigung. Er wird also nicht nach einer Vergünstigung trachten, sondern sich vielmehr unter dieselbe demütigen; und wenn er das gethan hat, so wird ihn wieder der Gedanke erheben, daß die Vergünstigung ein Ausdruck dafür ist, daß größere Ansprüche an ihn erhoben werden.[575]

Wenn jener Ethiker, bei welchem unser Held schließlich Auskunft suchte und fand, selber wußte, was es heiße, arbeiten, um leben zu können, so werden seine Worte noch größern Nachdruck haben. Es wäre zu wünschen, daß die Menschen da etwas mehr Mut hätten. Denn woher kommt es, daß jene verächtliche Weisheit, das Geld sei die Hauptsache, oft so laut von den Dächern gepredigt wird, woher kommt das, als weil denjenigen Menschen, welche arbeiten müssen, um leben zu können, so oft die ethische Kraft fehlt, die Wahrheit und die Bedeutung dieses Satzes zu verstehen und zu ihrem Grundsatz zu erheben! Nicht die Verführer, sondern die feigen Ehemänner schaden der Ehe am meisten. So auch hier. Jene verächtliche Weisheit schadet nichts, wohl aber schaden diejenigen Menschen der guten Sache, die, gezwungen zur Arbeit, um leben zu können, einen Augenblick dafür gepriesen werden, daß sie so fleißig sind, namentlich, wenn man sie mit den Müßiggängern vergleicht, und im nächsten Augenblick unter Seufzern klagen: unabhängig sein sei doch das Schönste. Welche Achtung soll denn ein junger Mensch für das Leben haben, wenn er die ältern so reden hört? Wieder hast Du Dir selber durch Dein Experimentieren sehr geschadet, denn Du hast etwas erfahren, was gar nicht gut und erfreulich ist. Du verstehst es meisterlich, einen Menschen zu versuchen und ihn zu dem Geständnis zu bringen, daß er in seinem tiefsten Herzen lieber sähe, wenn er nicht zu arbeiten brauchte, und dann triumphierst Du!

Die Frage, ob sich nicht eine Welt denken lasse, in der man nicht zu arbeiten brauche, ist eigentlich eine überflüssige und thörichte Frage, da sie nicht gegebene reale, sondern nur fingierte Verhältnisse vor Augen hat. Indessen ist es doch immer ein Versuch, durch welchen man die ethische Auffassung herabsetzt. Denn wäre die Welt vollkommen, in der man nicht zu arbeiten brauchte, so wäre ja auch das Leben derer, die es nicht nötig haben, das vollkommenste. Also die Pflicht zu arbeiten ist eine traurige Notwendigkeit. Die Pflicht drückt dann nicht das Allgemein-Menschliche aus, sondern das Allgemeine, und Pflicht wäre dann nicht der Ausdruck für das Vollkommene. Deshalb würde ich auch ganz richtig antworten können, es wäre eine unvollkommene Welt, in welcher der Mensch nicht zu arbeiten brauchte.[576]

Je niedriger ein Mensch steht, um so weniger zeigt sich ihm die Notwendigkeit der Arbeit; je höher er steht, um so mehr tritt auch die letztere in ihr Recht. Die Pflicht, zu arbeiten, um zu leben, drückt das Allgemein-Menschliche aus, und drückt zugleich auch in einem andern Sinne das Allgemeine aus, weil es ein Ausdruck der Freiheit ist. Gerade durch die Arbeit macht der Mensch sich frei, durch die Arbeit wird er ein Herr der Erde, durch die Arbeit endlich beweist er's, daß er über der Natur steht.

Oder sollte ein Leben dadurch, daß ein Mensch arbeiten muß, um zu leben, sollte es dadurch seine Schönheit verlieren? Wieder stehe ich hier vor der alten Frage: Was versteht man unter Schönheit? Schön ist's, die Lilien auf dem Felde zu sehen, wie sie weder arbeiten noch spinnen, und doch lieblicher sind als Salomo in aller seiner Pracht und Herrlichkeit; schön ist's, die Vögel unter dem Himmel zu sehen, wie sie, ohne zu säen und zu ernten, ihr Futter finden; schön ist's, Adam und Eva in einem Paradiese zu sehen, wo sie alles finden, was sie suchen; aber schöner noch ist's, wenn ein Mann sich durch seine Arbeit verdient, was er bedarf. Schön ist's, wenn die Vorsehung alles speist und für alles sorgt, aber schöner noch ist's, wenn ein Mann gewissermaßen seine eigne Vorsehung ist. Dadurch ist ein Mensch so groß, größer als irgend eine andre Kreatur, daß er für sich selber sorgen kann. Es ist ein Ausdruck für die Vollkommenheit des Menschen, daß er arbeiten kann, aber es ist ein noch höherer Ausdruck derselben, daß er es soll.

Wenn unser Held diese Anschauung adoptieren will, wird er sich nicht zu dem Wunsche versucht fühlen, im Schlaf zu einem Vermögen zu kommen, er wird es fühlen, wie schön es ist, zu arbeiten, um zu leben, er wird darin seinen höchsten Adel erkennen; denn es ist nicht die Größe der Pflanze, daß sie nicht arbeitet und spinnt, sondern ihre Unvollkommenheit, daß sie es nicht kann. Er möchte nun wohl ein Freund jenes wohlhabenden Ästhetikers werden. Besonnenen Geistes wird er sehen, was das Größere ist, und wird sich von Geldmenschen nicht bange machen lassen. Merkwürdig genug; aber ich habe Menschen gesehen, die mit wahrer Freude die Bedeutung der Arbeit fühlten, die in ihrer Arbeit zufrieden waren, glücklich in ihrer[577] Genügsamkeit, und doch hatten sie nicht den Mut, dafür auch frei und offen einzutreten. Wenn sie davon sprachen, was sie brauchten, so wollten sie immer das Ansehen haben, als brauchten sie viel mehr als sie wirklich brauchten; sie wollten in den Augen andrer nicht fleißig sein, obgleich sie es wirklich waren, recht als wäre es größer und schöner, wenn sie mehr brauchten, als wenn sie sich am Wenigern genügen ließen, größer und schöner ein Müßiggänger als ein fleißiger Arbeiter zu sein.

Zur Arbeit würde unser Held sich vermutlich entschließen, aber er würde doch gern frei von Nahrungssorgen bleiben wollen. Ich habe niemals Nahrungssorgen kennen gelernt; denn obgleich ich in gewissem Grade arbeiten muß, um zu leben, habe ich doch immer mein reichliches Auskommen gehabt; ich kann daher hier nicht aus Erfahrung sprechen, aber ich habe für den schweren Druck der Nahrungssorgen immer ein offnes Auge gehabt, aber auch ein offnes Auge für das Schöne, das Bildende, das Veredelnde, das darin liegt; denn ich glaube, keine Sorge bildet in dem Maße wie die Nahrungssorge. Ich habe Menschen gekannt, die durchaus nicht der Ansicht waren, das Leben des Menschen müsse ohne Kampf sein, und die Kraft und Mut zum Kampf fühlten, wo andre verzagten, und doch habe ich sie zugleich gar oft sagen hören: Gott erlöse mich nur von der Nahrungssorge, denn nichts unterdrückt so sehr alles Höhere im Menschen wie sie. Wenn ich solche Äußerungen höre, dann fällt es mir wieder und wieder ein, wie doch nichts so trügerisch ist wie das menschliche Herz. Man hat den Mut, sich in den gefährlichsten Kampf hinauszuwagen, aber mit den Nahrungssorgen will man nicht anbinden; und doch soll der Sieg in jenem Kampf größer und schöner als der Sieg in diesem Streite sein. Das ist nun freilich sehr bequem. Man wählt den leichtern Kampf, der außerdem in den Augen der Menge gefährlicher aussieht; man bildet sich ein, es sei wirklich so; man siegt und ist – ein Held, und zwar ein ganz andrer Held, als wenn man in jenem niedrigen, eines Menschen unwürdigen Streit siegte. Ja, wenn man außer den Nahrungssorgen zugleich einen solchen heimlichen Feind in seinem eignen Innern hat, dann ist's freilich kein Wunder, wenn man mit diesem Streit verschont werden mochte. Aber so ehrlich sollte man doch wenigstens gegen sich selber[578] sein, daß man es offen einräumte, der Grund, weshalb man sich vor diesem Kampfe so fürchte, sei der, weil derselbe viel schwerer sei als jede andre Anfechtung; ist das aber wahr, dann ist ja auch der Sieg viel schöner. Sofern man sich nicht selber in diesem Kampf versucht hat, schuldet man jedem Kämpfer das offne Bekenntnis, daß sein Kampf der gefährlichste ist, man schuldet ihm diese Ehrenerklärung. Und sieht ein Mensch die Nahrungssorge so an, als einen Ehrenkampf, in noch strengerm Sinn als irgend ein andrer Kampf es ist, so kommt er schon etwas weiter. Auch hier heißt's, wie überall, seine Zeit nicht mit Wünschen verlieren, sondern seine Aufgabe ins Auge fassen. Ist dieselbe scheinbar klein und unbedeutend, nun wohl, das macht den Streit nur schwerer und den Sieg schöner, Es gibt Männer, die ein Orden ehrt, und wiederum Männer, die den Orden, den sie tragen, ehren; das wende der auf sich selber an, der mit Nahrungssorgen kämpfen muß, ob er wohl Mut und Kraft fühlt, in andern Kämpfen zu zeigen, wer er ist.

Ein Kampf mit Nahrungssorgen hat die in hohem Grade bildende Eigenschaft, daß der Lohn so sehr gering ist, oder richtiger, daß dem Kämpfer gar kein Lohn zu teil wird. Der Kämpfende streitet nur um die Möglichkeit zu schaffen, daß er immer wieder den Kampf aufnehmen kann. Je größer der Lohn des Kampfes ist, je mehr er außerhalb des Menschen liegt, um so mehr muß der Kämpfer mit all den zweifelhaften Leidenschaften rechnen, die in seiner Brust wohnen. Ehrgeiz, Eitelkeit, Stolz, das sind Kräfte, die eine ungeheure Elastizität haben und einen Menschen weit bringen können. Wer mit Nahrungssorgen kämpft, merkt bald, daß diese Leidenschaften ihn im Stich lassen; denn wie sollte er zu dem Glauben kommen, daß ein solcher Streit andre interessieren oder ihre Bewunderung wecken könnte? Hat er keine andern Kräfte, dann ist er entwaffnet. Und wie gering ist der Lohn! Denn hat er sich's sauer werden lassen, dann hat er vielleicht gerade das Allernötigste erworben, und wieder muß er sich plagen und darf sich keine Mühe verdrießen lassen. Siehe, deshalb sind die Nahrungssorgen so veredelnd und bildend, weil sie einem Menschen nicht erlauben, daß er sich täusche. Sieht er in diesem Kampf nichts Höheres, dann ist derselbe freilich[579] gar jämmerlich; und er hat recht, wenn es ihm kümmerlich erscheint, daß er kämpfen muß, um sein Brot im Schweiß des Angesichtes essen zu können. Aber darum ist dieser Streit so veredelnd, weil er ihn zwingt, in demselben noch etwas andres zu sehen, nämlich einen Ehrenstreit, und ebendarum ist der Lohn so klein, damit die Ehre um so größer sein kann. Wohl streitet er, um sein Auskommen zu finden, aber vielmehr noch, um sich selber zu gewinnen; und wir andern, die wir nicht so schwer versucht wurden, aber uns doch das Gefühl für die wahre Größe eines solchen Kampfes bewahrt haben, wir wollen ihm zuschauen, wenn er es uns erlaubt, wir wollen zu ihm als einem Ehrenmitgliede der menschlichen Gesellschaft bewundernd emporblicken. Er kämpft einen doppelten Streit, er kann in dem einen verlieren und zugleich in dem andern siegen. Wollte ich mir das fast Undenkbare denken, daß alle seine Bestrebungen, um sein Auskommen zu finden, mißlängen, dann hätte er ja verloren, und doch könnte er zur selben Zeit den schönsten Sieg gewonnen haben.

Und welcher Streit sollte nun bildender sein als der mit den Nahrungssorgen! Welche Kindlichkeit gehört nicht dazu, um zuweilen fast lächeln zu können über all die irdischen Mühen und Plagen, für die ein unsterblicher Geist leben muß – welche Demut, um mit dem Wenigen zufrieden zu sein, das mit so viel Mühe erworben wird! – welcher Glaube, um auch die Hand Gottes in seinem Leben zu erkennen; denn es ist leicht gesagt, daß Gott im Kleinsten am größten ist, aber es gehört ein starker Glaube dazu, um Gott darin sehen zu können – und welche Liebe zu den Menschen, um fröhlich mit den Glücklichen sein und die ermuntern zu können, die in kümmerlichen Verhältnissen leben! Welche Ausdauer im Kampf! Denn ich kann mir kaum einen verschlagneren Feind denken als diese Sorge. Nein, er besiegt ihn nicht mit einigen kühnen Bewegungen, verjagt ihn nicht mit lautem Lärmen. Welche Grazie und welcher Anstand, um ihm auszuweichen und doch nicht vor ihm zu fliehen. Wie oft müssen die Waffen nicht vertauscht werden! Bald muß man arbeiten, bald warten, bald trotzen, bald beten! Und während dessen geht die Zeit hin und er sieht seine schönen Pläne nicht realisiert, die Wünsche seiner Jugend nicht erfüllt. Ja, andre siegen. Sie sammeln die[580] Menge um sich, sie ernten ihren Beifall, sie freuen sich an dem Jubel derselben, er aber steht wie ein einsamer Künstler auf der Bühne des Lebens, er hat kein Publikum, niemand hat so viel Zeit, nach ihm hinzusehen. Als ich zwanzig Jahre alt war, sagt er vielleicht, träumte auch mir von Kampf und Sieg, ich sah mich im Geist auf dem Wahlplatz, ich schaute hinauf zum Balkon und sah die Mädchen im schönen Kranz, sah es, wie sie um mich bangten und sorgten, sah, wie sie mir freundlich zuwinkten, und ich vergaß des Kampfes Mühen; nun bin ich älter geworden, und mein Kampf ein andrer, aber meine Seele ist nicht weniger stolz. Ich fordre einen andern Richter, einen Kenner, ich fordre ein Auge, das ins Verborgne sieht und nicht müde wird, zuzusehen, ein Auge, das die Gefahren sieht, mit denen ich kämpfe; ich fordre ein Ohr, das das Arbeiten der Gedanken vernimmt und es ahnt, wie sich aus der Tortur der Anfechtung mein besseres Wesen entwickelt. Zu diesem Kampfrichter will ich emporschauen, nach seinem Beifall will ich trachten, ob ich ihn wohl nicht verdienen kann. Und wird mir der Kelch der Leiden gereicht, so will ich nicht auf den Kelch blicken, sondern auf den, der ihn mir reicht, und ich will nicht auf den Boden des Kelches starren, ob ich ihn nicht bald ganz geleert habe, sondern unerschütterlich auf den, von welchem ich ihn empfangen habe. Froh will ich den Kelch in meine Hand nehmen, nicht trinke ich ihn wie bei einer festlichen Gelegenheit auf eines andern Wohl, mich selber an dem Feuer des Weines erfreuend; nein, ich will seine Bitterkeit schmecken, und, sie schmeckend, rufe ich mir selber zu: Mein Wohl! denn ich weiß es und bin des gewiß, daß ich mir durch diesen Trunk eine ewige Gesundheit erkaufe.

So, glaube ich, muß man ethisch den Streit ansehen, der mit den Nahrungssorgen gekämpft wird. Und nun will ich nicht auf mein Recht pochen und Dich fragen, wo Du in Deiner Ästhetik diese Sache behandelst, aber ich gebe es Deiner Erwägung anheim, ob das Leben selbst in diesem Streit seine Schönheit verliert, wenn man es nicht selber will, oder ob es durch denselben nicht vielmehr eine höhere Schönheit gewinnt. Leugnen wollen, daß eine solche Sorge existiere, wäre ja Wahnsinn; vergessen, daß sie existiert, weil sie an der Thür unsers Hauses vorübergeht, ist Gedankenlosigkeit, sofern man den[581] Anspruch erhebt, eine Lebensanschauung zu haben, ist Herzlosigkeit oder Feigheit.

