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Das Erbauliche des Gedankens, daß wir vor Gott immer unrecht haben

Gebet

Vater im Himmel! Lehre du selber uns recht beten, daß sich unsre Herzen dir in Gebet und Flehen öffnen, und wir keinen geheimen Wunsch in unsrer Brust nähren, von dem wir wissen, daß er Dir nicht gefällt, aber auch keine geheime Furcht, daß Du uns etwas vorenthalten werdest, was in Wahrheit zu unserm Besten dient; damit die ringenden Gedanken, das unruhige Herz und die bange Seele da Ruhe finden, wo sie allein zu finden ist, wenn wir Dir immer fröhlich danken und es fröhlich bekennen können, daß wir vor Dir immer unrecht haben! Amen.

Das heilige Evangelium steht geschrieben im Evangelio St. Lucä im 19. Kapitel und lautet vom 41. Verse an folgendermaßen:

Und als Jesus nahe hinzukam, sah er die Stadt an, und weinte über sie, und sprach: »wenn du es wüßtest, so würdest du auch bedenken zu dieser deiner Zeit, was zu deinem Frieden dient. Aber nun ist es vor deinen Augen verborgen. Denn es wird die Zeit über dich kommen, daß deine Feinde werden um dich und deine Kinder mit dir eine Wagenburg schlagen, dich belagern und an allen Orten ängsten, und werden dich schleifen und keinen Stein auf dem andern lassen darum, daß du nicht erkannt hast die Zeit, darinnen du heimgesucht bist.« Und er ging in den Tempel und fing an auszutreiben, die darinnen verkauften und kauften. Und sprach zu ihnen: »Es stehet geschrieben: Mein Haus ist ein Bethaus; ihr aber habt es gemacht zur Mördergrube.« Und er lehrte täglich im Tempel. Aber die Hohenpriester und Schriftgelehrten, und die Vornehmsten im Volke trachteten ihm nach, daß sie ihn umbrächten. Und fanden nicht, wie sie ihm thun sollten; denn alles Volk hing ihm an, und hörete ihn.[635]

Was der Geist den Propheten in Gesichten und Träumen offenbart, was diese mit warnenden Stimmen einem Geschlecht nach dem andern verkündigt hatten: die Verwerfung des auserwählten Volks, den schrecklichen Untergang des stolzen Jerusalems, das näherte sich nun mehr und mehr. Christus zieht hinauf nach Jerusalem. Er ist kein Prophet, der das Zukünftige verkündet, seine Rede weckt keine ängstende Unruhe, denn was noch verborgen ist, das sieht er vor den Augen seines Geistes; er weissagt nicht, dazu ist keine Zeit mehr – er weint über Jerusalem. Und doch stand die Stadt ja noch in ihrer Herrlichkeit da, und der Tempel erhob sich auf dem heiligen Berge in seiner ganzen Majestät, höher denn alle andern Tempel und Paläste der Erde, und der Herr selber sagt: »Wenn du es wüßtest, so würdest du auch bedenken zu dieser deiner Zeit, was zu deinem Frieden dient,« aber er fügt auch hinzu: »Aber nun ist es vor deinen Augen verborgen.« Im ewigen Ratschluß Gottes ist der Untergang der heiligen Stadt beschlossen, und das Heil ist vor ihren Augen verborgen.

War denn das Geschlecht, das damals lebte, verdammlicher als das, dem es sein Leben verdankte? War das ganze Volk abgefallen, war kein Gerechter in Jerusalem, auch nicht ein einziger, der den Zorn des großen Gottes aufhalten konnte? War unter allen denen, vor deren Augen das Heil verborgen war, kein Frommer? Und wenn ein solcher da war, wurde ihm kein Thor geöffnet in der Zeit der Angst und Not, als die Feinde sie belagerten und sie an allen Orten ängstigten? Kam kein Engel vom Himmel, um ihn zu retten, noch ehe die Thore geschlossen wurden, geschahen keine Zeichen und Wunder, um den Gottesfürchtigen zu warnen? Nein, ihr Untergang war beschlossen. Vergebens sah sich die belagerte Stadt in ihrer Angst nach einem Retter um, das Heer der Feinde schloß sie mit eiserner Umarmung immer enger und enger ein, und keiner entkam. Der Himmel blieb verschlossen, und kein Engel ward gesandt – nur einer, der Engel des Todes, der sein Schwert über der dem Verderben geweihten Stadt schwang.

Was das Volk verbrochen hatte, das mußte dieses Geschlecht büßen; was dieses Geschlecht verbrochen hatte dafür traf jeden einzelnen,[636] der desselben angehörte, die Strafe. Muß denn der Gerechte mit dem Ungerechten zusammen leiden ? Ist es Götter Eifer, daß er die Missethaten der Väter an den Kindern bis ins dritte und vierte Glied also heimsucht, daß er nicht die Väter, sondern die Kinder straft? Was sollen wir dazu sagen? Sollen wir sagen: Es find seit jenen Tagen bald zwei Jahrtausende vergangen; solche Schrecken sah die Welt nie zuvor und wird sie auch nie wieder sehen; wir danken Gott, daß wir in Ruhe und Frieden leben, daß die lauten Seufzer jener Tage nur noch leise in unsern Ohren klingen, wir wollen hoffen, daß unsre und unsrer Kinder Tage in Frieden hingehn und daß wir von den Stürmen der Weltgeschichte unberührt bleiben!? Wir fühlten uns nicht stark genug, die Schrecken solcher Zeit auszudenken, aber wir werden Gott danken, daß wir nicht so versucht werden. Pfui der Feigheit solcher Rede! Wird denn das Unerklärliche dadurch erklärt, daß man sagt: Es ist nur einmal geschehen, solange die Welt stand? Oder ist nicht gerade das, daß es geschehen ist, das Unerklärliche? Und macht es nicht alles andre, selbst das Erklärliche, unerklärlich? Geschah es einmal, mußte es einmal geschähen, wer bürgt uns dafür, daß es nicht wieder geschieht? Wer gibt uns die Sicherheit, daß jenes nicht das Wahre war, und das, was gewöhnlich geschieht, das Unwahre ist? Und wiederholt es sich denn wirklich nicht öfters, was jene Zeiten erlebt haben? Haben wir's nicht schon alle manchmal und aus mancherlei Weise erfahren, daß dasselbe, was im großen geschieht, auch im kleinen erlebt wird? »Meint ihr« – sagt der Herr – »daß jene Galiläer, deren Blut Pilatus vergoß, vor allen Galiläern Sünder gewesen sind, dieweil sie das erlitten haben? Oder meint ihr, daß die Acht- zehn, auf welche der Turm in Siloah fiel und erschlug sie, seien schuldig gewesen vor allen Menschen, die zu Jerusalem wohnten?« Etliche jener Galiläer waren also nicht Sünder vor andern Menschen, jene Achtzehn nicht schuldig vor allen, die in Jerusalem wohnten – und doch teilten die Unschuldigen dasselbe Los mit den Schuldigen. Das war ein Schicksal, wirst du vielleicht sagen, keine Strafe. Mag sein, aber Jerusalems Untergang war eine Strafe, und traf Schuldige wie Unschuldige gleich hart. Darum willst du mit solchen Fragen[637] nicht beschwert werden; denn daß die Leiden der Zeit und die Widerwärtigkeiten des Lebens, wie der Regen über Gute und Böse kommen kauen, das kannst du fassen, aber daß es eine Strafe sein soll... Und doch stellt die heilige Schrift es also dar. So ist denn das Los des Gerechten und des Ungerechten dasselbe; so hat denn die Gottesfurcht keine Verheißung für dieses Leben; so ist denn jeder erhebende Gedanke, der Dich einst so mutig und vertrauensvoll machte, eine Einbildung, ein falscher Zauber, an den das Kind glaubt, auf welchen der Jüngling seine Hoffnung fetzt, aber in dem der ältre und erfahrnere Mann keinen Segen findet, sondern nur Spott und Ärgernis? Nein, dieser Gedanke empört dich! Gerechtigkeit willst du lieben, Gerechtigkeit willst du üben früh und spät, und ob sie keinen Lohn hatte, doch willst du sie üben; du fühlst es, daß sie etwas fordert, was doch einmal erfüllt werden muß. Du willst nicht ermattet hinsinken und es dann erfahren müssen, daß die Gerechtigkeit doch eine große Verheißung hatte, daß aber du dich selber von derselben durch Ungerechtigkeit ausgeschlossen hattest. Nicht mit Menschen willst du streiten, sondern mit Gott, willst mit ihm ringen und kämpfen und ihn nicht lassen, er segne dich denn!