Die ethische Betrachtung, nach welcher es jedes Menschen Pflicht ist zu arbeiten, um zu leben, hat vor der ästhetischen zwei Vorzüge. Zum ersten ist sie in Harmonie mit der Wirklichkeit, erklärt in dieser etwas Allgemeines, während die ästhetische etwas Zufälliges setzt und nichts erklärt. Zum andern faßt sie den Menschen nach seiner Vollkommenheit auf und sieht ihn in seiner wahren Schönheit. Wünschst Du außerdem noch einige empirische Bemerkungen, nun, ich gebe sie extra, nicht als ob die ethische Betrachtung derselben nicht entraten könnte, sondern weil sie Dir vielleicht heilsam sein möchten.

Ich kannte einen alten Mann; derselbe pflegte immer zu sagen, es sei dem Menschen gut, daß er arbeiten lerne, um zu leben; und das habe seine Wahrheit sowohl für das Alter wie für die Jugend. Meine Meinung ist nun durchaus nicht, daß es für einen jungen Menschen heilsam wäre, gleich von Nahrungssorgen gequält zu werden. Aber laß ihn nur arbeiten lernen, um zu leben. Die so viel gepriesene Unabhängigkeit ist oft eine Schlinge; jede Lust kann befriedigt, jeder Neigung nachgegangen werden, jede Laune gedeiht üppig, bis alle diese Mächte sich wider einen selber verschwören. Wer arbeiten muß, wird mit der eitlen Freude unbekannt bleiben, daß man alles bekommen kann, was man haben will, er wird nicht auf seinen Reichtum trotzen lernen und meinen, das Geld könne jeden Stein aus dem Wege räumen und mit dem Gelde könne man sich jede Freiheit erkaufen; aber sein Gemüt wird auch nicht bitter werden und er wird sich nicht versucht fühlen, wie es vielleicht schon manchem Jüngling ergangen ist, mit Jugurtha zu sagen: Diese Stadt ist feil, wenn sich nur ein Käufer findet.

Wenn ich daher so oft die Menschen klagen höre, sie seien gezwungen zu arbeiten, ob ihre Seele sich wohl viel lieber höher aufschwänge, so werde ich wirklich zuweilen ungeduldig. Du brauchst nun nicht zu arbeiten, um zu leben, und ich will Dir auch durchaus nicht raten, Dein Vermögen wegzuwerfen, damit Du anfangen müßtest, zu arbeiten. Das taugt nicht, denn alles Experimentieren ist eine Thorheit, die zu nichts führt. Indessen glaube ich, daß Du Dir[582] noch in einem andern Sinn die rechten Lebensbedingungen erwerben mußt. Um leben zu können, mußt Du suchen, über die Dir angeborne Schwermut Herr zu werden. Diese Schwermut ist Dein Unglück gewesen, aber Du wirst sehen, es kommt noch einmal eine Zeit, da Du es selber gestehen wirst, daß es Dein Glück gewesen ist. Du gehörst zwar nicht zu denen, die mich durch unaufhörliche Klagen ungeduldig machen, nein, Du klagst nicht, eher thätest Du alles andre, aber Du frißt Deine Leiden in Dich hinein. Hüte Dich daher, daß Du nicht in das entgegengesetzte Extrem verfällst, in einen wahnsinnigen Trotz, da Du Deine Kräfte dadurch verzehrst, daß Du den Schmerz zu verbergen suchst, statt sie dazu anzuwenden, daß Du ihn trägst und überwindest.

Unser Held ist also bereit zu arbeiten, nicht weil es ihm eine dura necessitas ist, sondern weil er es für das Schönste und Vollkommenste hält, was er sich denken kann. Aber gerade weil er arbeiten will, kann sein Werk wohl eine Arbeit werden, aber kein Sklavendienst. Er fordert für seine Arbeiten einen höhern Ausdruck, einen Ausdruck, der das Verhältnis seiner Thätigkeit zu seiner Person und zu andern Menschen bezeichnet. Hier wird jedoch eine Erwägung notwendig. Jener Philosoph mit den 3000 Thalern findet es gewiß unter seiner Würde, sich mit ihm einzulassen; aber unser Held ist wie die Männer des Volkes es zu sein pflegen. Er möchte doch auch gern ästhetisch leben und ist auch, wie die meisten Menschen der niedrigen Klasse, ungenügsam. Obgleich es also der Ethiker war, her ihm in seiner frühern Verlegenheit, half, so ist er doch nicht der erste, an den er sich wendet. Vielleicht glaubt er im stillen, der Ethiker werde ihm schließlich noch einmal wieder helfen; denn so niedriggesinnt ist unser Held nicht, daß er nicht einräumte, der Ethiker habe ihm wirklich aus seiner Verlegenheit geholfen, obgleich er ihm kein Geld geben konnte. Er wendet sich daher an einen etwas humanern Ästhetiker. Dieser wird ihm nun auch vielleicht einen Vortrag über die Bedeutung der Arbeit halten; ohne Arbeit wird das Leben zuletzt ja langweilig. »Jedoch« – so sagt er – »darf eine Arbeit keine Arbeit im strengem Sinn des Wortes sein, sondern sie muß beständig als Lust bestimmt werden können. Man entdeckt bei sich[583] selber dieses oder jenes aristokratische Talent, durch das man sich vom großen Haufen distinguiert. Man bildet es nicht leichtsinnig aus, denn dann wird man desselben doch bald überdrüssig, sondern mit allem möglichen ästhetischen Ernst. Da gewinnt das Leben neue Bedeutung, denn da ist unsre Arbeit recht eigentlich unsre Lust. Dieses Talent macht man jedoch nicht zu einer Planke, auf der man sich aus dem Schiffbruch des Lebens rettet, sondern zu einem Flügel auf welchem man sich über die Welt hinausschwingt.« Unser Held hat jedoch kein solch aristokratisches Talent, er ist, wie die meisten Menschen sind. Da weiß der Ästhetiker keinen andern Ausweg als den, er müsse sich darein finden, im Leben ein Arbeiter zu sein. »Verlieren Sie den Mut nicht,« so sagt er ihm, »auch das hat seine Bedeutung, ist ehrenvoll und achtungswert; werden Sie ein fixer, strebsamer Mann, ein nützliches Glied der Gesellschaft. Ich freue mich schon recht darauf, Sie zu sehen, denn je mannigfacher das Leben ist, um so interessanter für den, der es betrachtet. Deshalb hasse ich mit allen Ästhetikern eine Nationaltracht, weil es höchst langweilig wäre, wenn alle dieselbe Kleidung trügen. So muß auch jeder seine besondre Arbeit im Leben haben, um so schöner wird es für mich und alle die, die es zu ihrer Profession machen, das Leben zu betrachten.« Hoffentlich wird unser Held über solche Behandlung etwas ungeduldig, und es empört ihn das Unverschämte, das in solcher Einteilung des Menschen liegt. Dazu kommt, daß auch in der Anschauung dieses Ästhetikers die Unabhängigkeit eine Rolle spielt, und unabhängig ist er nun einmal nicht.

Vielleicht kann er sich noch nicht entschließen, sich an den Ethiker zu wenden, und wagt noch einen Versuch. Er trifft einen Menschen, der ihm sagt: Man muß arbeiten, um zu leben. Es ist nun einmal im Leben nicht anders, und darauf ist alles eingerichtet. Nun scheint er den gefunden zu haben, den er suchte, denn das ist's ja gerade, was auch er meint. »Man muß arbeiten, um zu leben, so ist das Leben nun einmal eingerichtet. Man schläft sieben Stunden des Tages, das ist verlorne Zeit, versteht sich, aber es muß so sein. Arbeitet man täglich fünf Stunden, so hat man sein Auskommen, und wenn man das hat, so fängt man an zu leben. Die Arbeit[584] muß so langweilig und nichtssagend wie möglich sein, nur daß sie einem das Auskommen gewährt. Hat man ein spezielles Talent, so versündige man sich doch ja niemals dadurch gegen dasselbe, daß man es zu seiner Erwerbsquelle macht. Nein, sein Talent muß man wie seinen Augapfel hüten, das hat man für sich selber, und davon hat man größere Freude, als eine Mutter von ihrem Kinde; das pflege und entwickle man in den zwölf übrigen Stunden des Tages, während man ja in sieben Stunden schläft und in fünf Stunden ein Unmensch ist. So wird das Leben doch erträglich, ja sogar recht schön; denn die fünf Stunden Arbeit haben nicht so gar viel zu bedeuten; weil wir mit unsern Gedanken niemals bei ihr sind, so sammeln wir uns Kräfte zu der Arbeit, die unsre Lust ist.«

Unser Held ist nun wieder seinem Ziele ebenso nah wie vorher. Teils hat er nämlich kein spezielles Talent, um mit demselben die zwölf Stunden zu Hause auszufüllen, teils hat er ja bereits eine schönere Ansicht von der Arbeit, eine Ansicht, die er nicht aufgeben will. Er entschließt sich also von neuem, zum Ethiker zu gehen. Dessen Rede ist kurz: »Es ist jedes Menschen Pflicht, einen Lebensberuf zu haben.« Mehr kann er nicht sagen, denn das Ethische als solches ist immer abstrakt, und einen abstrakten Lebensberuf für alle Menschen gibt es nicht; im Gegenteil, er setzt voraus, daß jeder Mensch seinen besondern Beruf hat. Welchen Beruf unser Held wählen soll, kann der Ethiker nicht sagen; denn dazu ist eine detaillierte Kenntnis des Ästhetischen in seiner ganzen Persönlichkeit notwendig; und selbst wenn der Ethiker diese Kenntnis hätte, er würde doch nicht für ihn wählen können, weil er dann ja seine eigne Lebensanschauung verleugnete. Was er vom Ethiker lernen kann, ist dies, daß jeder Mensch seinen Beruf hat, und wenn unser Held ihn gefunden hat, dann muß er ihn ethisch wählen. Was der Ästhetiker nämlich von den aristokratischen Talenten sagte, ist eine verworrene und skeptische Rede von dem, was der Ethiker erklärt. Die Lebensanschauungen des Ästhetikers liegen immer in der Differenz: einige Menschen haben Talent, andre nicht, und doch ist das, was sie scheidet, mehr oder weniger eine quantitative Bestimmung. Es ist daher eine Willkür, wenn sie bei einem einzelnen Punkt stehen[585] bleiben, und doch liegt der Nerv ihrer Lebensbetrachtung gerade in dieser Willkür. Ihre Lebensanschauung bringt in das ganze Dasein einen Widerspruch, den sie nicht heben können, während sie sich mit herzlosem Leichtsinn wider ihn zu waffnen suchen. Der Ethiker söhnt dagegen mit dem Leben aus, denn er sagt: Jeder Mensch hat einen Beruf. Er vernichtet die Differenzen nicht, sondern sagt: In allen Differenzen bleibt das Allgemeine zurück, daß es einen Beruf gibt. Das eminenteste Talent ist ein Beruf, und das Individuum, das im Besitz desselben ist, kann die Wirklichkeit nicht aus den Augen verlieren, er soll nicht hinausgewiesen werden, um im confinium mit den Tieren zu leben, er steht nicht außerhalb des Allgemein-Menschlichen, er hat einen Beruf.

Der ethische Satz, daß jeder Mensch einen Beruf hat, ist der Ausdruck für die Wahrheit, daß es eine vernünftige Ordnung der Dinge gibt, in welcher jeder Mensch, wenn er nur will, seinen Platz, so ausfüllt, daß er zu gleicher Zeit das Allgemein-Menschliche und das Individuelle ausdrückt. Ist das Leben bei dieser Betrachtung weniger schön geworden? Zwar kann man sich keiner Aristokratie erfreuen, deren Bedeutung auf einem Zufall ruht, nein, aber man hat ein Königreich von Göttern.

Sobald ein Talent nicht als ein Beruf aufgefaßt wird – und sobald es als ein Beruf aufgefaßt wird, hat jeder Mensch einen Beruf – ist dasselbe absolut egoistisch. Wer daher sein Leben auf ein Talent gründet, der etabliert, so gut er kann, eine Räuberexistenz. Denn er hat für das Talent keinen höhern Ausdruck als den, daß es ein Talent ist. Dieses Talent will also in seiner ganzen Differenz hervorbrechen. Jedes Talent hat daher die Neigung, sich zu dem Zentralen zu machen; denn nur in diesem wilden Vorwärtsstürmen liegt der eigentliche ästhetische Genuß des Talentes. Hat einer mehrere Talente, so kollidieren dieselben auf Tod und Leben, denn sie haben nichts Konzentrisches, keinen höhern Ausdruck miteinander gemein.

Unser Held hat also gefunden, was er suchte, eine Arbeit, von der er leben konnte; und er hat zugleich einen bedeutungsvolleren Ausdruck dieses Verhältnisses zu seiner Persönlichkeit gefunden: sie ist sein Beruf, und die Ausführung der Pflichten desselben ist also mit[586] einer Befriedigung seiner ganzen Persönlichkeit verbunden. Weiter hat er aber auch einen bedeutungsvolleren Ausdruck für das Verhältnis seiner Arbeit zu andern Menschen gefunden; denn da seine Arbeit sein Beruf ist, steht er im wesentlichen allen Menschen gleich; denn durch seine Arbeit thut er dasselbe wie jeder andre, der seinen Beruf erfüllt. Diese Anerkennung fordert er, mehr nicht, aber dies ist auch das Absolute. »Ist mein Beruf gering und unbedeutend,« – sagt er – »so kann ich demselben doch treu sein, und ich bin daher im wesentlichen ebenso groß wie der größte Mensch, ohne daß ich deshalb einen Augenblick so thöricht sein könnte, die Differenzen vergessen zu wollen. Damit wäre mir selber am wenigsten gedient; denn vergäße ich dieselben, dann gäbe es nur einen abstrakten Beruf für alle; aber ein abstrakter Beruf ist kein Beruf, und ich hätte wieder gerade so viel verloren wie die größten Männer. Ist mein Beruf gering, ich kann ihm doch untreu sein, und bin ich das, dann begehe ich eine ebenso große Sünde wie der größte Mann. Ich werde nicht so thöricht sein, daß ich die Differenzen vergessen oder meinen könnte, meine Untreue werde ebenso verderbliche Folgen für das Ganze haben, wie die Untreue eines Großen; damit wäre mir nicht gedient, denn ich würde selber am meisten dadurch verlieren.«

Die ethische Betrachtung, daß jeder Mensch einen Beruf hat, hat vor der ästhetischen Theorie vom Talent zwei Vorzüge. Teils erklärt sie nicht etwas Zufälliges in der Existenz, sondern das Allgemeine, teils zeigt sie das Allgemeine in seiner wahren Schönheit. Denn erst dann ist das Talent schön, wenn es als ein Beruf erscheint, und erst dann ist das Leben schön, wenn jeder Mensch einen Beruf hat. Da sich dies nun so verhält, bitte ich Dich, eine einzelne empirische Beobachtung nicht zu verschmähen.

Wenn ein Mensch nämlich einen Beruf hat, dann hat er gern ein Normativ, das ihm einigermaßen zeigt, was er zu thun hat, ohne daß es ihn zu einem Sklaven macht, das seine Zeit einteilt und ihm oft Gelegenheit gibt, anzufangen. Gelingt ihm seine Arbeit einmal nicht, so hofft er, sie das nächste Mal besser zu machen, und dieses nächste Mal liegt in der Zeit nicht so fern. Wer dagegen keinen Beruf hat, der muß, da er sich selber eine Aufgabe setzen will,[587] oft ganz anders uno tenore arbeiten. Er hat keine Unterbrechung, es sei denn, daß er sich selber unterbricht. Schlägt es fehl, so schlägt alles fehl, und er kann nicht so leicht wieder von vorn anfangen, da ihm ein Anlaß fehlt. So wird er leicht ein Pedant, wenn nicht gar ein Müßiggänger. Man wirft gewöhnlich den Menschen, die bestimmte Arbeiten haben, Pedanterie vor. In der Regel kann ein solcher Mensch überhaupt kein Pedant werden. Wer aber keine bestimmten Arbeiten hat, der wird's leicht, schon um in der ihm gewährten allzugroßen Freiheit nicht auf falsche Wege zu geraten. Man vergebe ihm daher seine Pedanterie, da sie im Grunde doch ein gutes Zeichen ist; aber anderseits muß man sie freilich auch als eine Strafe ansehen, weil er sich vom Allgemeinen emanzipieren wollte.

Unser Held fand einen bedeutungsvolleren Ausdruck für das Verhältnis seiner Arbeit zu der Arbeit andrer Menschen darin, daß sie ein Beruf war. Er ist also anerkannt, er hat sein Kreditiv eingelöst. Aber erfüllt er nun also seinen Beruf, so findet er freilich seine Befriedigung in demselben, aber er fordert zugleich einen Ausdruck für das Verhältnis dieser Thätigkeit zu andern Menschen, er will etwas ausrichten. Vielleicht schlägt er hier wieder falsche Wege ein. Der Ästhetiker wird ihm sagen, die Befriedigung des Talentes sei das Höchste, es sei aber ganz nebensächlich, ob man etwas im Leben ausrichte oder nicht. Er wird vielleicht auf eine praktische Borniertheit stoßen, die in ihrem inepten Eifer alles ausrichten zu können glaubt, oder auf ein ästhetisch-vornehmes Wesen, das da meint, etwas in der Welt auszurichten – das sei das Los einzelner Auserwählter, da nur einzelne eminente Talente etwas ausrichteten, aber der Rest des menschlichen Geschlechtes sei numerus, ein überflüssiger Luxus des Lebens. Aber mit allen diesen schönen Erklärungen ist unserm Helden nicht gedient, denn er ist ja eben nur ein Mann des Volkes.

Laßt uns wieder zum Ethiker gehen. Er sagt; was jeder Mensch ausrichtet und ausrichten kann, ist das, daß er seine Arbeit im Leben thun kann. Verhielte es sich nämlich wirklich so, daß einige Menschen etwas im Leben ausrichteten, andre nicht, und läge der Grund in ihrer Zufälligkeit, ja, dann hätte die Skepsis natürlich[588] wieder recht. Man muß daher sagen: Wesentlich richten alle Menschen gleich viel aus. Ich predige keineswegs Indolenz, aber anderseits muß man im Gebrauch des Wortes »ausrichten« freilich vorsichtig sein. Das hat Dich immer zum Spott gereizt, und Du hast, wie Du einmal äußertest, »aus dem Grunde die Integral- und Differenzialrechnung und das Kalkül des Unendlichen studiert, um zu berechnen, wieviel ein Schreiber im Marineministerium, der im ganzen Büreau als ein tüchtiger Arbeiter angesehen werde, für das Ganze ausrichte.« Ja, spotte nur derer aller, die sich im Leben wichtig machen, aber mißbrauche niemals den Spott, um andre Menschen zu verwirren.

Das Wort »ausrichten« bezeichnet ein Verhältnis zwischen meiner Handlung und einem andern, der außerhalb meines Ich liegt. Es ist nun sehr leicht einzusehen, daß dieses Verhältnis nicht in meiner Macht steht, und daß man insofern mit demselben Rechte von dem eminentesten Talent, wie von dem einfachsten Menschen sagen kann, es richte nichts aus. Darin liegt kein Mißtrauen zum Leben, vielmehr ist's eine Anerkennung meiner eignen Unbedeutenheit und der Bedeutung jedes andern. Das eminenteste Talent kann sein Werk ausrichten, aber das kann auch der einfachste Mensch. Mehr kann keiner. Ob sie etwas im Leben, in der Welt ausrichten, das steht nicht in ihrer Macht. Was ich ausrichte, das folgt meiner Arbeit nach, ich darf mich dessen wohl freuen, darf es mir aber nicht absolut zuschreiben.

Jeder Mensch kann etwas ausrichten, er kann seine Arbeit thun. Diese Arbeit mag sehr verschieden sein, aber daran müssen wir immer festhalten, daß jeder Mensch seine Arbeit hat und daß das, was ich ausrichten soll – das Wort nach seinem allgemeinen Sprachgebrauch genommen - , nicht in meiner Macht steht. Es könnte daher scheinen, daß jener Ästhetiker recht hatte, als er meinte, daß man über das, was man ausrichte, nicht reflektieren, sondern nur die Befriedigung genießen solle, welche die Entwickelung des eignen Talents gewähre. Der Fehler war jedoch der, daß er bei der selbstischen Bestimmung des Talentes stehen blieb. Er zählte sich selber zu den Auserwählten und wollte im Leben nichts Allgemeines ausrichten,[589] sein Talent nicht als sein Arbeitsfeld ansehen. Dagegen gehört der Mensch, von dem man sagen müßte, seine einzige Arbeit im Leben sei die, daß er sich selber entwickele – der gehört natürlich zu denen, welche, menschlich geredet, am wenigsten begabt sind. Ein junges Mädchen z.B. Sie gehört wohl zu denen, von denen man nicht versucht sein wird zu sagen, daß sie etwas ausrichten können. Ist sie außerdem unglücklich in der Liebe geworden, ist ihr die letzte Hoffnung, etwas auszurichten, ganz und gar genommen, wenn sie nur ihre Arbeit thut, wenn sie sich nur selber entwickelt, so richtet sie, wesentlich betrachtet, ebensoviel aus wie der Größte.

»Etwas ausrichten« und »seine Arbeit thun« sind also identische Begriffe. Denke Dir einen Menschen, der tief und ernst bewegt ist; es fällt ihm niemals ein, daß er etwas ausrichten müsse, nur die Idee will mit ihrer ganzen Macht in ihm hervorbrechen. Sei er ein Redner, ein Pastor, oder was Du willst. Er spricht nicht zur Menge, um etwas auszurichten, aber die Saiten des Instrumentes müssen in ihm klingen; nur dann fühlt er sich glücklich. Und meinst Du, der werde weniger ausrichten als ein andrer, der immer nur an das denkt, was er selber ausrichten will?

Seltsam genug, weder Du noch ich, oder unser Held selbst, oder jener kluge Ästhetiker, haben es bemerkt, und doch ist's so, unser Held ist im Besitz eines außergewöhnlichen Talents. Er arbeitet, um zu leben; diese Arbeit ist zugleich seine Lust; er erfüllt seinen Beruf, er richtet sein Werk aus, daß ich's nur mit einem Worte sage und zwar mit einem Worte, das Dir Angst einjagt, – er hat sein gutes Brot, »ein Brot mit Ehren,« wie der Dichter sagt. Was denn noch mehr? Du lächelst, Du meinst, ich hätte noch etwas in petto. Dir graut schon vor der Prosa; denn »nun wird er auch schon eine Frau finden,« höre ich spöttisch von Deinen Lippen: »Eh bien, ich habe nichts dagegen einzuwenden, nur gegen eins muß ich protestieren, daß du deinen Klienten einen Helden nennst. Ich bin sehr nachsichtig gewesen und habe nicht den Stab über ihn brechen wollen, aber nun mußt du mich wirklich entschuldigen, wenn ich in eine andre Straße einbiege und dich nicht länger hören mag. Ein Mann, der sein gutes Brot hat, und ein Ehemann, alle Achtung vor ihm, aber ein[590] Held? Den Anspruch wird er wohl kaum selbst erheben.« Du meinst, um ein Held zu sein, müsse man etwas Ungewöhnliches thun. Dann hast Du wirklich glänzende Ausfichten. Aber wie, wenn nun mehr Mut dazu gehörte, das Gewöhnliche zu thun als das Außergewöhnliche? Und wer Mut zeigt, ist ja doch ein Held! Es kommt da in der That nicht soviel darauf an, was einer thut, sondern wie er es thut. Es kann jemand Reiche und Länder erobern, ohne ein Held zu sein, und ein andrer kann sich dadurch, daß er sich selber bezwingt, als einen Helden erweisen. Einer kann in außergewöhnlichen Heldenthaten, ein andrer in der gewöhnlichen Arbeit des täglichen Lebens Mut zeigen. Es fragt sich immer, wie er es thut. Ich bin auch nachsichtig gegen unsern Helden gewesen und habe ihn einen »Helden« genannt, obgleich es öfter schien, als werde er sich dieses Ehrennamens unwürdig erweisen. Aber heiratet er, so entlasse ich ihn ruhig aus meiner Hand und übergebe ihn freudig seinem Weibe. Wegen des Widerspruchsgeistes, den er früher an den Tag legte, mußte er nämlich unter speziellere Aufsicht gestellt werden. Diese Arbeit wird nun seine Frau auf sich nehmen, und alles wird gut gehen; denn so oft er sich versucht fühlen wird, den ungewöhnlichen Menschen zu spielen, wird seine Frau ihn sofort wieder orientieren, und so wird er sich ganz im stillen den Namen eines Helden verdienen, wie auch sein Leben nicht ohne Heldenthaten sein wird. Ich habe dann nichts mehr mit ihm zu thun, es sei denn, daß er sich zu mir hingezogen fühlen sollte, sowie ich mich zu ihm hingezogen fühlen werde, wenn er weiter auf seiner Heldenbahn wandelt. Er wird dann in mir einen Freund sehen, und unser Verhältnis wird nicht ohne Bedeutung sein. Daß Du Dich dann von ihm zurückziehen wirst – nun, darein wird er sich zu finden wissen, um so mehr, als er leicht etwas argwöhnisch werden könnte, falls es Dir gefallen sollte, ihm Dein Interesse zu schenken. Also ich wünsche ihm und jedem Ehemann Glück.

Jedoch so weit sind wir noch lange nicht gekommen. Du kannst noch so lange auf ihn hoffen, wie ich für ihn fürchte. Unser Held ist nämlich, wie wir gesehen haben, wie die meisten Menschen seiner Klasse: er hat eine Neigung zum Ungewöhnlichen; er ist zugleich etwas ungenügsam und will aus diesem Grunde noch einmal wieder[591] bei den Ästhetikern sein Glück versuchen, ehe er zum Ethiker seine Zuflucht nimmt. Er weiß seiner Ungenügsamkeit auch ein hübsches Kleid anzuziehen; denn, so sagt er, der Ethiker half mir wirklich aus meiner Verwirrung heraus, die Betrachtung meiner Thätigkeit, die ich ihm verdanke, befriedigt mich ganz, der hohe Ernst derselben erhebt mich. Wenn ich dagegen an die Liebe denke, so möchte ich wohl meine Freiheit genießen, recht den Neigungen meines Herzens folgen; die Liebe liebt diesen Ernst nicht, sie fordert den leichten Sinn und die freundliche Anmut des Ästhetischen.

Du siehst, ich werde gar nicht so leicht mit ihm fertig; ja fast scheint es, als hätte er meine frühern Auseinandersetzungen nicht so ganz verstanden. Er glaubt noch immer, das Ethische liege außerhalb des Ästhetischen und das glaubt er, obgleich er selber einräumen muß, daß das Leben erst durch die ethische Betrachtung schön ward. Wir werden sehen.

Obgleich Du mir niemals, weder mündlich noch schriftlich auf meinen ersten Brief geantwortet hast, so erinnerst Du Dich doch wohl noch seines Inhalts, sowie auch dessen, wie ich nachzuweisen suchte, daß die Ehe gerade durch das Ethische der ästhetische Ausdruck für die Liebe war. Und was ich damals sagte, werde ich auch leicht, wenn es sein muß, unserm Helden begreiflich machen können. Er wandte sich an die Ästhetiker, und verließ sie ebenso klug, denn er hatte bei ihnen nicht gelernt, was er thun solle, höchstens, was er nicht thun solle. Er hat einen Augenblick den schlechten Reden eines schlauen Verführers gelauscht, aber er hat seine Künste verachten gelernt, hat ihn durchschaut und gemerkt, daß er ein Lügner ist, ein Lügner, wenn er Liebe heuchelt und sich selber einbildet, daß in seiner Lust etwas Schönes sei. Er hat einsehen gelernt, daß es eine Beleidigung und daher unschön war, ein Mädchen nur mit geteiltem, aber nicht von ganzem Herzen zu lieben; seine Liebe zu einem Moment zu machen und hoch einer andern ganze Liebe hinzunehmen, und in gewissem Grade ein Rätsel und ein Geheimnis zu sein. Er hat einsehen gelernt, daß es unschön sein würde, wenn er hundert Arme hätte, um auf einmal viele umarmen zu können; er hat nur eine, die er umarmen möchte. Er hält es nicht für möglich, daß einer,[592] der liebt, sich ändern könne, es sei denn zum Bessern, und sollte es geschehen, so glaubt er, daß die Macht des Verhältnisses alles wieder gut machen werde. Er weiß es, daß, was die Liebe fordert, wie der Tempelschatz, eine heilige Abgabe ist, die in einer eignen Münze bezahlt wird, und daß man die Schätze einer ganzen Welt nicht als Ersatz für die unbedeutendste Forderung annehmen würde, wenn die Münze falsch wäre.

Du siehst, unser Held ist auf gutem Wege, er hat den Glauben an die philiströse Verständigkeit der Ästhetiker verloren und verschmäht die dunkeln Gefühle, die zu zart sein sollten, um als Pflicht ausgedrückt werden zu können. Er hat des Ethikers Ansicht, daß es jedes Menschen Pflicht sei, zu heiraten, mit Dank angenommen; er hat es richtig aufgefaßt, daß zwar der nicht sündigt, der sich nicht verheiratet, es sei denn, daß er selber daran schuld sei, denn dann versündigt er sich allerdings gegen das Allgemein-Menschliche, das auch ihm als eine Aufgabe, die realisiert werden soll, gegeben ist, sondern daß der, der sich verheiratet, das Allgemeine realisiert. Weiter kann der Ethiker ihn nicht bringen; denn das Ethische ist, wie gesagt, immer abstrakt, es kann ihm nur das Allgemeine sagen. Es kann ihm also keineswegs sagen, mit welchem Mädchen er sich verloben soll. Dazu wäre eine genaue Kenntnis des ganzen Ästhetischen in ihm erforderlich. Aber diese besitzt der Ethiker nicht, und wenn er sie auch besäße, so würde er sich wohl hüten, seine eignen Theorien dadurch zu desavouieren, daß er statt seiner die Wahl vornähme. Hat er aber selber gewählt, so wird das Ethische die Wahl sanktionieren und seine Liebe elevieren, und das wird ihm in gewissem Sinn auch bei der Wahl helfen, da es ihn vor dem Aberglauben an das Zufällige bewahren wird, denn eine nur ästhetische Wahl ist eigentlich eine unendliche Wahl. Und unbewußt hilft das Ethische jedem Menschen; aber da dasselbe unbewußt ist, so sieht es aus, als wäre die Assistenz des Ethischen eine Erniedrigung, die ihren Grund in der Jämmerlichkeit des Lebens hätte, während es doch eine Erhöhung ist, die ihren Grund in der Göttlichkeit des Lebens hat.

Du sagst: »Einen Menschen mit so ausgezeichneten Grundsätzen darf man schon allein gehen lassen, von ihm kann man alles erwarten,[593] was groß und edel ist.« Ich bin derselben Meinung und hoffe, daß seine Grundsätze so fest sind, daß sie von Deinem Spott nicht bewegt werden. Aber wir sind noch nicht im Hafen! Unser Held hat nämlich von einem Manne, vor dessen Urteil er die höchste Achtung hat, die Äußerung gehört, daß man sich durch eine Ehe für sein ganzes Leben an einen Menschen knüpfe; daher müsse man bei der Wahl vorsichtig sein; es müsse ein außergewöhnliches Mädchen sein, die einem gerade dadurch, daß sie so außergewöhnlich sei, eine sichere Zukunft für das ganze Leben verbürge. Solltest Du nun nicht noch eine kurze Zeit für unsern Helden hoffen? Ich wenigstens fürchte noch für ihn.