Aber die heilige Schrift sagt: Du sollst mit Gott nicht ins Gericht gehn. Und thust du das denn nicht? Ist uns nun nicht wieder aller Trost genommen und will die Schrift den Menschen nur demütigen, nur wie den Wurm im Staube zertreten? Keineswegs. Wenn es heißt, daß du mit Gott nicht ins Gericht Gen sollst, dann will das sagen: Du darfst nicht recht wider Gott haben wollen; nur so darfst du mit ihm ins Gericht gehn, daß du es lernst, du habest unrecht. Ja, das ist's, was du selber wollen mußt. Und wenn dir nun so verboten wird, mit Gott ins Gericht zu gehn, flehe, so wird damit deine Vollkommenheit bezeichnet, und keineswegs gesagt, daß du ein niedriges Wesen bist, das keine Bedeutung für ihn hat. Der Sperling fällt vom Dach, so hat er gewissermaßen recht wider Gott; die Lilie verwelkt, So hat sie gewissermaßen recht wider Gott, nur der Mensch hat unrecht, ihm blieb vorbehalten, was aller andern Kreatur genommen ward, unrecht vor Gott zu haben![638]

Sollte ich anders reden, sollte ich dich an eine Weisheit erinnern, die du wohl oft gehört hast, eine Weisheit, die alles zu erklären weiß, ohne Gott oder Menschen unrecht zu thun: Der Mensch ist ein armes, schwaches Wesen, sagt sie, es würde thöricht von Gott sein, Unmögliches von demselben zu verlangen, man thut, was man kann, und läßt man sich dann und wann auch einmal ein wenig gehen, so wird Gott es nicht vergessen, daß wir schwache und unvollkommne Wesen sind. Was soll ich am meisten bewundern, die erhabnen Vorstellungen von der Gottheit, die diese Weisheit verrät, oder den tiefen Blick in das menschliche Herz, das sich selber erforscht und zu der Erkenntnis kommt: Man thut, was man kann?! Kannst du es so leicht entscheiden, mein Hörer, wieviel das ist, was man kann? warst du niemals in einer Gefahr, wo du deine Kräfte fast bis zur Verzweiflung anstrengtest und doch so gern, ach wie gern noch mehr gethan hättest, und ein andrer dich vielleicht mit zweifelnden und bittenden Blicken ansah, ob du nicht noch mehr thun könntest? Oder ist dir noch niemals angst und bange geworden, wenn du in dein eignes Herz hineinschautest? Ist dir's noch niemals mit Schrecken auf deine Seele gefallen, daß keine Sünde zu schwarz, keine Selbstsucht zu gemein ist, daß sie nicht den Weg zu deinem Herzen finden und als eine fremde Macht in dir zur Herrschaft kommen könnte? Kennst du die Angst nicht? Dann öffne deine Lippen auch nicht, um eine Antwort auf meine Frage zu geben, denn du kannst auf das, wonach gefragt wird, nicht antworten; aber wenn du jene Angst schon kennen gelernt hast, mein Hörer, dann frage ich dich: Fandest du Trost und Frieden in jenen Worten: »Man thut, was man kann?« Oder bist du niemals um andrer willen in Angst gewesen? Sahst du niemals die im Leben wanken und weichen, zu denen du sonst so vertrauensvoll und sicher emporblicktest, und hörtet du dann nicht eine leise Stimme, die dir zuflüsterte: Wenn auch sie das Große nicht vollbringen konnten, was ist das Leben denn anders als verlorne Liebesmühe, und der Glaube anders als eine Welle, die uns in das Meer der Unendlichkeit hinaustreibt, in welchem wir doch nicht leben können, daher es besser ist, alles zu vergessen und jeden Anspruch aufzugeben – hörtest du diese Stimme nicht? Hörtest[639] du sie nichts dann thue deinen Mund nicht auf, um zu antworten, denn du kannst auf das, wonach gefragt wird, nicht antworten; aber wenn du sie hörtest, mein Freund, ich frage dich: war es da dein Trost daß du sagtest: »Man thut, was man kann?« war das nicht gerade der Grund deiner Unruhe, daß du selber nicht wußtest, wieviel man könne, daß es dir in einem Augenblick schien, als könne man so unendlich viel, und im andern Augenblick, so unendlich wenig? War deine Angst nicht gerade deshalb so peinlich, weil du nicht zur Klarheit über dich selber kommen konntest, weil, je ernstlicher du selber wolltest, dir um so schrecklicher dies entgegentrat, entweder daß du nicht solltest gethan haben, was du konntest, oder daß du wirklich gethan haben solltest, was du konntest, aber siehe, es kam dir niemand zur Hilfe!

Nein, der ernstere Zweifel, der tiefere Kummer kommt nicht zur Ruhe, wenn die Weisheit dieser Welt ihn trösten will: »Man thut, was man kann.« Hat der Mensch zuweilen recht, zuweilen unrecht, in gewissem Grade recht, in gewissem Grade unrecht, wer kann's entscheiden, als der Mensch selber, aber kann er nicht auch wieder gerade in seiner Entscheidung in gewissem Grade recht und in gewissem Grade unrecht haben? Oder ist er ein andrer Mensch, wenn er seine Handlung beurteilt als wenn er handelt? So muß der Zweifel denn ewig herrschen und immer neue Schwierigkeiten entdecken? Oder wollen wir lieber immer recht haben wie die unvernünftigen Tiere? So haben wir die Wahl, entweder nichts vor Gott zu sein, oder in ewiger Qual jeden Augenblick von vorn anfangen zu müssen, ohne doch anfangen zu können; denn sollen wir ganz bestimmt entschieden können, ob wir im gegenwärtigen Augenblick recht haben, so muß die Frage wegen des vergangnen Augenblicks ebenfalls ganz bestimmt entschieden sein und so immer weiter und weiter zurück.

Wieder ist der Zweifel in Bewegung gesetzt, der Kummer von neuem erwägt; laßt uns denn einander zu beruhigen versuchen, indem wir erwägen:


Das Erbauliche des Gedankens, daß wir vor Gott immer unrecht haben.


Unrecht haben – läßt sich ein schmerzlicheres Gefühl als dieses[640] denken? Und sehen wir nicht auch, wie die Menschen alles andre lieber wollen, als einräumen, daß sie unrecht haben? Nein, wir billigen das weder bei uns selber noch bei andern, meinen vielmehr, es sei weiser und besser gehandelt wenn wir es willig eingestehn, wo wir wirklich unrecht gehabt haben; wir sagen dann wohl, der Schmerz, der mit jenem Bekenntnis verbunden sei, werde wie eine bittre Arznei wirken; aber – daß es ein Schmerz sei, unrecht zu haben, ein Schmerz, es offen zu bekennen, das verhehlen wir uns doch nicht. Wir ertragen den Schmerz, weil wir wissen, daß er zu unserm Besten dient, wir trösten uns dessen, daß wir ein andermal kräftigem Widerstand leisten wollen und daß wir vielleicht einmal dahin kommen, daß wir nur selten wirklich unrecht haben. Diese Betrachtung ist so natürlich, so verständlich für einen jeglichen unter uns. Und es liegt etwas Erbauliches in dem Gedanken, unrecht zu haben, sofern wir nämlich, wenn wir dies Bekenntnis ablegen, hoffen, daß es immer seltner und seltner geschehen werde. Und doch, mit dieser Betrachtung wollten wir ja nicht den Zweifel zum Schweigen bringen, wir wollen miteinander erwägen, wie erbaulich es sei, daß wir immer unrecht haben. Aber war jene erste Betrachtung erbaulich, weil sie uns die Hoffnung einflößte, wir würden mit der Zeit dahin kommen, seltner unrecht zu haben, wie kann denn die entgegengesetzte Betrachtung es auch sein, die Betrachtung, die uns lehren will, daß wir immer, ob wir nun in der Vergangenheit oder in die Zukunft blicken, unrecht haben?

Dein Leben bringt dich in mannigfache Beziehungen zu andern Menschen. Einige derselben lieben Recht und Gerechtigkeit, andre scheinen dieselbe nicht üben zu wollen; sie thun dir unrecht. Du er forschst und prüfst dich selber, du überzeugst dich davon, daß du recht hast und in dieser Gewißheit findest du deine Ruhe und deine Kraft. Wie sehr sie mich auch kränken, sagst du, diesen Frieden sollen sie mir doch nicht rauben, sollen mir die Gewißheit nicht nehmen, daß ich recht habe und unrecht leide. Ja, es liegt in dieser Betrachtung eine innere Befriedigung, eine Freude, die jeder von uns wohl schon geschmeckt hat, und mußt du wieder und wieder unrecht leiden, du tröstest dich dessen, daß du recht hast. Und doch wollen[641] wir so den Zweifel nicht zum Schweigen bringen, so den Schmerz nicht heilen, sondern vielmehr dadurch, daß wir miteinander das Erbauliche des Gedankens erwägen, daß wir immer unrecht haben. Kann denn die entgegengesetzte Betrachtung dieselbe Wirkung haben?