Laß uns der Sache auf den Grund gehen. Du nimmst ja an, daß in der stillen Einsamkeit des Waldes eine Nymphe wohnt, ein Wesen, eine Jungfrau. Nun wohl, diese Nymphe, diese Jungfrau, dieses Wesen verläßt den stillen Wald und zeigt sich den Augen der Welt, sei's hier in Kopenhagen, sei's in Nürnberg, geradeso wie Kaspar Hauser, der Ort ist ja gleichgültig, genug, sie zeigt sich. Glaub's mir, das wird ein Laufen und Jagen, ein Werben und Freien werden! Ich überlasse es Dir, dies näher zu schildern, Du kannst ja einen Roman schreiben, unter dem Titel: Die Nymphe, das Wesen, die Jungfrau im einsamen Walde, ad modum des in allen Leihbibliotheken berühmten Romans: Die Urne im einsamen Thal. Sie ist also gekommen und hat sich der Welt gezeigt, und unser Held ist der Glückliche geworden, dem sie ihre Liebe geschenkt hat. Sollen wir darin einig werden? Ich habe nichts dagegen einzuwenden, ich bin ja verheiratet. Du aber würdest Dich vielleicht verletzt fühlen, daß solch gewöhnlicher Mensch Dir vorgezogen worden war. Da Du Dich jedoch für meinen Klienten interessierst, und das ist ja das einzige, wodurch er in Deinen Augen ein Held werden kann, so gib nur Deine Zustimmung. Laß uns nun sehen, ob seine Liebe, ob seine Ehe schön ward. Die Pointe in seiner Liebe und in seiner Ehe lag ja darin, daß sie das einzige Mädchen der ganzen Welt war. Die Pointe lag also in ihrer Differenz: ein solches Glück gibt's auf Erden nicht mehr, und eben darin lag sein Glück. Möglicherweise wird er sich gar nicht mit ihr verheiraten; denn würde[594] eine solche Liebe nicht entweiht, wenn man ihr einen so allgemeinen und vulgären Ausdruck wie eine Ehe gab? War's nicht eine entsetzliche Forderung, daß zwei solche Liebende in die große Kompanie der Ehe eintreten sollten, also daß von ihnen in gewissem Sinn nichts mehr zu sagen wäre als von jedem Ehepaar, daß sie verheiratet seien? Das würdest Du vielleicht ganz in Ordnung finden und würdest gegen die Geschichte nur das einzuwenden haben, daß es doch sehr verkehrt sei, wenn solch armseliger Bursche wie mein Held mit solch einem Mädchen davongehen solle; wäre er dagegen ein so ausgezeichneter, ungewöhnlicher Mensch gewesen wie z.B. Du, oder ein ebenso ungewöhnlicher Mann, wie sie ein ungewöhnliches Mädchen war, dann wäre alles in Ordnung, und ihr Liebesverhältnis das vollkommenste, das sich denken ließe.

Unser Held ist in eine kritische Situation gekommen. Über das Mädchen ist nur eine Meinung, es ist ein herrliches, ungewöhnliches Mädchen. Ich selber, der Ehemann, sage mit Donna Klara: »Hier hat das Gerücht nicht zu viel gesagt, wahrlich ein Wunderkind, die schöne Preziosa.« Man fühlt sich so leicht versucht, das Allgemeine aus den Augen zu verlieren und in den Sphären des Abenteuerlichen zu schweben. Und doch, er hat ja selber das Schöne der Ehe eingesehen. Was thut die Ehe denn? Raubt sie ihm etwas? nimmt sie ihr ihre Schönheit? hebt sie eine einzige Differenz auf? Keineswegs. Aber sie zeigt ihm das alles als Zufälligkeiten, wenn er die Ehe vor sich hat, und erst wenn er der Differenz den Ausdruck des Allgemeinen gibt, ist er in ihrem sichern Besitz. Das Ethische sagt ihm, daß das Verhältnis das Absolute ist. Das Verhältnis ist nämlich das Allgemeine. Es raubt ihm die eitle Freude, das Ungewöhnliche zu sein, um ihm die wahre Freude zu schenken, das Gewöhnliche zu sein. Es bringt ihn in Harmonie mit dem ganzen Dasein, lehrt ihn, sich desselben zu freuen; denn als Ausnahme, als das Ungewöhnliche, ist er in Konflikt; und da gerade das, was das Ungewöhnliche begründet, sein Glück war, so muß er sich ja seiner Existenz als einer Plage für das Gewöhnliche bewußt werden, sofern sein Glück überhaupt kein eingebildetes war; und es wäre doch in Wahrheit ein Unglück, solchermaßen glücklich zu sein,[595] daß das Glück, wesentlich betrachtet, von dem aller andern verschieden wäre. Er gewinnt also die zufällige Schönheit und verliert die wahre Schönheit. Das wird er einsehen und wieder zum Satz des Ethikers zurückkehren, daß es jedes Menschen Pflicht sei, sich zu verheiraten, und er wird einsehen, daß diese nicht nur die Wahrheit, sondern auch die Schönheit auf ihrer Seite hat. Laß ihm denn jenes Wunderkind, um die Differenz wird er sich nicht kümmern. Er wird sich ihrer Schönheit, ihrer Anmut, des Reichtums ihres Geistes und der Wärme der Gefühle, die sie besitzt, recht herzlich freuen, er wird sich glücklich preisen; aber wesentlich, wird er sagen, bin ich von andern Ehemännern nicht verschieden; denn das Verhältnis ist das Absolute. Und nähme er ein weniger begabtes Mädchen, er würde sich ebensosehr seines Glückes freuen; denn er würde sagen: Ob sie auch tief unter andern steht, wesentlich macht sie mich gerade so glücklich, denn das Verhältnis ist das Absolute. Er wird die Bedeutung der Differenz nicht verkennen, denn wie er einsah, daß kein abstrakter Beruf existiere, sondern daß jeder Mensch den seinigen habe, so wird er auch einsehen, daß es keine abstrakte Ehe gibt. Die Ethik sagt ihm nur, daß er sich verheiraten soll, sie kann nicht sagen, mit wem. Die Ethik erklärt ihm das Allgemeine in der Differenz, und er erklärt die Differenz im Allgemeinen.

Die ethische Betrachtung der Ehe hat daher vor jeder ästhetischen Auffassung der Liebe mehrere Vorzüge. Sie erklärt das Allgemeine, nicht das Zufällige. Sie sagt nicht, wie ein paar ganz einzelne Menschen in ihrer Ungewöhnlichkeit glücklich werden können, sondern wie jedes Ehepaar es werden kann. Sie sieht das Verhältnis als das Absolute an und faßt die Differenzen nicht als Garantien, sondern als Aufgaben. Sie sieht das Verhältnis als das Absolute an und schaut daher die Liebe in ihrer wahren Schönheit, nämlich in ihrer Freiheit, begreift die historische Schönheit.

Unser Held lebt also von seiner Arbeit, seine Arbeit ist zugleich sein Beruf, er arbeitet daher mit Lust; da sie sein Beruf ist, setzt sie ihn in Verbindung mit andern Menschen, und, indem er sein Werk vollbringt, richtet er aus, was er nur in der Welt auszurichten wünschen konnte. Er ist verheiratet, zufrieden in seinem Hause,[596] und die Zeit geht ihm herrlich hin; er begreift's nicht, daß die Zeit dem Menschen eine Last sein oder die Feindin seines Glücks werden könne; im Gegenteil, ihm scheint die Zeit ein wahrer Segen zu sein. In dieser Beziehung räumt er ein, daß er seiner Frau außerordentlich viel schuldet. Es ist wahr, ich vergaß es zu erzählen, mit der Nymphe des Waldes war es ein Mißverständnis, er ward nicht der Glückliche, er mußte mit einem gewöhnlichen Mädchen zufrieden sein, wie er selber ein gewöhnlicher Mann war. Indessen, er ist sehr froh, ja er vertraute mir einmal an, er glaube, es sei recht gut, daß er jenes Wunderkind nicht bekommen habe; die Aufgabe würde für ihn vielleicht zu groß gewesen sein; wo, schon ehe man anfängt, alles so vollkommen ist, da kann man leicht etwas ruinieren. Nun aber ist er voller Mut und Vertrauen und Hoffnung, er ist ganz enthusiasmiert und begeistert sagt er: »Das Verhältnis ist doch das absolute;« er ist fest davon überzeugt, daß das Verhältnis die Macht haben wird, dieses gewöhnliche Mädchen zu allem, was groß und schön ist, zu erziehen; seine Frau ist in aller Demut derselben Meinung. Ja, mein junger Freund, das geht in der Welt wunderlich her; ich glaubte gar nicht, daß es solch ein Wunderkind, wie Du es erwähnt hast, in der Welt gebe, und nun schäme ich mich fast meines Unglaubens, denn dieses gewöhnliche Mädchen ist mit ihrem starken Glauben ein Wunderkind, und ihr Glaube köstlicher als Gold und Perlen. In einem Punkt bleibe ich jedoch meinem alten Unglauben treu, daß solch ein Wunderkind nicht in der stillen Einsamkeit des Waldes zu finden ist.

Mein Held – oder wolltest Du ihm das Recht dieses Namens verweigern? meinst Du nicht, daß ein Mut, der ein gewöhnliches Mädchen in ein Wunderkind verwandeln zu können glaubt, wahrer Heldenmut sei? – dankt seiner Frau besonders dafür, daß die Zeit eine so schöne Bedeutung für ihn gehabt hat, und insofern schreibt er es gewissermaßen wieder auf das Konto der Ehe, und darin sind er und ich, wir beiden Ehemänner, ganz einig. Wäre jene Nymphe des Waldes sein geworden, ohne daß er sie geheiratet hätte, so müßte er fürchten, daß ihre Liebe in einzelnen schönen Augenblicken aufflackern und dann Mattigkeit und Erschlaffung hinterlassen würde.[597] Sie hätten vielleicht gewünscht, einander nur dann zu sehen, wenn dieses Sehen recht bedeutungsvoll werden konnte; verfehlte das aber zuweilen seine Wirkung, so fürchtet er, möchte das ganze Verhältnis sich allmählich in ein Nichts aufgelöst haben. Die demütige Ehe dagegen, die es ihnen zur Pflicht machte, einander täglich zu sehen, sowohl wenn sie reich als wenn sie arm waren, hatte dem ganzen Verhältnis einen solchen Zauber schlichter Einfachheit verliehen, der ihm dasselbe in hohem Maße köstlich machte. Die prosaische Ehe hatte in ihrem einfachen Inkognito einen Dichter verborgen, der dem Leben nicht nur bei einzelnen Gelegenheiten eine besondre Weihe gab, sondern stets zur Hand war und selbst die armem Stunden durch seine süßen Melodien reich machte.

Ich teile diese Ansicht meines Helden von der Ehe ganz; und hier zeigt sie sich recht in ihrem Vorzug, nicht nur für das einsame Leben, sondern auch für jede nur erotische Verbindung. Letzteres hat mein neuer Freund ja diesen Augenblick entwickelt, ich will daher nur mit einigen wenigen Worten das Erstere hervorheben.

Man sei so klug wie man will, man sei fleißig, begeistert für eine Idee – doch kommen Augenblicke, wo einem die Zeit lang wird. Du spottest so oft über das andre Geschlecht, ich habe Dich schon häufiger ermahnt, das sein zu lassen; sieh ein junges Mädchen als ein noch so unvollkommnes Wesen an, ich möchte Dir doch sagen: Mein guter Philosoph, gehe zur Ameise und lerne von ihr, lerne vom Mädchen, die Zeit zu benutzen, denn darin ist sie eine geborne Virtuosin. Sie kennt vielleicht nicht jene strenge, anhaltende Arbeit, wie der Mann sie kennt, aber sie steht niemals müßig, ist immer beschäftigt, und die Zeit wird ihr nie lang. Ich kann da aus Erfahrung sprechen. Zuweilen passiert es mir, nun schon seltner – denn ich suche dem entgegenzuwirken, da ich es für eines Ehemanns Pflicht ansehe, daß er sucht, so einigermaßen gleichaltrig mit seiner Frau zu werden – zuweilen aber begegnet es mir auch jetzt noch, daß ich in meinem Zimmer sitze und innerlich wie gebrochen bin. Ich habe meine Arbeit besorgt, habe keine Lust, mich zerstreuen zu lassen, eine gewisse Melancholie meines Temperaments kommt in mir zur Herrschaft; ich werde viele, viele Jahre älter, als ich wirklich bin,[598] ich werde meinem häuslichen Leben fast fremd; wohl sehe ich, daß es schön ist, aber ich sehe es mit andern Augen als sonst an. Es ist mir als wäre ich selber ein alter Mann, meine Frau eine jüngre, glücklich verheiratete Schwester, in deren Hause ich nun wäre. In solchen Zeiten fängt die Zeit beinahe an mir lang zu werden. Wäre meine Frau nun ein Mann, dann würde es ihr vielleicht ebenso wie mir gehen, und wir gerieten beide in Stagnation; aber sie ist ein Weib und weiß mit der Zeit umzugehen. Ist dieser geheimnisvolle Rapport, in welchem sie zur Zeit steht, ein Zeichen dafür, daß sie vollkommner, oder daß sie unvollkommner, daß sie ein irdischeres Wesen als der Mann ist, oder daß sie die Ewigkeit mehr in sich trägt? – Antworte mir, Du bist ja ein philosophischer Kopf. Wenn ich denn nun so verlassen und verloren dasitze und sehe mein Weib an, wie sie so leicht und jugendlich durch das Zimmer geht und immer beschäftigt ist, so folgt mein Auge unwillkürlich ihren Bewegungen, ich nehme an allem teil, was sie vornimmt, und das Ende der Geschichte ist kein andres, als daß ich mich in die Zeit hineinfinde, daß die Zeit wieder Bedeutung für mich gewinnt, daß der Augenblick wieder enteilt. Was sie vornimmt, das kann ich wirklich mit dem besten Willen nicht sagen, und wenn's mir das Leben kostete, das bleibt mir ein Rätsel. Was es heißt, bis tief in die Nacht hinein arbeiten, so müde sein, daß ich fast nicht vom Stuhl aufstehen kann, was es heißt, ernst und scharf nachdenken und wieder so ganz arm und leer an Gedanken sein, daß mir auch nicht das Geringste in den Kopf hinein will, das weiß ich; auch weiß ich, was faulenzen heißt – aber so beschäftigt sein, wie meine Frau es ist, das ist mir ein Rätsel. Sie ist nie müde und doch nie unthätig, es ist, als wäre ihre Beschäftigung ein Spiel, ein Tanz, wie wenn ein Spiel ihre Beschäftigung wäre. Womit füllt sie die Zeit aus? Ich weiß es nicht, aber sie thut alles mit einer Anmut und einer Grazie, mit einer unbeschreiblichen Elastizität, frischweg ohne Zeremonien, wie ein Vogel seine Arie singt, und doch sind ihre Künste in meinen Augen wahre Zauberkünste. Sie ist daher auch meine absolute Zuflucht. Wenn ich in meinem Studierzimmer sitze, wenn ich müde werde, wenn die Zeit mir lang[599] wird, dann schleiche ich ins Wohnzimmer hinein, setze mich still in eine Ecke, spreche kein Wort, aus Furcht, sie in ihrer Arbeit zu stören, denn obgleich dieselbe wie ein Spiel aussieht, macht sie dieselbe doch mit einer Würde und mit einem Anstand, vor dem man Respekt haben muß.

Ja, mein guter Freund, es ist unglaublich, welch natürliche Virtuosin ein Weib ist: sie erklärt in der interessantesten und schönsten Weise das Problem, das manchem Philosophen schon den Kopf gekostet hat – die Zeit. Und wie sie dieses Problem erklärt, so noch viele andre, daß man sie nur immer verwundert ansehen muß. Obgleich ich noch kein alter Ehemann bin, glaube ich doch, daß ich schon ein ganzes Buch darüber schreiben könnte. Das will ich indessen nicht, sondern will Dir nur eine Geschichte erzählen, die mir immer sehr bezeichnend gewesen ist. Es lebte irgendwo in Holland ein Gelehrter. Er war Orientalist und verheiratet. Eines Mittags kommt er nicht zur rechten Zeit zum Essen, obgleich er gerufen worden war. Seine Frau wartet sehnsüchtig mit dem Essen; sie weiß, daß er zu Hause ist, und je länger es währt, um so weniger kann sie sich sein Ausbleiben erklären. Endlich entschließt sie sich, selber hinaufzugehen und ihn zu bitten, ob er nicht kommen wolle. Da sitzt er allein in seinem Studierzimmer, kein Mensch ist bei ihm. Er ist ganz in seine orientalischen Studien vertieft. Ich kann's mir lebhaft vorstellen, wie sie sich über ihn beugt, ihren Arm um seinen Hals legt, in sein Buch hineinsieht, dann ihn ansieht und sagt: »Mein Freund, warum kommst du nicht zum Essen?« Der Gelehrte hat vielleicht nicht einmal darauf geachtet, was gesagt ward, aber als er seine Frau erblickt, antwortet er vermutlich: »Ja, mein Kind, vom Essen kann nicht die Rede sein, hier ist eine Vokalisation, die ich noch niemals gesehen habe, ich habe den locus oft genug citiert gesehen, aber niemals so, und doch ist meine Ausgabe eine vortreffliche holländische Ausgabe, siehst du, diesen Punkt hier, es ist, um toll zu werden.« Ich kann's mir denken, wie seine Frau ihn nun halb lächelnd, halb vorwurfsvoll ansieht, daß solch kleiner Punkt die ganze häusliche Ordnung stören sollte, und die Sage erzählt, daß sie geantwortet habe: »Ist das etwas so Wichtiges, mein Freund? Es ist wahrhaftig[600] nicht mehr wert, als daß man es wegbläst.« Wie gesagt, so gethan; sie bläst und siehe – die Vokalisation verschwindet; denn der merkwürdige Punkt war ein Stäubchen Schnupftabak. Froh eilte der Gelehrte zum Essen, froh, daß die Vokalisation verschwunden war, noch froher über sein Weib.

Und die Moral dieser Geschichte? Wenn jener Gelehrte nicht verheiratet gewesen wäre, wäre er vielleicht verrückt geworden, und vielleicht hätte er mehrere Orientalisten nach sich gezogen; denn ich zweifle nicht daran, er würde ein fürchterliches Aufsehen in der Litteratur gemacht haben. Sieh, deshalb sage ich, daß man mit dem andern Geschlecht in gutem Einvernehmen leben müsse; denn unter uns gesagt: so ein junges Mädchen erklärt alles und bläst ein ganzes Konsistorium weg, und steht man mit ihr in gutem Einvernehmen, so ist man froh über den gefunden Rat, den sie gibt, im andern Fall aber ist man nicht sicher, daß sie nicht Spott mit einem treibe. Aber diese Geschichte lehrt zugleich, in welcher Weise man mit ihr in gutem Einvernehmen leben solle. Wäre jener Gelehrte nicht verheiratet, wäre er ein Ästhetiker gewesen, so würde er vielleicht der Glückliche geworden sein, dem jenes Wunderkind hätte angehören wollen. Er hätte sich nicht verheiratet, dazu wären die beiderseitigen Gefühle zu vornehm gewesen. Er hätte ihr einen Palast gebaut und nichts gespart, um ihr Leben reich an Genüssen zu machen, er hätte sie in ihrem Schloß besucht, denn so wünschte sie es; er hätte mit erotischer Koketterie den Weg zu ihr sogar zu Fuß zurückgelegt, während sein Kammerdiener ihm mit reichen und kostbaren Gaben für sie im Wagen folgte. In seinem orientalischen Studium wäre er auch auf jene merkwürdige Vokalisation gestoßen. Er hätte sie angestarrt, ohne sie erklären zu können. Indessen war der Augenblick gekommen, wo er die Geliebte besuchen sollte. Er hatte seinen Kummer verscheucht, denn er darf die Geliebte doch nur mit Gedanken an ihre reizende Schönheit und an seine eigne Liebe besuchen. Er war so liebenswürdig wie möglich gewesen, hatte ihr über alle Maßen gefallen, denn aus seiner Stimme hallten viele Leidenschaften wie von ferne wider, weil er seine muntre Stimmung erst aus dem Mißmut herausarbeiten mußte. Aber als er sie ums Morgenrot verließ und ihr[601] den letzten Gruß und Kuß zugeworfen hatte, und er allein in seinem Wagen saß, da war seine Stirn finster geworden. Er kam nach Hause. Die Fensterläden im Arbeitszimmer wurden geschlossen, die Lichter angezündet, er ließ sich nicht ausziehen; aber er setzte sich hin und starrte den Punkt an, den er nicht erklären konnte. Er hatte wohl ein Mädchen, das er liebte, ja vielleicht anbetete – aber kein Weib, die zu ihm kam, um ihn zum Mittagessen zu rufen, keine Frau, die den Punkt wegblasen konnte.

Überhaupt hat das Weib ein angebornes Talent und eine ursprüngliche Gabe, ja eine absolute Virtuosität, die Endlichkeit zu erklären. Als der Mann erschaffen war, stand er als der Herr und Gebieter der ganzen Schöpfung da; die Pracht und der Glanz der Natur, der ganze Reichtum der Endlichkeit wartete nur seines Winkes, aber er wußte nicht, was er mit dem allen machen solle. Er sah es an, aber es war ihm, als verschwände alles vor dem Blick des Geistes, es war ihm, als ob er – wenn er sich nur bewegte – mit einem einzigen Schritt an allem vorübereilen werde. So stand er da, eine imposante Gestalt, gedankenvoll in sich selber und doch – komisch, denn man muß ja über diesen reichen Mann, der seinen Reichtum nicht anzuwenden wußte, lächeln; aber auch tragisch, denn er konnte ihn nicht anwenden. Da ward das Weib geschaffen. Sie war nicht in Verlegenheit, sie wußte gleich, wie man die Sache anfangen müsse, ohne Aufhebens, ohne viel Vorbereitung machte sie sich sofort daran. Das war der erste Trost, der dem Manne gegeben ward. Sie näherte sich ihm, froh, demütig und wehmütig wie ein Kind. Sie wollte ihm nur ein Trost sein, ihm geben, was ihm fehlte, sie begriff ja nicht, daß ihm etwas fehlen konnte, aber sie meinte auch nicht, daß sie ihm so viel geben, daß sie ihm die Zeit verkürzen könne. Und nun siehe, ihr demütiger Trost ward des Lebens reichste Freude, ihr unschuldiger Zeitvertreib des Lebens größte Schönheit, ihr kindliches Spielen des Lebens tiefste Bedeutung. Ein Weib faßt die Endlichkeit, sie versteht sie von Grund aus, daher ist sie so reizend, und das ist, wesentlich angesehen, jedes Weib, daher ist sie so anmutig, und das ist kein Mann; daher ist sie so glücklich, so glücklich wie kein Mann es sein kann oder soll, daher ist sie in Harmonie[602] mit dem Dasein, wie kein Mann es sein kann oder soll. Man kann daher sagen, ihr Leben ist glücklicher als das des Mannes, denn die Endlichkeit kann einen Menschen wohl glücklich machen, die Unendlichkeit als solche niemals. Sie ist vollkommner als der Mann, denn der, der etwas erklärt, ist doch wohl vollkommner als der, der nach einer Erklärung sucht. Das Weib erklärt die Endlichkeit, der Mann jagt der Unendlichkeit nach. So soll es sein, und jeder hat seinen Schmerz; denn das Weib gebiert mit Schmerzen Kinder, aber der Mann empfängt die Ideen mit Schmerzen, und das Weib soll nicht die Angst des Zweifels und die Qual der Verzweiflung kennen, sie soll nicht ohne Ideen sein, aber sie hat sie aus zweiter Hand. Aber weil das Weib die Endlichkeit so erklärt, darum ist sie des Mannes tiefstes Leben, aber ein Leben, das verborgen ist, wie es das Leben der Wurzel immer ist. Siehe, deshalb hasse ich die abscheuliche Rede von der Emanzipation des Weibes von ganzer Seele. Gott verhüte, daß sie je zur Herrschaft komme. Ich kann Dir nicht sagen, mit welchem Schmerz der Gedanke meine Seele erfüllt, aber auch nicht, welch leidenschaftliche Erbitterung, welchen Haß ich gegen jeden im Herzen trage, der so etwas zu äußern wagt. Es ist mein Trost, daß diejenigen, welche solche Weisheit vortragen, nicht klug wie Schlangen sind, sondern im allgemeinen bornierte Menschen, deren Geschwätz unschädlich ist. Ja, wenn die Schlange es ihr einbilden, sie mit der scheinbar lustigen Frucht versuchen könnte, und wenn dieser Aussatz sich verbreitete, wenn er auch zu ihr käme, die ich liebe, zu meinem Weibe, die meine Freude, meine Zuflucht, meines Lebens verborgne Wurzel ist, ja dann wäre mein Mut gebrochen, dann wäre die Leidenschaft der Freiheit in meiner Seele ermattet; dann wüßte ich wohl, was ich thun würde, ich würde mich auf den Markt hinsetzen und weinen, weinen wie jener Künstler, dessen Werk zerstört worden war, und der selber nicht mehr wußte, was es vorstellte. Aber das geschieht nicht, das kann und darf nicht geschehen, wenn auch böse Geister es versuchen wollten oder dumme Menschen, die keinen Begriff davon haben, was ein Mann ist, und keine Ahnung von der Vollkommenheit des Weibes in ihrer Unvollkommenheit! Sollte es wirklich ein einziges Weib geben, die so einfältig,[603] eitel und jämmerlich wäre, daß sie glaubte, sie könne unter der Maske des Mannes vollkommner werden als der Mann? muß sie es denn nicht einsehen, daß ihr Verlust unersetzlich wäre? Kein niedriger Verführer könnte für das Weib selber eine gefährlichere Lehre erdenken als diese, denn hat er ihr erst das eingebildet, dann ist sie ganz in seiner Macht, seiner Willkür preisgegeben; sie kann dem Manne dann nichts anders als nur ein Opfer seiner Launen sein, während sie ihm als Weib alles sein kann. Aber die, die selber keine Männer sind und zu schwach, um es zu lernen, was das heißt, die wollen das Weib verderben. Das ist der traurige Bund, den sie schließen: Sie selber bleiben, was sie sind, Halbmänner, und das Weib avanciert zur selben Erbärmlichkeit. Ich habe einmal einen nicht unwitzigen Spott über die Emanzipation des Weibes gelesen. Der Verfasser sprach von der Kleidung und meinte, daß dieselbe für Männer und Frauen gleich sein müsse. Denk dir, wie abscheulich! Es kam mir damals vor, als habe der Verfasser seine Aufgabe nicht tief genug gefaßt, daß die Gegensätze, die er aufstellte, die Idee nicht treffend genug berührten. Ich wage es, einen Augenblick das Unschöne zu denken, weil ich weiß, daß die Schönheit sich dann in ihrer ganzen Wahrheit zeigen wird. Was ist schöner als das reiche Haar des Weibes? Und doch sagt die Schrift, es sei ein Zeichen ihrer Unvollkommenheit, und führt verschiedne Gründe dafür an. Und ist es nicht auch so? Betrachte sie, wenn sie ihr Haupt zur Erde beugt, wenn die üppigen Flechten fast die Erde berühren, und es aussieht, als wären es Blumenranken, mit denen sie an der Erde festgewachsen wäre, ist sie so nicht ein unvollkommneres Wesen als der Mann, der gen Himmel schaut und die Erde nur berührt? Und doch ist dieses Haar ihre Schönheit, ja, was mehr ist, ihre Kraft; denn dadurch, so sagen die Dichter, fesselt sie den Mann und bindet ihn an die Erde. O, ich möchte wohl solchem Menschen, der das Evangelium der Frauenemanzipation predigt, zurufen: »Sieh sie dir in all ihrer Unvollkommenheit an, ist sie nicht ein geringres Wesen als der Mann? Aber hast Du Mut, so schneide ihr die reichen Locken ab, zerreiße diese schweren Fesseln – und laß sie wie eine Wahnsinnige, wie eine Verbrecherin, zum Schrecken der Menschheit herumlaufen!«[604]

Laß den Mann seinen Anspruch, Herr und Gebieter der Erde zu sein, aufgeben, laß ihn vor dem Weibe zurücktreten und ihr Platz machen, sie ist die Herrscherin derselben, sie versteht die Natur und die Natur versteht sie, ihrem Wink gehorcht sie. Deshalb ist sie dem Manne alles, weil sie ihm die Endlichkeit schenkt, ohne sie ist er ein unsteter Geist, ein Unglücklicher, der keine Ruhe finden kann, keinen Zufluchtsort hat. Wie oft hat es mich gefreut, das Weib in dieser seiner hohen Bedeutung zu sehen; sie ist mir eine Bezeichnung der Gemeinde überhaupt. Der Geist ist in großer Verlegenheit, wenn er keine Gemeinde hat, in der er wohnen kann, und wenn er in der Gemeinde wohnt, so ist er der Geist der Gemeinde. Deshalb ist's auch so, wie ich schon früher einmal bemerkte, daß in der Schrift geschrieben steht, nicht, daß das Mädchen Vater und Mutter verlassen und ihrem Manne anhangen solle; man sollte es ja eigentlich glauben, daß es so heißen müsse, da das Mädchen die Schwächere ist, die bei dem Staune Schutz sucht, aber nein, es heißt: Der Mann soll Vater und Mutter verlassen und an seinem Weibe hangen; denn sofern sie ihm die Endlichkeit gibt, ist sie stärker als er. Deshalb gibt es nichts, was das Bild der Gemeinde so schön wiedergeben könnte, wie ein Weib. Wenn man die Sache so ansieht, wird man, des bin ich in guter Zuversicht, unsre Gottesdienste bedeutend verschönern können. Wie geschmacklos ist es nicht z.B. in unsern Kirchen, daß die Gemeinde, sofern sie sich nicht selber repräsentiert, von einem Küster repräsentiert wird? Sie müßte immer von einem Weibe repräsentiert werden. Einen recht wohlthuenden Eindruck der Gemeinde habe ich in unsern Gottesdiensten immer vermißt, und doch gab es ein Jahr meines Lebens, in welchem ich jeden Sonntag meinen idealen Vorstellungen ziemlich nahe kam. Es war in einer unsrer Kirchen hier in der Hauptstadt. Die Kirche selber sprach mich sehr an, der Geistliche, den ich jeden Sonntag hörte, war eine ehrwürdige Persönlichkeit, eine herrliche Erscheinung, der aus der Erfahrung eines bewegten Lebens Altes und Neues vorzubringen wußte. Er befriedigte als Geistlicher die idealen Ansprüche meiner ganzen Seele, er befriedigte sie durch seine Erscheinung sowohl wie durch seine Predigten. Ich war jeden Sonntag von Herzen froh, wenn ich ihn hören durfte;[605] was aber meine Freude noch vermehrte und den Eindruck des Gottesdienstes in dieser Kirche für mich vollkommen machte, war eine andre Gestalt, eine ältere Frau, die sich gleichfalls jeden Sonntag einfand. Sie pflegte immer etwas vor dem Anfang des Gottesdienstes zu kommen, ich ebenfalls. Ihre Persönlichkeit war mir ein Bild der Gemeinde, und über ihr vergaß ich ganz den störenden Eindruck des Küsters in der Kirchthür. Sie war, wie gesagt, eine ältre Frau, mochte vielleicht gegen sechzig Jahr alt sein, war aber noch immer schön, ihre Züge waren edel, ihre Mienen hatten eine gewisse demütige Würde, auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck tiefer, reiner, weiblicher Sittlichkeit. Es sah aus, als habe sie viel erlebt, nicht gerade stürmische Begebenheiten, sondern sie glich eher einer Mutter, die des Lebens Lasten getragen und sich doch eine Freude an der Welt bewahrt und gewonnen hatte. Wenn ich sie dann ganz unten im Gang kommen sah, nachdem der Totengräber sie an der Kirchthür empfangen hatte und ihr als ein Diener ehrerbietig bis zu ihrem Stuhle folgte, dann wußte ich, daß sie auch an der Bank, in welcher ich zu sitzen pflegte, vorüberging. Wenn sie an mir vorüberschritt, erhob ich mich immer und verbeugte mich vor ihr, oder wie es im alten Testament heißt: neigte mich vor ihr. Darin lag für mich sehr viel, es war mir, als müsse ich sie bitten, mich in ihre Fürbitten einzuschließen. Sie trat in ihren Stuhl, grüßte den Totengräber freundlich, blieb einen Augenblick aufrecht stehen, beugte ihr Haupt und hielt ihr Taschentuch einen Augenblick vor die Augen zum Gebet – wahrhaftig es muß schon ein tüchtiger Prediger sein, der einen so starken und so wohlthuenden Eindruck wie jene ehrwürdige Frau ausüben will. Zuweilen fiel es mir auf die Seele, ob jene Frau wohl auch Dich in ihr Gebet einschlösse; denn es ist dem Weibe wesentlich, für andre zu beten. Denk Dir dieselbe, in welchem Beruf, in welchem Alter Du willst, denk sie Dir betend, und Du wirst in der Regel finden, daß sie für andre betet, für ihre Eltern, für den Geliebten, für ihren Mann und ihre Kinder, immer für andre. Es ist dem Manne wesentlich, für sich selber zu beten. Er hat seine bestimmte Aufgabe, seinen bestimmten Platz im Leben. Seine Resignation ist daher eine andre, selbst im Gebet ist er ein Streiter. Er[606] resigniert auf die Erfüllung seines Wunsches, und was ist's, das er sich erbittet? Ist's nicht die Bitte, daß er auf die Erfüllung des Wunsches verzichten könne. Selbst wenn er etwas wünscht, begleitet ihn stets dieser Gedanke. Des Weibes Gebet ist viel substantieller, ihre Resignation ist eine andre. Sie bittet um Erfüllung ihres Wunsches, sie resigniert auf sich selber, daß sie etwas davon- oder dazuthun könnte, aber deshalb kann sie auch viel besser für andre beten als der Mann; betet dieser für einen andern, so wird er wesentlich darum bitten, daß derselbe die Kraft finden möge, den Schmerz, der ihm dadurch verursacht wurde, daß sein Wunsch nicht erfüllt ward, tragen und überwinden zu können; aber eine solche Fürbitte ist als Fürbitte angesehn unvollkommen, während sie als eine Bitte für sich selber wahr und richtig ist. Das Weib und der Mann bilden da gleichsam zwei Glieder. Zuerst kommt das Weib mit ihrer Fürbitte, sie bewegt die Gottheit gewissermaßen mit ihren Thränen; darauf kommt der Mann mit seinem Gebet, er hält das erste Glied auf, wenn es ängstlich fliehen will, er hat eine andre Taktik, eine Taktik, die immer zum Siege führt. Das hat wiederum seinen Grund darin, daß der Mann der Unendlichkeit nachjagt. Verliert das Weib die Schlacht, so muß sie vom Manne beten lernen, und doch gehört die Fürbitte ihr so wesentlich an, daß selbst in diesem Fall ihre Fürbitte für den Mann ein andres Gebet als sein eignes sein wird. In gewissem Sinn ist das Weib daher viel gläubiger als der Mann; denn das Weib glaubt, daß Gott alles möglich ist, der Mann glaubt, daß Gott etwas unmöglich ist. Das Weib wird in ihrem demütigen Begehren immer inniger, der Mann gibt mehr und mehr auf, bis er den unverrückbaren Punkt findet, von dem er nicht vertrieben werden kann. Das aber kommt daher, weil es dem Manne wesentlich ist, gezweifelt zu haben, auch seine Gewißheit trägt diesen Stempel.