Dein Leben bringt dich in mannigfache Beziehungen zu andern Menschen; etliche liebst du inniger als andre. Wenn dir nun ein Mensch, den du recht lieb hättest, unrecht thäte, nicht wahr, das würde dich schmerzen; du würdest alles sehr genau prüfen; aber wie, würde es dich wirklich beruhigen, wenn du dir sagen dürftest: Ich weiß, daß ich recht habe? O, wenn du ihn liebtest, es würde dich dieser Gedankt nicht beruhigen. Und wenn du es noch so bestimmt wüßtest, daß er unrecht hätte, es würde diese Gewißheit dich nur noch unruhiges machen, und du würdest den Wunsch haben und aussprechen: Ach, daß ich doch unrecht hätte! Du würdest suchen und fragen, ob nichts zu seiner Verteidigung gesagt werden könne, und fandest du nichts, so würdest du erst in dem Gedanken, daß du unrecht hättest, zur Ruhe kommen. Oder du hättest für das Wohl eines solchen Menschen zu sorgen – gewiß, du würdest alles thun, was in deiner Macht stände, und wenn der andre nun dessenungeachtet dir nur Schmerz bereitete, nicht wahr, da würdest du innerlich mit ihm abrechnen und sagen: Ich weiß, daß ich ihm Recht gethan habe? – O nein! wenn du ihn liebtest, dann würde dieser Gedanke dich nur ängstigen, du würdest wieder und wieder fragen, ob er nicht doch recht habe, und wenn es doch nicht so wäre, dann würdest du die Abrechnung zerreißen, würdest alles zu vergessen suchen und dich an der Möglichkeit erbauen, daß du doch vielleicht unrecht gehabt hättest.

So ist's denn schmerzlich, unrecht zu haben, und um so schmerzlicher, je öfter man es hat, und auch wieder – erbauliche unrecht zu haben, und um so erbaulicher, je öfter man es hat! Aber das ist ja ein Widerspruch! Wie läßt sich derselbe erklären, es sei denn dadurch, daß du in einem Fall gezwungen wirst, das zu erkennen, was du in einem andern Fall zu erkennen wünschst? Und hat es einen Einfluß auf sie, ob wir etwas wünschen oder nicht? Wie läßt sich's er klären, es sei denn dadurch, daß du in dem einen Fall liebtet, in dem andern nicht, mit andern Worten, daß du in dem einen Fall[642] dich in einem unendlichen Verhältnis zu einem Menschen befandest, in dem andern in einem endlichen? Also: wünschen, daß man unrecht habe, ist der Ausdruck für ein unendliches Verhältnis, und recht haben wollen oder es bedauern, daß man unrecht hat, der Ausdruck für ein endliches Verhältnis! So ist's des erbauliche immer unrecht haben; denn nur das Unendliche erbaut, das endliche nicht!

Und wenn du nun einen Menschen liebtest und deiner Liebe gelänge es, dich, dich selber fromm zu betrügen – du warst ja doch in stetem Widerspruch, weil du wüßtest, daß du recht hättest, aber zu glauben wünschtest und wünschtest, daß du unrecht hättest. Aber wie? Wenn es nun Gott wäre, den du liebtest, – sollte da von einem solchen Widerspruch die Rede sein können? Sollte dir da etwas andres bewußt sein können, als was du zu glauben wünschtest? Sollte er, der im Himmel ist, nicht größer sein als du, der du auf Erden bist? Sollte sein Reichtum nicht größer sein als du denken kannst, seine Weisheit nicht tiefer als deine Klugheit, seine Heiligkeit nicht besser als deine Gerechtigkeit? Mußt du das nicht notwendig erkennen? aber mußt du's erkennen, nun, so ist auch zwischen deinem Wissen und deinem Wünschen kein Widerspruch. Und doch, mußt du es notwendig erkennen, dann ist ja in dem Gedanken, daß du immer unrecht hast, nichts Erbauliches; denn es hieß ja: der Grund, weshalb es das einemal schmerzlich, das andremal erbaulich sei, unrecht zu haben, sei der, daß man in dem einen Fall gezwungen werde, das zu erkennen, was man im andern Fall zu erkennen wünsche. Gott gegenüber verschwand nun freilich der Widerspruch, aber auch das Erbauliche des Gedankens, und doch wollten wir ja gerade das erwägen, wie erbaulich es sei, daß wir vor Gott immer unrecht haben.

Sollte es wirklich so sein? Weshalb wünschtest du, vor einem Menschen unrecht zu haben? Weil du liebtest! Weshalb fandest du es erbaulich? Wieder, weil du liebtest! Je mehr du liebtest, um so weniger Zeit hättest du, zu überlegen, ob du recht hattest oder nicht, deine Liebe hatte nur einen Wunsch, daß du immer unrecht haben mögest. Gleicherweise auch in deinem Verhältnis zu Gott. Du liebtest Gott, und darum konnte deine Seele Ruhe und Freude nur in dem Gedanken finden, daß du immer unrecht haben müssest. Zu[643] diesem Gedanken wardst du nicht gezwungen; denn wenn du in dem Reich der Liebe lebst, lebst du auch im Reich der Freiheit. Zu der Gewißheit, daß du unrecht hattest, kannst du daher nicht von der Erkenntnis, das Gott recht hatte; sondern von dem einzigen und höchsten Wunsch der Liebe, daß du immer unrecht haben mußtet kamst du zu der Erkenntnis, daß Gott immer recht habe. Aber dieser Wunsch ist aus der Liebe und also aus der Freiheit geboren, und du wirst durchaus nicht zu der Erkenntnis gezwungen, daß du immer unrecht hattest.

Es ist also ein erbaulicher Gedanke, daß wir vor Gott immer unrecht haben. Wäre das nicht der Fall, hatte diese Überzeugung nicht ihren Grund in deinem ganzen Wesen, das heißt in deiner Liebe, so würde diese Betrachtung auch ganz anders aussehen. Du hattest erkannt, daß Gott immer recht hatte, das mußtest du erkennen, und aus demselben Grunde mußtest du erkennen, daß du immer unrecht hattest; aber trotzdem konntest du nicht gezwungen werden, dies auf dich selber anzuwenden, diese Erkenntnis in dein ganzer Wesen aufzunehmen. Du sahst ein, daß Gott immer recht hatte und du immer unrecht; aber diese Erkenntnis erbaute dich nichts. Denn wenn du erkennst, daß Gott immer recht hat, dann stellst du dich Gott gegenüber, und ebenso, wenn du aus demselben Grunde zu der Erkenntnis kommst, daß du immer unrecht hast. Wenn du dagegen nicht in Kraft einer vorhergehenden Erkenntnis forderst und davon fest überzeugt bist, daß du immer unecht hast, dann bist du verborgen in Gott. Das ist deine Anbetung, deine Andacht, deine Gottesfurcht.

Du liebtest einen Menschen, du wünschtest immer unrecht vor ihm zu haben, ach, aber er ward dir untreu, und wie sehr es dich auch schmerzte, du hattest doch recht wider ihn und unrecht darin, daß du ihn so innig liebtest. Und doch mußte deine Seele ihn so lieben, nur darin fandest du Ruhe und Frieden, nur darin konntest du glücklich sein. Da wandte sie sich von dem Endlichen hinweg zum Unendlichen; da fand sie, was sie suchte, da ward deine Liebe glücklich. Gott will ich lieben, sagtest du, er gibt dem Liebenden alles, er erfüllt meinen höchsten, meinen einzigen Wunsch, daß ich vor ihm immer unrecht habe. Niemals soll mich ein quälender Zweifel von[644] ihm abziehen, nie soll mich der Gedanke erschrecken, daß ich vor ihm recht haben könnte; vor Gott habe ich immer unrecht.

Oder ist's nicht so ? War dies nicht dein einziger, dein höchster Wunsch, und ergriff dich nicht eine entsetzliche Angst, wenn auch nur einen Augenblick der Gedanke in deiner Seele aufkommen konnte, daß du recht haben konntest, daß nicht Gottes Wege, sondern deine plane Weisheit, daß nicht Gottes Herz, sondern deine Gefühle Liebe seien? Und war es nicht deine Seligkeit, daß du niemals so lieben konntest wie du geliebt wardst? So ist denn die Thatsache, daß du vor Gott immer unrecht hast, nicht eine Wahrheit, die du erkennen mußt, nicht ein Trost, der deinen Schmerz lindert, nicht ein Ersatz für etwas Beßres, sondern eine Freude, in welcher du über dich selber und über die Welt den Sieg davonträgst, deine Wonne, dein Lobgesang, deine Anbetung ein Beweis dafür, daß deine Liebe glücklich ist, wie nur die Liebe es sein kann, in der man Gott liebt.

So ist's denn ein gar erbaulicher Gedanke, daß wir vor Gott immer unrecht haben; es ist erbaulich, daß wir unrecht haben, erbaulich, daß wir es immer haben; und derselbe Gedanke erweist seine erbauliche Kraft in zwiefacher Weise, teils darin, daß er den Zweifel hebt und den Kummer des Zweifels zur Ruhe bringt, teils darin, daß er zur That anfeuert und begeistert.

Du erinnerst dich, mein Hörer, wohl noch einer Weisheit, die zuvor erwähnt ward? Sie sah so treu und zuverlässig aus, sie erklärte alles so leichte sie war bereit, jeden Menschen unangefochten von den Stumpen des Zweifels durch das Leben zu bringen. »Man thut, was man kann,« rief er uns zu. Und es ist ja unleugbar, wenn man das nur wirklich thut, dann ist einem geholfen. Weiter hatte sie nichts zu sagen, sie verschwand wie ein Traum, oder ward zu einer einförmigen Wiederholung in den Ohren des Zweifelnden. Da er sie aber gebrauchen wollte, zeigte es sich, daß sie unbrauchbar war, daß sie ihn in mannigfache Schwierigkeiten verwickelte. Er hatte die Zeit nicht, um recht zu überlegen, was er thun könne, denn er sollte ja zur selben Zeit thun, was er thun konnte. Oder fand er die Zeit zur Überlegung, so gab die Prüfung ihm ein Mehr oder weniger, aber niemals etwas, was der Sache wirklich auf den Grund[645] ging und sie erschöpfte. Wie sollte ein Mensch auch sein Verhältnis zu Gott durch ein Mehr oder Weniger ausmessen können? Er überzeugte sich davon, daß diese Weisheit ein verräterischer Freund war, der unter dem Schein der Hilfe ihn nur noch mehr in Zweifel verstrickte, ihn nur noch mehr mit Angst und Schrecken erfüllte. Was ihm zuvor dunkel gewesen war, ihn aber nicht bekümmert hatte, das wurde ihm auch jetzt nicht klarer, aber es ängstigte seine Seele mit neuen Zweifeln und bekümmerte sein Herz. Nur in einem unendlichen Verhältnis zu Gott wurde der Zweifel zur Ruhe kommen; nur in einem unendlich freien Verhältnis zu Gott könnte sein Kummer in Freude Verwandelt werden. In einem unendlichen Verhältnis aber steht er zu Gott, wenn er erkennt, daß Gott immer recht hat; in einem unendlich freien Verhältnis, wenn er erkennt, daß er selber immer unrecht hat. So ist der Zweifel gehoben; denn die Bewegung des Zweifels lag ja gerade darin, daß er einen Augenblick recht, einen andern Augenblick unrecht haben sollte, oder in gewissem Grade recht und in gewissem Grade unrechte und das sollte sein Verhältnis zu Gott bezeichnen; aber ein solches Verhältnis zu Gott ist kein Verhältnis, und das gab dem Zweifel immer neue Nahrung.

In seinem Verhältnis zu einem andern Menschen war es wohl möglich, daß er teils recht, teils unrecht haben konnte, in einem gewissen Grade recht und in einem gewissen Grade unrecht, weil er selber und jeder Mensch ein endliches Wesen und ihr Verhältnis ein endliches Verhältnis ist, das in einem Mehr oder weniger liegt. Solange daher der Zweifel das unendliche Verhältnis endlich machen, und solange die Weisheit das unendliche Verhältnis mit endlichen Momenten erfüllen wollte, so lange blieb der Zweifel. So oft nun der Zweifel ihn mit dem Einzelnen ängstigen, ihn lehren will, daß er zu viel leidet oder daß er über sein Vermögen versucht wird, vergißt er das Endliche in dem Unendlichen, daß er immer unrecht hat. So oft der dummer des Zweifels ihn traurig macht, schwingt er sich über das Endliche empor zum Unendlichen; denn der Gedanke, daß er immer unrecht hat, ist der Flügel, der ihn über alles Endliche hinwegträgt, er ist die Sehnsucht, in welcher er Gott sucht, die Liebe, in welcher er Gott findet.[646]

Vor Gott haben wir immer unrechte Aber wie? Ist dieser Gedanke, so erbaulich er sein kann, nicht zugleich auch gar gefährlich für den Menschen? Bringt er ihn nicht in einen Schlaf, in dem er von einem Verhältnis zu Gott träumt, das doch kein wirkliches Verhältnis ist, verzehrt er nicht die Kraft des Willens und des Entschlusses? Mit nichten! Oder wäre der Mensch, der vor einem andern Menschen immer unrecht zu haben wünschte, schläfrig und unthätig, thäte er nicht alles, was in seiner Macht stände, um recht zu haben, und wünschte doch nur unrecht zu haben? Und der Gedanke, daß wir vor Gott immer unrecht haben – wie? der sollte nicht begeistern? Denn was sagt er anders, als, daß Gottes Liebe immer größer ist als unsre Liebe? Macht dieser Gedanke ihn nicht freudig zur That? denn wenn er zweifelt, hat er keine Kraft zur That; macht der ihn nicht brünstig im Geiste? denn wenn er endlich berechnet, verlischt des Geistes Feuer. Wenn dir dann dein einziger Wunsch versagt bliebe, mein Hörer, du bist doch froh, du sagst nicht: Gott hat immer recht, denn darin ist keine Freude; du sagst: vor Gott habe ich immer unrecht. Und wärst du selber der, der dir deinen höchsten Wunsch versagen müßte, du bist doch froh, du sagst nicht: Gott hat immer recht, denn darin ist kein Jubel; du sagst: vor Gott habe ich immer unrecht. Wenn das, was dein Wunsch war, zugleich auch das war, was andre und du selber in gewissem Sinn deine Pflicht nennen müssen, wenn du nicht nur auf deinen Wunsch verzichten, sondern gewissermaßen auch deiner Pflicht untreu werden müßtest, wenn du nicht nur deine Freude verlörst, sondern auch deine Ehre – du bist doch froh; vor Gott, sagst du, habe ich immer unrecht. Wenn du anklopftest und es würde nicht aufgethan, wenn du suchtest, aber nicht fändest, wenn du arbeitetest, aber keinen Lohn erhieltest, wenn du pflanztest und begössest, aber kein Wachstum und Gedeihen sähst, wenn der Himmel verschlossen bliebe und dir kein Zeichen von oben herab gegeben würde – du bist doch froh in deiner That, und ob die Strafe, welche die Sünden der Väter auf dich herabgerufen hatten, dich ereilten – du bist doch froh, denn vor Gott haben wir immer unrecht.

Vor Gott haben wir immer unrecht, dieser Gedanke hebt den[647] Zweifel und bringt den Kummer des Zweifels zur Ruhe, er begeistert und feuert zur That an.

Dein Gedanke ist nun dem Gang der Entwickelung gefolgt, vielleicht rasch vorauseilend, wenn er dich bekannte Wege führte, langsam, widerstrebend vielleicht, wenn der Weg dir fremd war; aber das mußtest du ja doch einräumen, daß es sich so verhielt, wie es vor dir entwickelt ward, und dein Geist hatte nichts dagegen einzuwenden. Könntest du wünschen, daß du recht haben solltest, könntest du wünschen, daß jenes schöne Gesetz, welches seit Jahrtausenden das menschliche Geschlecht und jedes einzelne Glied desselben durch das Leben getragen hat, jenes schöne Gesetz, herrlicher als jenes, welches die Sterne in ihren ewigen Himmelsbahnen lenkt, könntest du wünschen, daß jenes Gesetz gebrochen würde, schrecklicher als wenn jenes Gesetz der Natur seine Kraft verlöre und sich alles in gräßlichem Chaos auflöste? Könntest du das wünschen? Ich will dich nicht mit Zornesworten schrecken, dein Wunsch soll nicht aus der Angst über das Vermeßne des Gedankens, vor Gott recht haben zu wollen, hervorgehen, ich frage dich nur: Wünschtest du, daß es anders wäre? Vielleicht hat meine Stimme nicht so viel Kraft, daß sie in deine verborgensten Gedanken einbringen kann; o, aber frage dich selber, frage dich mit der feierliches Ungewißheit, in der du dich an einen Menschen wenden würdest, der mit einem einzigen Worte das Glück deines Lebens entschieden könnte, frage dich noch ernster; denn es handelt sich um Wahrheit und Seligkeit. Halte den Flug deiner Seele nicht auf, betrübe nicht dein beßres Selbst, erschlaffe deinen Geist nicht durch halbe Gedanken, durch halbe Wünsche. Frage dich und frage dich wieder und wieder, bis du die rechte Antwort gefunden hast; denn man kann etwas oft erkannt, die Wahrheit desselben anerkannt haben, man kann etwas oft gewollt und versucht haben, und doch, erst die tiefere innere Bewegung, erst die unbeschreibliche Erregung des Herzens überzeugt dich davon, daß das, was du erkannt hast, dir gehört, und daß keine Macht es dir wieder nehmen kann; denn nur die Wahrheit die dich erbaut, ist Wahrheit für dich.[648]


Quelle:
[Søren Kierkegaard:] Entweder-Oder. Ein Lebensfragment. Leipzig 1885.
Lizenz:
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