Meine Freude über die schönen Gottesdienste in jener Kirche war indessen nur kurz. Nach einem Jahre ward jener Geistliche versetzt, und die ehrwürdige Matrone, meine fromme Mutter könnte ich sie fast nennen, sah ich nicht mehr. Indessen dachte ich noch oft an sie. Als ich mich später verheiratete, schwebte sie mir noch häufig[607] vor den Augen meiner Seele. Wenn die Kirche auf solche Momente aufmerksamer wäre, würden unsre Gottesdienste gewiß an Schönheit und Feierlichkeit gewinnen. Denk Dir, wenn solch ehrwürdiges Weib bei einer Taufe neben dem Pastor stände und statt des Küsters Amen sagte, oder würde es nicht gar schön und feierlich sein, wenn solch ein Weib fürbittend vor dem Altar kniete?


* * *


Doch, ich sitze hier und predige und vergesse ganz, wovon ich eigentlich sprechen sollte, vergesse ganz, daß ich mit Dir zu reden habe. Das aber kommt daher, weil ich Dich über meinem neuen Freunde ganz vergessen habe. Sieh, mit ihm rede ich gern von solchen Dingen; teils ist er nämlich kein Spötter, teils ein Ehemann, und nur wer ein Auge für die Schönheit der Ehe hat, wird auch die Wahrheit meiner Äußerungen erkennen können.

Ich kehre nun zu unserm Helden zurück. Diesen Titel verdient er gewiß, jedoch will ich denselben für die Zukunft nicht mehr gebrauchen, sondern gebe ihm lieber einen andern Namen, der mir auch lieber ist, da ich ihn aus aufrichtigem Herzen meinen Freund nenne, wie ich mich auch mit Freuden seinen Freund nenne. Du siehst also, daß das Leben ihn mit »dem Luxusartikel eines Freundes« versehen hat. Du glaubtest vielleicht, ich würde an der Freundschaft und ihrer ethischen Gültigkeit schweigend vorübergehen, oder richtiger, es wäre mir unmöglich, von der Freundschaft zu reden, da sie absolut keine ethische Bedeutung habe, sondern ganz und gar unter ästhetische Bestimmungen falle. Oder vielleicht wundert es dich, daß ich, sofern ich überhaupt von diesem Thema handeln wollte, erst nun von demselben handle; denn die Freundschaft ist ja der erste Traum der Jugend, und gerade in der frühsten Jugend sucht die weiche und leicht begeisterte Seele dieselbe. Wäre es denn nicht richtiger gewesen, wenn ich von der Freundschaft gesprochen hätte, noch ehe ich meinen Freund in den Stand der heiligen Ehe treten ließ? Ich könnte antworten, es habe sich hinsichtlich meines Freundes so wunderlich gemacht, daß er sich eigentlich vor seiner Verheiratung zu keinem Menschen indem Maße hingezogen gefühlt habe, daß er ihr Verhältnis[608] als Freundschaft habe bezeichnen können; ich könnte hinzufügen, das sei mir recht lieb, weil ich das Kapitel von der Freundschaft zuletzt behandeln möchte; ich nehme nämlich an, daß das Ethische dieses Verhältnisses nicht in demselben Maße Gültigkeit hat wie in der Ehe, und sehe gerade darin die Unvollkommenheit desselben. Diese Antwort könnte ungenügend erscheinen, sofern es sich denken ließe, daß es bei meinem Freunde ein abnormer Fall gewesen wäre; ich möchte daher bei diesem Thema etwas länger verweilen.

Du bist ein scharfer Beobachter, und wirst mir also in meiner Observation recht geben, daß ein bemerkenswerter Individualitätsunterschied dadurch bezeichnet wird, ob die Periode für die Freundschaft eines Menschen in die früheste Jugend desselben oder erst in ein späteres Alter fällt. Den flüchtigeren Naturen wird's nicht schwer, sich auf dem Acker ihrer eignen Herzen zurechtzufinden, ihr Selbst ist ihnen von Anfang an eine kourante Münze, und nun tritt der Umsatz ein, den man Freundschaft nennt. Die tieferen Naturen finden sich selber nicht so leicht, und solange sie ihr eignes Selbst noch nicht gefunden haben, können sie auch nicht wünschen, daß ihnen jemand eine Freundschaft anbietet, für welche sie keinen Ersatz geben können. Solche Naturen sind teils in sich selber vertieft, teils Beobachter, aber ein Beobachter ist kein Freund. Insofern ließe es sich erklären, wenn es meinem Freunde also ergangen wäre. Es war nichts Abnormes, auch kein Zeichen seiner Unvollkommenheit. Doch, er hat sich ja verheiratet. Nun fragt es sich, ob es nichts Abnormes war, daß die Freundschaft sich erst hinterher zeigte; denn im vorhergehenden wurden wir ja nur darüber eins, daß es ganz in Ordnung war, wenn die Freundschaft erst in einem spätern Alter geschlossen ward, aber wir sprachen nicht von ihrem Verhältnis zur Ehe. Laß uns hier wieder Deine und meine Beobachtung benutzen. Wir müssen auch hier das Verhältnis zu dem andern Geschlecht in Erwägung ziehen. Es begegnet denen, die in einem sehr frühen Alter ein Freundschaftsverhältnis suchen, nicht selten, daß, wenn die Liebe sich geltend zu machen anfängt, die Freundschaft ganz erblaßt. Sie meinen dann etwa, die Freundschaft sei eine unvollkommnere Form, brechen die frühern Verhältnisse ab und sammeln alle Kräfte ihrer[609] Seele ganz und ausschließlich für die Ehe. Andern geht es umgekehrt. Die zu früh die Süßigkeit der Liebe schmeckten, im Rausch der Jugend ihre Freuden genossen, die kamen vielleicht zu einer falschen Anschauung des andern Geschlechts, ja wurden am Ende gar gegen dasselbe ungerecht. Durch ihren Leichtsinn erkauften sie etwa teure Erfahrungen, trauten ihren eignen Gefühlen, die sich hernach als sehr wandelbar erwiesen, oder verließen sich auf die Gefühle andrer, die wie flüchtige Träume verschwanden. Sie ließen dann die Liebe fahren, sie war ihnen zugleich zu viel und zu wenig gewesen, denn sie waren mit dem Dialektischen der Liebe in Berührung gekommen, ohne es lösen zu können. Nun wählten sie die Freundschaft. Beide Formationen müssen als abnorm angesehen werden. Mein Freund ist in keinem dieser Fälle. Er hatte keine jugendlichen Freundschaftsversuche gemacht, ehe er die Liebe kennen lernte, aber noch viel weniger hatte er sich selber dadurch geschadet, daß er zu früh die unreife Frucht der Liebe genoß. In seiner Liebe fand er die tiefste und vollste Befriedigung, aber gerade weil er aus diesem Grunde selber absolut beruhigt war, zeigte sich ihm nun die Möglichkeit eines andern Verhältnisses, das in andrer Weise eine ebenso tiefe wie schöne Bedeutung für ihn gewinnen konnte; denn wer da hat, dem wird gegeben, ein vollgerüttelt und überflüssig Maß wird ihm gegeben. Er pflegt selber daran zu erinnern, daß es Bäume gibt, bei denen die Blüte nach der Frucht und zugleich mit ihr kommt. Mit einem solchen Baume vergleicht er sein Leben.

Aber gerade weil er in seiner Ehe und durch dieselbe es erfuhr, wie schön es sei, einen Freund oder Freunde zu haben, so ist es ihm auch keinen Augenblick zweifelhaft gewesen, wie man die Freundschaft betrachten müsse, und daß sie ihre Bedeutung verliere, wenn man sie nicht ethisch ansehe. Die vielen Erfahrungen seines Lebens hatten ihm den Glauben an die Ästhetiker so ziemlich genommen, aber die Ehe hatte den letzten Rest desselben in seiner Seele zerstört. Er hatte kein Bedürfnis mehr gefühlt, sich von einer ästhetischen Fata morgana täuschen zu lassen, sondern war gleich in der ethischen Betrachtung zur Ruhe gekommen.

Wäre mein Freund nicht so gestimmt gewesen, hätte es mir eine[610] Freude sein können, ihn zur Strafe an Dich zu weisen; denn Deine Reden über diese Materie sind in dem Maße verworren, daß er vermutlich ganz verrückt geworden wäre, wenn er Dich eine Weile angehört hätte. Es geht Dir mit der Freundschaft wie mit allem. Deiner Seele fehlt so sehr alle ethische Zentralisation, daß man die entgegengesetzten Erklärungen derselben Sache von Dir hören kann, und Deine Äußerungen beweisen ganz und voll die Richtigkeit der Behauptung, daß Sentimentalität und Herzlosigkeit identische Begriffe sind. Deine Ansicht von der Freundschaft läßt sich am besten mit einem Hexenbrief vergleichen; wer ihn adoptieren will, muß wahnsinnig werden, wie man auch von dem, der ihn vorträgt, dasselbe bis zu einem gewissen Grade annehmen muß. Hört man z.B. einmal einen Vortrag von Dir, der davon handelt, wie göttlich es sei, junge Menschen zu lieben, oder wie schön es sei, wenn gleichgestimmte Seelen einander finden, so wird man fast fürchten müssen, Deine Sentimentalität werde Dir Dein junges Leben kosten. Zu andern Zeiten hört man Dich so sprechen, daß man fast glauben sollte, Du wärst ein alter Praktiker, der es aus eigner Erfahrung gelernt hätte, was der Dichter sagt:


»Wie ekel, schal und unersprießlich

scheint mir das ganze Treiben dieser Welt.«


»Ein Freund«, sagst du dann, »ist etwas sehr Rätselhaftes; er wird, gerade wie der Nebel, nur in der Entfernung gesehen; denn erst wenn man unglücklich geworden ist, merkt man, daß man einen Freund gehabt hat.« Man sieht leicht ein, daß einem solchen Urteil über die Freundschaft eine ganz andre Forderung zu Grunde liegt als die war, die Du zuvor machtest. Vorher sprachst Du von der intellektuellen Freundschaft, von dem Schönen in her platonischen Erotik, in einer gemeinsamen Schwärmerei für Ideen; nun sprichst Du von einer praktischen Freundschaft im Handel und Wandel, von einer gegenseitigen Hilfe in den Mühseligkeiten des irdischen Lebens u.s.w. In beiden Forderungen liegt etwas Wahres; aber kann man für dieselben keinen Einheitspunkt finden, dann ist's freilich am besten, daß man mit Dir zu dem Resultat kommt, daß Freundschaft[611] ein Nonsens ist, ein Resultat, daß Du teils aus jeder einzelnen Deiner Behauptungen ziehst, teils aus dem innern Widerspruch der beiden untereinander.

Die absolute Bedingung der Freundschaft ist eine Einheit in der Lebensanschauung. Hat man diese, dann wird man sich nicht versucht fühlen, seine Freundschaft auf dunkle Gefühle oder unklare Sympathien zu gründen; und dann wird man's auch nicht erleben, was ich fast lächerlich nennen möchte, daß man an einem Tag einen Freund hat, am andern nicht. Man wird die Bedeutungen einer unklaren Sympathie nicht verkennen, denn man ist ja nicht in strengerm Sinn der Freund eines jeden, dessen Lebensanschauung man teilt; noch viel weniger bleibt man bei dem rätselhaft Sympathischen allein stehen. Eine wahre Freundschaft fordert immer ein klares Bewußtsein und schützt deshalb vor allem Schwärmerischen.

Es muß die Lebensanschauung, in der man eins wird, eine positive Anschauung sein. So haben auch wir beide, mein Freund und ich, eine gemeinsame Lebensanschauung. Wenn wir einander ansehn, geht es uns nicht wie jenen Augurn, daß wir lachen müssen, nein vielmehr, wir werden gar ernst. Es war ganz in der Ordnung, daß die Augurn lachten, denn ihre gemeinsame Lebensanschauung war eine negative. Das verstehst Du sehr gut, denn es ist ja einer Deiner schwärmerischen Wünsche, »eine gleichgestimmte Seele zu finden, mit der Du über die ganze Welt lachen kannst, und es ist das Schreckliche, daß fast Beängstigende des Lebens, daß so gut wie keiner es merkt, wie jämmerlich es ist, und von diesen wenigen gibt es nur wieder ganz seltne Ausnahmen, die sich bei gutem Humor zu halten wissen und über alles zu lachen verstehen.« Wird Dein Verlangen nicht gestillt, so weißt Du Dich darin zu finden, »denn es liegt in der Idee, daß nur einer lacht; ein solcher ist der wahre Pessimist; gäbe es mehrere der Art, dann wäre ja der Beweis erbracht, daß die Welt noch nicht ganz elend sei.« Und nun kennen die thörichten Gedanken Deines Herzens keine Grenzen. Du meinst, »selbst das Lachen sei nur ein unvollkommner Ausdruck für den eigentlichen Spott über das Leben. Der vollkommne Ausdruck dafür müßte ein ernster sein. Ja, das wäre der vollendetste Spott über die Welt,[612] wenn einer, der die tiefste Wahrheit vorgetragen hätte, kein Schwärmer, sondern ein Zweifler gewesen wäre. Und das sei auch nicht undenkbar, denn keiner könne die positive Wahrheit so vortrefflich darstellen wie ein Zweifler, nur daß er selber nicht daran glaube. Wäre er ein Heuchler, so wäre der Spott sein eigen, wäre er ein Zweifler der selber vielleicht zu glauben wünschte, so wäre der Spott ganz objektiv, die Welt verspottete sich selber durch ihn; er trüge eine Lehre vor, die alles erklärte, das ganze Geschlecht könnte in derselben zur Ruhe kommen, aber ihren eignen Stifter könnte sie nicht erklären. Wäre ein Mensch gerade so klug, daß er seine eigne Tollheit verbergen könnte, so würde er die ganze Welt toll machen können.« Sieh, wenn man das Leben so ansieht, dann ist's schwierig, einen Freund zu finden, der dieselbe Lebensanschauung hat. Oder hast Du vielleicht in der mystischen Gesellschaft der Symparanekrômenoi von der Du zuweilen redest, solche gefunden? Seid Ihr vielleicht ein Verein von Freunden, die einander für gerade so klug halten, daß Ihr Eure Tollheit vor der Welt verbergen könnt?!

Es lebte in Griechenland ein weiser Mann; er genießt die besondre Ehre, unter die sieben Weisen der Welt gezählt zu werden, wenn man annimmt, daß die Zahl derselben vierzehn gewesen ist. Wenn ich mich nicht sehr irre, ist sein Name Myson. Von ihm erzählt ein alter Schriftsteller, daß er ein Misanthrop gewesen sei. Er faßt sich sehr kurz: »von Myson wird erzählt, daß er ein Misanthrop war, und daß er lachte, wenn er allein war. Als ihn jemand fragte, weshalb er das thue, antwortete er: Gerade weil ich allein bin.« Du siehst, daß Du einen Vorgänger hast; vergebens würdest Du suchen, unter die Zahl der sieben Weisen aufgenommen zu werden, selbst wenn die Zahl auf einundzwanzig bestimmt würde, denn Myson steht Dir im Wege. Doch das ist weniger wichtig, dagegen wirst du selber einsehen, daß einer, der lacht, wenn er allein ist, unmöglich einen Freund haben kann, und zwar aus zwei Gründen, teils, weil er, solange der Freund gegenwärtig ist, nicht zum Lachen kommen kann, teils, weil der Freund fürchten muß, der andre warte nur, daß er fortgehe, um dann über ihn lachen zu können. Sieh, deshalb muß der Teufel Dein Freund sein. Ich könnte fast versucht[613] sein, Dich zu bitten, Du möchtest diese Worte ganz buchstäblich nehmen; denn Vom Teufel sagt man ja auch, er lache, wenn er allein sei. Mir scheint in einer solchen Isolation etwas sehr Trostloses zu liegen, und wie schrecklich ist doch der Gedanke, daß ein Mensch, der so auf Erden gelebt hat, in einem andern Leben erwacht, am Tage des Gerichts, und wieder ganz allein dasteht.

Die Freundschaft fordert also eine positive Lebensanschauung. Eine solche aber läßt sich ohne ein ethisches Moment nicht denken. Man findet in unsrer Zeit ja Menschen genug, die einem System huldigen, das alles Ethischen ganz bar ist. Laß sie zehnmal ein System haben, eine Lebensanschauung haben sie nicht. In unsrer Zeit läßt sich solch ein Phänomen herrlich erklären, denn wie dieselbe in mannigfacher Weise verkehrte Wege geht, nicht vorwärts, sondern rückwärts, so auch hier: zuerst wird man in die großen Mysterien eingeweiht und dann in die geringern.

Das ethische Moment der Lebensanschauung wird nun der eigentliche Ausgangspunkt für die Freundschaft; und erst wenn man die Freundschaft so anseht, gewinnt sie Bedeutung und Schönheit. Bleibt man bei dem Sympathischen als dem Mysteriösen stehen, so wird die Freundschaft ihren vollendetsten Ausdruck in dem Verhältnis finden, das zwischen den Gesellschaftsvögeln besteht, deren gemeinsames Leben so innig ist, daß der Tod des einen auch der Tod des andern ist. Aber ein solches Verhältnis ist in der Natur schön, doch nicht in der Welt des Geistes. Einheit in der Lebensanschauung ist das Konstituierende in der Freundschaft. Ist diese da, dann besteht jene, auch wenn der Freund stirbt, denn der verklärte Freund lebt in dem andern fort; hört diese auf, so hat die Freundschaft ein Ende, wenn auch der Freund am Leben bleibt.

Betrachtet man die Freundschaft so, dann betrachtet man sie ethisch und daher in ihrer Schönheit. Sie gewinnt dadurch zugleich Schönheit und Bedeutung. Soll ich eine Autorität für mich und wider dich anführen? Nun wohl! Wie faßte Aristoteles die Freundschaft auf? Nahm nicht auch er für seine ganze ethische Betrachtung des Lebens denselben Ausgangspunkt? Denn mit der Freundschaft, so sagt er, erweitern sich die Begriffe von dem, was[614] recht ist, so daß sie auf eins hinauslaufen. Er gründet den Begriff des Rechts auf die Idee der Freundschaft. Seine Kategorie ist daher in gewissem Sinn vollkommner als die moderne, die das Recht auf die Pflicht, auf das Abstrakt-Kategorische gründet; er gründet es auf das Soziale. Man sieht daraus leicht, daß ihm die Idee des Staates das Höchste wird; aber das ist wieder das Unvollkommne an seiner Kategorie.

Doch will ich mich nicht erkühnen, auf Untersuchungen, wie über das Verhältnis zwischen der aristotelischen und kantischen Auffassung des Ethischen einzugehn. Nur deshalb führte ich Aristoteles an, um Dich daran zu erinnern, daß auch er es einsah, welch wichtiger Faktor die Freundschaft Sei, um das wirkliche Leben ethisch zu gewinnen.

Wer die Freundschaft ethisch betrachtet, sieht sie als eine Pflicht an. Ich könnte daher sagen, es sei jedes Menschen Pflicht, einen Freund zu haben. Doch will ich lieber einen andern Ausdruck gebrauchen, der zu gleicher Zeit das Ethische in der Freundschaft und in allem bezeichnet, was im vorhergehenden entwickelt worden ist, und auch die Differenz zwischen dem Ethischen und Ästhetischen scharf hervorhebt: ES ist jedes Menschen Pflicht, offenbar zu werden. Die Schrift sagt, es sei jedem Menschen gesetzt, zu sterben und danach das Gericht, wo alles offenbar werden solle. Die Ethik sagt, es sei die Bedeutung des Lebens und aller wirklichen, realen Verhältnisse, daß ein Mensch offenbar werde. Wenn er das nicht wird, wird sich ihm die Offenbarung als Strafe zeigen. Der Ästhetiker dagegen will dem wirklichen Leben keine Bedeutung zuerkennen, er bleibt stets verborgen, denn wie oft und wie sehr er sich auch der Welt hingibt, er thut es niemals total, es bleibt immer etwas zurück, was er für sich behält; thäte er es total, so thäte er es ethisch. Doch das Versteck-spielen-wollen rächt sich immer und am natürlichsten dadurch, daß man sich selber rätselhaft wird. Daher kommt es, daß alle Mystiker, indem sie den Anspruch des wirklichen Lebens, offenbar zu werden, nicht anerkennen, auf Schwierigkeiten und Anfechtungen flößen, wie kein andrer sie kennt. Es ist, als entdeckten sie eine ganz andre Welt und als hätten sie selber ein doppeltes Wesen. Wer nicht mit dem wirklichen Leben kämpfen will, muß mit Phantomen streiten.[615]

Damit bin ich für dieses Mal fertig, denn es ist nicht meine Absicht, eine Pflichtenlehre vorzutragen. Ich wollte nur nachweisen, wie das Ethische auf den verschiedenen Gebieten des täglichen Lebens so entfernt sei, demselben seine Schönheit zu nehmen, daß es ihm vielmehr gerade seine Schönheit gib. Es gibt Frieden und sichern Schutz, denn es ruft uns stets zu: Quod petis, hic est. Es rettet von aller Schwärmerei, welche die Seele ermattet, und gibt ihr Kraft und Gesundheit. Es lehrt uns, das Zufällige nicht zu unterschätzen oder das Glück zu vergöttern. Es lehrt uns, im Glück fröhlich sein. Selbst das ist dem Ästhetiker nicht möglich; denn das Glück nur als solches ist eine unendliche Relativität; es lehrt uns auch im Unglück fröhlich und getrost bleiben.

Sieh das, was ich geschrieben habe, als unbedeutende Noten zu einem bedeutenden Werke an, das thut nichts zur Sache, es hat doch eine Autorität, die du hoffentlich respektieren wirst. Oder sollte es dir vielleicht scheinen, ich hätte mir eine solche ungerechterweise angemaßt, hätte mich als Richter geriert und nicht als Partei? Ich lasse gern jede Prätension fahren, will auch durchaus nicht im Namen und Auftrag der Ethik reden. Ich bin überhaupt nur Zeuge, und nur in diesem Sinn meinte ich, daß mein Brief eine gewisse Autorität in Anspruch nehmen dürfe. Denn wer aus Erfahrung spricht, ist immer eine Autorität. Ich bin nur ein Zeuge, aber hier hast du meine Zeugenerklärung in optima forma.

Ich arbeite als Gerichtsassessor und bin froh in meinem Berufe; wie ich glaube, daß diese Arbeit meinen Gaben und meiner ganzen Persönlichkeit entspricht, so weiß ich auch, daß es meine Kräfte erfordert. Mehr und mehr suche ich mich zu demselben auszubilden, und indem ich das thue, fühle ich zugleich, daß ich je mehr und mehr mich selber entwickle. Ich liebe mein Weib, bin glücklich in meinem Hause; ich höre die Wiegenlieder meiner Frau und sie find in meinen Augen schöner als jeder andre Gesang, ohne daß ich sie doch für eine Sängerin hielte; ich höre, wie mein Kleines schreit, und das ist in meinen Ohren durchaus nicht unharmonisch; ich sehe, wie seine ältern Brüder fröhlich heranwachsen, vertrauensvoll sehe ich in ihre Zukunft, nicht ungeduldig, denn ich kann[616] ja warten, und dieses warten selber ist mir eine Freude. Meine Arbeit hat für mich selber ihre Bedeutung, und ich glaube, in gewissem Maße auch für andre, obgleich ich das nicht bestimmen und genau ausmessen kann. Ich freue mich herzlich, daß das persönliche Leben andrer Bedeutung für mich hat, und wünsche und hoffe, daß auch das meinige für diejenigen, mit denen ich in meiner ganzen Lebensanschauung sympathisiere, nicht ohne Bedeutung sei. Ich liebe mein Vaterland, und kann mir nicht recht denken, daß der Baum meines Lebens in einem andern Lande rechte Früchte bringen würde; ich liebe meine Muttersprache, die meine Gedanken frei macht, und finde, daß ich das, was ich in der Welt zu sagen habe, herrlich in ihr aussprechen kann. Durch das alles hat mein Leben für mich Bedeutung, ja so große Bedeutung, daß ich mich fröhlich und zufrieden fühle. Aber zugleich führe ich auch noch ein höhres Leben, und wenn ich dieses zuweilen mit den Atemzügen meines irdischen und häuslichen Leben einatme, dann preise ich mich selig, und Kunst und Gnade stehn in schöner Harmonie vor den Augen meines Geistes. So liebe ich das Leben, weil es schön ist, und ich hoffe ein noch schönres.

Hier hast Du meine Zeugenerklärung. Ob es richtig war, dieselbe abzulegen, ich weiß es nicht, ich weiß nur, daß ich immer nur Dein Bestes vor Augen hatte. Fast fürchte ich freilich, Du hörst es nicht gern, daß das schlichte, einfache Leben so schön sein kann. Nimm jedoch mein Zeugnis an, laß es Dir etwas Schmerz verursachen, Dir aber auch Freude bereiten; es hat eine Eigenschaft die Deinem Leben, Gott sei es geklagt, fehlt: eine Treue, auf die Du Dich verlassen kannst.

In der letzten Zeit habe ich mit meiner Frau häufiger über Dich gesprochen. Sie hält wirklich recht viel von Dir; doch brauche ich das wohl kaum zu sagen, denn du hast viele Gaben, zu gefallen, wenn Du es willst, aber Du hast noch mehr Augen, es zu merken, ob es dir gelungen ist. Ihre Gefühle für Dich haben meinen ganzen Beifall, jaloux werde ich nicht leicht, das wäre auch unverantwortlich von mir, nicht weil ich zu stolz wäre, um es werden zu können, zu stolz, um »sofort dankend zu quittieren« – das wäre Deine Ansicht[617] –, sondern weil meine Frau zu liebenswürdig ist. Ich fürchte mich nicht vor dem Scheusal der Eifersucht.

Also, meine Frau hält recht viel von Dir, und ich sympathisiere mit diesen ihren Gefühlen, um so mehr, als ich glaube, daß der Grund ihres Wohlwollens für Dich zum Teil darin liegt, daß sie Deine Schwachheiten sieht. Sie sieht es sehr gut, daß, was Dir fehlt, ein gewisses Maß weiblichen Wesens ist. Du bist zu stolz, um Dich hingeben zu können. Dieser Stolz ist ihr durchaus keine Versuchung, denn in ihren Augen ist's ein Zeichen wahrer Größe, daß man sich hingeben kann. Du wirst es mir gewiß nicht glauben, aber ich gebe Dir die Versicherung, daß ich Dich ordentlich gegen sie verteidigen muß. Sie behauptet z.B., daß Du in Deinem Stolz an allen Menschen etwas auszusetzen habest; ich suche zu erklären, daß es sich vielleicht nicht ganz so verhält, daß Du in unendlichem Sinn an den Menschen etwas auszusetzen habest, daß die Unruhe, in welcher Deine Seele nach dem Unendlichen trachtet, Dich gegen die Menschen unbillig macht. Das will sie nicht einsehn, und ich kann das auch sehr wohl begreifen, denn wenn man so genügsam wie sie ist – und wie genügsam sie ist, kannst du unter anderm daraus erkennen, daß Sie sich durch meine Liebe unbeschreiblich glücklich fühlt –, so kann man kaum anders, man muß Dich verurteilen. So hat auch meine Ehe einen Streit, und daran bist du gewissermaßen schuld. Nun, wir werden schon miteinander fertig, und ich will nur wünschen, daß du einem Ehepaar niemals Anlaß zu einem Streit andrer Art gibst. Du könntest jedoch selber etwas dazu beitragen, den Streit zwischen meiner Frau und mir zum Ende zu bringen. Glaube nicht, daß ich mich in Deine Geheimnisse eindrängen will, ich will Dir nur eine Frage vorlegen und glaube, Du kannst sie beantworten, ohne Dir selber zu nahe zu treten; antworte mir einmal recht aufrichtig und ohne Umschweife auf die Frage: Lachst Du wirklich, wenn Du allein bist? Du weißt, was ich meine; ich meine nicht, ob Du zuweilen lachst, wenn Du allein bist, sondern ob Du in diesem einsamen Lachen Deine Befriedigung findest. Wenn Du nämlich darauf nicht mit einem zuversichtlichen Ja antworten kannst, dann habe ich gewonnen und werde auch schon meine Frau überzeugen.[618]

Ob Du nun, wenn Du allein bist, Deine Zeit wirklich mit Lachen hinbringst, das weiß ich nicht; mir scheint es allerdings sehr zweifelhaft; denn wohl ist die Entwickelung Deines Lebens derart, daß Du das Bedürfnis nach Einsamkeit fühlen mußt, aber nicht, soviel ich urteilen kann, daß es Dich zum Lachen zwingt. Schon die flüchtigste Beobachtung beweist es, daß Dein Leben ein ungewöhnliches ist, und Du scheinst durchaus keine innre Befriedigung zu finden, wenn Du den von allen Menschen betretnen Wegen folgst, Du mußt immer Deine eignen Wege gehn. Eine gewisse Abenteuer- lichkeit kann man nun freilich einem jungen Menschen verzeihen, anders aber Verhält es sich, wenn dieselbe so sehr zur Herrschaft kommt, daß sie das Normale und Wirkliche sein will. Einem solchen Menschen müßte man freilich sehr ernst ein: respice finem zurufen und ihm sagen, das Wort finis bedeute nicht den Tod, denn das ist noch nicht die schwerste Aufgabe des Menschen, sondern das Leben, weil der Augenblick kommt, wo es recht eigentlich gilt, mit dem Leben anzufangen; und dann ist's gefährlich, wenn man sich so zersplittert hat, daß man sich nur mit großer Schwierigkeit sammeln kann, ja daß man dieses mit solcher Hast und Eile thun muß, daß man nicht alles mitnehmen kann und schließlich statt eines ungewöhnlichen Menschen ein defektes Exemplar des menschlichen Geschlechts wird.

Im Mittelalter griff man die Sache anders an. Man brach die Entwickelung des Lebens plötzlich ab und ging in ein Kloster. Das Fehlerhafte lag gewiß nicht darin, daß man in ein Kloster ging, sondern in den falschen Vorstellungen, die man mit diesem Schritt verband. Ich kann es sehr wohl begreifen, daß ein Mensch sich dazu entschließt, ja, ich kann es sogar recht schön finden; aber dagegen fordre ich auch von einem solchen Menschen, daß er mit sich im Reinen ist und weiß, was der Schritt bedeutet. Im Mittelalter glaubte man, daß man dadurch etwas Ungewöhnliches that und selber ein ungewöhnlicher Mensch wurde; von der Höhe des Klosters sah man stolz, fast mitleidig auf die gewöhnlichen Menschen herab. Was Wunder, daß man in hellen Haufen ins Kloster ging, weil man so leichten Kaufs ein ungewöhnlicher Mensch ward. Aber die Götter verkaufen das Ungewöhnliche zu keinem Spottpreis. Wären[619] diejenigen, die sich aus dem Leben zurückzogen, ehrlich und aufrichtig gegen sich Selber und andre gewesen, hätten Sie vor allem rechte, wahre Menschen werden wollen, hätten sie das Schöne, das in solchem Leben lag mit ganzer Begeisterung erfaßt, wären ihre Herzen mit dem wahren tiefen Gefühl der Humanität nicht unbekannt gewesen – dann hätten Sie sich vielleicht auch in die Einsamkeit des Klosters zurückgezogen, aber sie hätten sich nicht selber eingebildet, dadurch ungewöhnliche Menschen geworden zu sein, es sei denn in dem Sinn, daß sie sich für unvollkommner als andre gehalten hätten; sie hätten nicht mitleidig auf die gewöhnlichen Menschen herabgeblickt, sondern sie teilnehmend angesehn und mit wehmütiger Freude hätte es ihre Herzen erfüllt, daß es ihnen gelungen wäre, das Schöne und Große zu vollbringen, was jene nicht vermocht hatten.

Zu unsrer Zeit ist das Klosterleben im Preise gesunken; nur selten sieht man einen Menschen mit dem ganzen Leben, mit allem Allgemein-Menschlichen auf einmal brechen. Lernt man die Menschen dagegen etwas besser kennen, so wird man zuweilen bei einem einzelnen Menschen eine Häresie finden, die lebhaft an die Kloster-Theorie erinnert. Der Ordnung wegen will ich hier gleich meine Anficht aussprechen und dir sagen, wer in meinen Augen ein ungewöhnlicher Mensch ist. Der wahre ungewöhnliche Mensch ist der wahre gewöhnliche Mensch. Je mehr ein Mensch in seinem Leben das Allgemein-Menschliche realisieren kann, um so ungewöhnlicher ist er. Je weniger er das Allgemeine in sich aufnehmen kann, um so unvollkommner ist er. Mag er immerhin ein ungewöhnlicher Mensch sein, im guten Sinn ist er es nicht.

Und wenn nun ein Mensch die ihm wie jedem andern gegebne Aufgabe, das Allgemein-Menschliche in seinem individuellen Leben auszudrücken, wirklich realisieren möchte und dabei auf Schwierigkeiten fließe, und wenn es schiene, als könne er etwas von jenem Allgemeinen nicht in sein Leben aufnehmen, wie dann? Spukt die Klostertheorie, oder eine ganz analoge ästhetische Ansicht in seinem Kopf herum, so wird er froh, so fühlt er sich gleich vom ersten Augenblick au in seiner ganzen vornehmen Erscheinung als eine Ausnahme, als einen ganz ungewöhnlichen Menschen; er wird eitel, so kindischeitel,[620] wie wenn eine Nachtigall, der über Nacht eine rote Feder in ihrem Flügel gewachsen wäre, sich gefreut hätte, daß keine andre Nachtigall solchen Schmuck besäße. Und wenn seine Seele durch die Liebe zum Allgemeinen veredelt wäre und er liebte die Menschen, die mit ihm auf dem Wege wären, wie dann?

Er würde überlegen, wie weit das wahr wäre. Ein Mensch kann selbst an dieser Unvollkommenheit schuld sein, er kann sie ohne Schuld haben, aber wie es auch sein mag, er kann das Allgemeine möglicherweise nicht realisieren. Wenn sich die Menschen überhaupt mit größrer Energie ihrer selbst bewußt würden, so würden vielleicht noch viele andre zu dem Resultat kommen. Er würde ferner wissen, daß Trägheit und Feigheit einem Menschen derartiges in den Kopf setzen und den Schmerz gering und unbedeutend machen könnten, indem er das Allgemeine in ein Einzelnes verwandelte und im Verhältnis zum Allgemeinen eine abstrakte Möglichkeit konservierte. Das Allgemeine ist nämlich nirgends als solches, und es liegt an mir, an der Energie meines Bewußtseins, ob ich im einzelnen das Allgemeine oder nur das Einzelne sehen will.

Vielleicht genügt ihm eine solche Erwägung nicht, er wagt einen Versuch. Er sieht leicht ein, daß, wenn ihn ein Versuch zu demselben Resultat bringt, er die Wahrheit um so nachdrücklicher einschärfen kann. Er weiß, daß nichts Einzelnes das Allgemeine ist, und will er sich nicht selber täuschen, so wird er das Einzelne in das Allgemeine verwandeln. Er wird im einzelnen viel mehr sehn als was in demselben als solchem liegt; ihm ist es das Allgemeine. Er wird dem Einzelnen zur Hilfe kommen und ihm die Bedeutung des Allgemeinen geben. Merkt er dann, daß der Versuch nicht gelingt, so wird er alles so zurechtlegen, daß das, was ihn verwundet, nicht das Einzelne, sondern das Allgemeine ist. Er wird über sich selber wachen, daß jede Verwechslung ausgeschlossen ist und kein Einzelnes ihn verwunden kann; die Wunde würde zu leicht sein, und er würde sich zu sehr lieben, als daß er wünschen könnte, eine leichte Wunde zu erhalten; er würde das Allgemeine zu aufrichtig lieber als daß er statt desselbigen das Einzelne substituieren möchte, nur um unverletzt zu entwischen. Er würde gewiß nicht über die ohnmächtige[621] Reaktion des Einzelnen lächeln und die Sache leichtsinnig ansehen, selbst wenn ihn das Einzelne dazu versuchte; er würde sich nicht von dem seltsamen Mißverständnis distrahieren lassen, daß das Einzelne in ihm einen größern Freund als in sich selber habe. Thäte er das, dann wurde er dem Schmerz ruhig entgegengehn.

Träfe es sich nun so, daß das Allgemeine, welches er nicht realisieren könnte, gerade das wäre, wozu er Lust hätte, dann würde er sich, falls er ein hochherziger Mensch wäre, dessen freuen; er würde sagen: Ich habe unter so ungünstigen Verhältnissen wie möglich gekämpft. Ich habe gegen das Einzelne gekämpft, ich habe meine Lust dem Feinde zu Hilfe geschickt, ich habe, um es komplett zu machen, das Einzelne zum Allgemeinen gemacht. Daß dies alles die Niederlage für mich nur um so schwerer machen würde, ist wahr, aber es gibt meinem Bewußtsein auch Klarheit, Kraft und Energie.

So hat er sich auf diesem Punkt von dem Allgemeinen emanzipiert. Es wird ihm keinen Augenblick unklar sein, was ein solcher Schritt zu bedeuten hat; denn eigentlich war er's ja selber, der die Niederlage vollständig machte und ihr eine Bedeutung gab; denn er wußte, wo er verwundbar war, und er brachte sich selber die Wunde bei, die das Einzelne als Solches ihm nicht beibringen konnte. Er wird sich davon überzeugen, daß es etwas Allgemeines ist, was er nicht realisieren kann. Mit dieser Überzeugung ist er jedoch nicht fertig, denn sie wird ihm einen tiefen Schmerz verursachen. Er wird sich über die andern freuen, denen es vergönnt war, dasselbe zu vollbringen, vielleicht besser als sie selber wird er es einsehen, wie schön es ist, aber er wird trauern, nicht feig und verzagt, sondern tief und freimütig; denn er wird sagen: Und doch liebe ich das Allgemeine. Konnten die andern für das Allgemein – Menschliche dadurch ein Zeugnis ablegen, daß sie es realisierten, nun wohl, ich thue es durch meinen Schmerz, und je tiefer dieser ist, um so bedeutungsvoller ist auch mein Zeugnis. Und dieser Schmerz ist Schön, ist selber ein Ausdruck des Allgemein – Menschlichen, und wird ihn mit diesem versöhnen.

Mit der so gewonnenen Überzeugung ist er jedoch nicht fertig, denn er fühlte, daß er sich selber verantwortlich gemacht hat. Auf[622] diesem Punkt, sagt er, habe ich mich außerhalb des Allgemeinen gesetzt, ich habe mich der sichern Führung beraubt, die das Allgemeine gibt; allein und ohne Teilnahme zu finden stehe ich da, denn ich bin eine Ausnahme. Aber er wird nicht feig und trostlos, mit Sicherheit geht er seinen einsamen Weg, er hat ja den Beweis geführt, daß richtig war, was er that, er hat seinen Schmerz. Er besitzt für diesen Schritt eine Erklärung, die er jeder Zeit vortragen kann; und ob er mitten in der Nacht plötzlich aus dem Schlafe aufführe, er würde sich doch augenblicklich alles klar machen können. Er fühlte, wie schwer die Erziehung ist, die ihm zu teil wird, denn das Allgemeine ist ein strenger Herr, so lange man es außerhalb seines Ich hat, es hält stets das Richterschwert über ihn und sagt: Weshalb willst du draußen stehn? Und ob er auch sagt: Das ist nicht meine Schuld, doch wird's ihm zugerechnet. Er wird dann zuweilen zu demselben Punkt zurückkehren, wieder und wieder den Beweis führen und dann freudig weitergehn. Er ruht in der Überzeugung, die er sich erkämpft hat, und er wird sagen: Worauf ich Schließlich doch baue, ist das, daß eine gerechte Vernunft existiert, und zu ihrer Barmherzigkeit werde ich fliehen, des gewiß, daß sie barmherzig genug sein wird, ein gerechtes Urteil zu sprechen; nicht das wäre das Entsetzliche, wenn ich eine wohlverdiente Strafe leiden müßte, weil ich Unrecht gethan hätte, sondern schrecklich wäre es, wenn ich sollte Unrecht thun können, ohne daß mich jemand dafür strafte; und nicht das wäre das Furchtbarste, wenn ich mit Angst und Grauen erwachte, weil ich sähe, daß ich betrogen worden wäre, sondern wenn ich mein Herz so betrügen konnte, daß niemand es aus seinem Schlaf zu wecken vermöchte.

Ja wahrlich, furchtbar ist dieser ganze Streit und man sollte nicht so sehr nach der eitlen Ehre geizig sein, ein ungewöhnlicher Mensch werden zu wollen. Denn das sein ist in der That noch etwas andres als eine launenhafte Befriedigung seiner willkürlichen Lust.

Wer dagegen mit tiefem Schmerz von der Wahrheit überzeugt ist, daß er ein ungewöhnlicher Mensch, und sich durch diesen seinen Schmerz wieder mit dem Allgemeinen versöhnt, der wird vielleicht einmal die Freude erleben, daß das, was ihm Schmerz verursachte[623] und ihn klein in seinen eignen Augen machte, eine Veranlassung wird, daß er sich wieder emporhebt und in edlerm Sinn ein ungewöhnlicher Mensch wird. Was er an Umfang verlor, gewann er vielleicht an intensiver Innigkeit. Es ist nämlich nicht jeder Mensch, dessen Leben das Allgemeine nur mittelmäßig ausdrückt, schon deshalb ein ungewöhnlicher Mensch, denn das würde ja eine Vergötterung der Trivialität sein; damit er in Wahrheit so genannt werden könnte, müßte auch nach der intensiven Kraft, mit welcher er es thäte, gefragt werden. Im Besitz dieser Kraft wird nun jener andre überall da sein, wo er das Allgemeine realisieren kann. Und wieder wird sein Schmerz verschwinden und sich in Harmonie auflösen; denn er wird einsehn, daß er bis an die Grenze seiner Individualität ge- kommen war. Wohl weiß er es, daß jeder Mensch sich mit Freiheit entwickelt, aber er weiß auch, daß ein Mensch sich selber nicht aus nichts schafft, daß er sich selber in seiner Konkretion als seine Aufgabe hat; und wieder wird er sich mit dem Leben versöhnen, da er einsehn wird, daß in gewissem Sinn jeder Mensch eine Ausnahme ist, und daß es gleich wahr ist, daß jeder Mensch das Allgemein-Menschliche und zugleich eine Ausnahme ist.

Hier hast du meine Ansicht und weißt nun, was ich unter einem ungewöhnlichen Menschen verstehe. Ich liebe das Leben und den Menschen zu sehr, um glauben zu können, daß man leicht oder ohne Anfechtungen ein ungewöhnlicher Mensch werden kann. Aber selbst, wenn jemand so im edlem Sinn ein ungewöhnlicher Mensch ist, er wird doch stets einräumen, daß es noch vollkommner wäre, das Allgemeine in seiner ganzen Totalität in sich aufzunehmen.

Und nun nimm meinen herzlichen Gruß an und sei mein Freund; denn obgleich ich unser Verhältnis in strengerm Sinn nicht als ein Freundschaftsverhältnis bezeichnen kann, hoffe ich doch, daß mein junger Freund einmal so viel älter werden wird, daß ich in Wahrheit dieses Wort gebrauchen darf; sei meiner Teilnahme versichert. Nimm einen Gruß auch von ihr an, die ich liebe, deren Gedanken in meinen Gedan ken verborgen find, nimm einen Gruß von ihr, der unzertrennlich von dem meinigen ist, aber nimm auch noch einen besondern Gruß von ihr an, freundlich und aufrichtig wie immer.[624]

Als Du vor einigen Tagen bei uns warst, dachtest Du vielleicht nicht, daß ich schon wieder mit einem so großen Schreiben fertig sei. Ich weiß, Du liebst es nicht, wenn man mit Dir von Deiner Innern Geschichte Spricht, deshalb habe ich Dir geschrieben, und werde niemals mit Dir darüber sprechen. Daß Du einen solchen Brief empfängst, bleibt ein Geheimnis, und ich möchte nicht, daß derselbe Dein Verhältnis zu mir und meiner Familie änderte. Du hättest Virtuosität genug, das zu thun, wenn Du wolltest, das weiß ich wohl, aber eben darum bitte ich Dich darum um Deiner und meinetwillen. Ich habe mich niemals in Dein innerstes Wesen eindrängen wollen und kann Dich sehr gut par distance lieben, obgleich wir uns oft sehen. Du bist zu verschlossen, als daß ich es für heilsam halten könnte, mit Dir zu reden; dagegen hoffe ich, daß meine Briefe nicht ohne Bedeutung bleiben werden. Wenn Du Dich in der geheimen Maschinerie Deiner Persönlichkeit selber entwickelst, dann bin ich des gewiß, daß auch dieser kleine Beitrag mit in die Bewegung hineingezogen wird.

Da unser Schriftliches Verhältnis ein Geheimnis bleibt, so beobachte ich alle Formalitäten, rufe Dir ein Lebewohl zu, wie wenn wir weit von einander entfernt wären, obgleich ich Dich ebenso oft zu sehen hoffe wie zuvor.[625]

Quelle:
[Søren Kierkegaard:] Entweder-Oder. Ein Lebensfragment. Leipzig 1885, S. 453-627.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Entweder-Oder
Entweder - Oder, Gesamtausgabe in zwei Bänden
Entweder - Oder
Entweder - Oder: Teil I und II
Entweder, Oder. Teil I und II.
Entweder, Oder. Teil 1, Band 1

Buchempfehlung

Gellert, Christian Fürchtegott

Geistliche Oden und Lieder

Geistliche Oden und Lieder

Diese »Oden für das Herz« mögen erbaulich auf den Leser wirken und den »Geschmack an der Religion mehren« und die »Herzen in fromme Empfindung« versetzen, wünscht sich der Autor. Gellerts lyrisches Hauptwerk war 1757 ein beachtlicher Publikumserfolg.

88 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon