6. Kapitel
Achten auf die Umstände / Schen Schï

[280] Wer es an Zuverlässigkeit fehlen läßt und doch verlangt, daß die Leute ihm glauben, der täuscht sich. Wer es an Einfluß fehlen läßt und doch sein Reich zu wahren sucht, der kommt in Gefahr.

Ein Fisch, so groß, daß er ein Schiff verschlingen kann, ist auf dem Trockenen nicht einmal den Ameisen gewachsen.

Wo die Gewalt gleich ist, kann keiner den andern anstellen. Wo zwei an Macht einander gewachsen sind, kann keiner den andern annektieren. Wo zwei an Ordnung der Verhältnisse einander ebenbürtig sind, kann keiner den andern bessern. Darum muß man die Unterschiede von Klein und Groß, Unwichtig und Wichtig, Wenig und Viel, Ordnung und Verwirrung sorgfältig erwägen, denn sie sind das Tor für Glück und Unglück.

Die Staaten, in denen man Hüte und Gürtel trägt, in denen Schiffe und Wagen allgemein im Gebrauch sind, bei denen man zum Verkehr keine Dolmetscher braucht, erstrecken sich über eine Fläche von 3000 Meilen im Geviert. Die Großkönige der alten Zeiten wählten die Mitte dieser Welt, um dort ihre Haus macht zu gründen, sie wählten die Mitte des Gebiets ihrer Hausmacht, um daselbst ihre Residenz zu gründen, sie wählten die Mitte dieser Residenz, um daselbst ihren Ahnentempel zu gründen. Auf der ganzen Erde war als Umfang für einen Lehensstaat 1000 Meilen im Geviert festgesetzt, und auf diese Weise das Höchstmaß der Zweckmäßigkeit erreicht. Nicht daß man die Lehensstaaten nicht hätte größer machen können, aber es war vorzuziehen, daß sie nicht zu groß und nicht zu zahlreich bevölkert waren. Daß so viele Lehen[280] eingerichtet wurden, geschah nicht aus Voreingenommenheit für die Tüchtigen, sondern um auf diese Weise die Ausübung der Staatsgewalt zu erleichtern und das Ansehen zu fördern. Dadurch entstand eine Gemeinschaft der Interessen und der Pflichten. Durch die Ausdehnung der Interessen- und Pflichtgemeinschaft wurde der Lehensherr frei von ebenbürtigen Gegnern. Darauf daß er keine Gegner zu fürchten hatte, beruhte seine Sicherheit. Darum läßt es sich beobachten, daß im Altertum diejenigen, welche viele Lehensstaaten errichteten, dauernden Glücks und eines berühmten Namens teilhaftig wurden.

Die Dynastie Schang regierte 17 Generationen lang über die Welt, weil sie ihren Besitz mit der Welt teilte.

Die Großkönige hielten es mit den Lehensstaaten so, daß je näher ein Staat war, er desto größer war, je ferner desto kleiner. Ferne am Meer gab es Lehensfürsten, die nur zehn Meilen im Geviert besaßen. Indem sie durch die Großen die Kleinen, durch die Wichtigen die Unwichtigen, durch die Bevölkerten die Dünnbevölkerten zum Dienst anhalten ließen, erreichten es die Großkönige, daß ihr Haus gefestigt wurde.

Darum heißt es: Will man mit Hilfsmitteln von Kleinstaaten wie Fong und Bi etwas ausrichten, so ist es bemühend; mit den Kräften eines Mittelstaates wie Lu oder Dsou geht es bedeutend leichter, mit denen der größeren Staaten wie Sung und Dschong erreicht man an einem Tage das Doppelte, mit Großstaaten wie Tsi und Tschu erledigt sich die Sache so leicht, wie man ein Netz am Umfassungsseil emporziehen kann. Je größer die Macht ist, die man zur Anwendung bringt, desto leichter fällt der erwünschte Erfolg.

Hätte Tang nicht sein Stammland We gehabt und König Wu nicht sein Stammland Ki, so hätte ihre Tüchtigkeit noch zehnmal so groß sein können und sie hätten ihr Werk doch nicht vollbracht. Wenn selbst so tüchtige Herrscher wie Tang und Wu sich noch auf Macht stützen mußten, wieviel mehr müssen das Fürsten tun, die einem Tang und Wu nicht gleichkommen. Darum wenn man mit einer großen Macht eine kleine in Schranken hält, so geht es[281] gut, will aber ein Kleinstaat eine Großmacht in Schranken halten, so geht er daran zugrunde. Wenn man mit Gewichtigem das Leichte beeinflußt, so folgt es, will man mit Leichtem das Gewichtige beeinflussen, so mißlingt das.

Von hier aus betrachtet zeigt es sich, daß wenn man seine Zeit in feste Bahnen und das Leben der Menschheit in Frieden bringen will, man sich Verdienste und Ruhm erwerben muß, die auf Wannen und Schüsseln24 eingegraben zu werden wert sind, die auf Vasen und Spiegeln gestempelt werden, und dennoch kann die Macht nicht zu groß und können die Mittel nicht zu zahlreich sein. Hat ein tüchtiger Staatsmann, der einem verworfenen Geschlechte gegenübertritt, eine große Macht und zahlreiche Mittel zur Verfügung, so wird er ohne Schwierigkeiten die Herrschaft der Welt erringen.

Alle Leute auf Erden sind heutzutage mühselig und beladen. Je mühseliger und beladener jedoch die Menschen sind, desto leichter wird es einem Könige gemacht; denn als König rettet er ja die Mühseligen und Beladenen. Auf dem Wasser muß man ein Schiff benützen, auf dem Lande den Wagen, im Sumpf die Lehmschuhe, im Sand die Siebschuhe, im Gebirge Bergschuhe; indem man sich der richtigen Mittel bedient, kommt man voran25. Wer die Macht in der Hand hat, dessen Befehle werden ausgeführt. Wessen Stellung geehrt ist, dessen Lehren werden angenommen. Wer sich in Respekt zu setzen weiß, vor dem wagen sich schlechte Elemente nicht hervor: das ist die Art, wie man Menschen in Schranken hält. Darum ist es leicht, mit 10000 Kriegswagen einen Staat von 1000 Kriegswagen zum Gehorsam zu bringen; mit 1000 Kriegswagen ein Adelshaus zum Gehorsam zu bringen, mit der Macht eines Hauses einen einzelnen Mann zum Gehorsam zu bringen. Wer es aber umgekehrt versuchen will, und wäre er ein Yau oder ein Schun: er wird es nicht vermögen.

Die Lehnsfürsten sind nicht freiwillig andern untertan, sondern nur, weil es nicht anders geht. Wer keine Macht zur Verfügung hat, wie will der sich andere unterwerfen? Dadurch, daß man die Wichtigkeit der einzelnen Staaten erwägt, daß man ihre Größe[282] beurteilt und dementsprechend viele Lehnsstaaten einrichtet, befestigt man die eigene Macht. Das Königtum beruht auf der Macht. Das Königtum beruht darauf, daß es keinen andern Gleichmächtigen gibt. Kommt ein anderer der Macht des Königs gleich, so muß das Königtum zugrunde gehen. Wer es versteht, daß es klüger ist, kleine Lehnsstaaten zu haben als große, daß es besser ist geringere Bevölkerung zu haben als zahlreiche, der weiß wie man es machen muß, um keinen Nebenbuhler neben sich zu haben. Wenn einer es versteht, über aller Konkurrenz zu stehen, so bleibt alles Vergleichen und Abwägen, aller Neid und alle Eifersucht ferne.

Darum war es der Grundsatz der alten Könige, daß, wenn ein Himmelssohn eingesetzt war, die Lehnsfürsten nicht mit ihm verwechselt werden konnten, wenn ein Lehnsfürst eingesetzt war, die Staatsminister nicht mit ihm verwechselt werden konnten, wenn ein Thronfolger eingesetzt war, die nachgeborenen Söhne nicht mit ihm verwechselt werden konnten. Aus solchen Verwechslungen entsteht ein Streit, aus Streit entsteht Unordnung. Darum, wenn die Lehnsfürsten ihre Rangordnung nicht mehr haben, so kommt die ganze Welt in Unordnung, wenn der Adel keine Stufen mehr hat, so kommt der Hof in Unordnung, wenn Haupt- und Nebenfrau nicht klar in ihren Rechten getrennt sind, so kommt die Familie in Unordnung, wenn Erstgeborene und Nachgeborene nicht gesondert sind, so kommt der Ahnentempel in Unordnung.

Schen Dsï sprach26: »Wenn ein Hase läuft und 100 Mann verfolgen ihn, so ist der eine Hase allerdings nicht genug, um unter 100 Mann verteilt zu werden, aber sie laufen ihm nach, weil noch nicht bestimmt ist, wem er gehören wird. Solange sein Besitz noch nicht festgestellt ist, würde selbst Yau sich bemühen, wievielmehr die gewöhnlichen Menschen. Wenn aber auf dem Markte eine Menge Hasen feilgeboten werden, so sieht sich kein Vorübergehender danach um, nicht weil er keinen Hasen wollte, sondern weil die Besitzverhältnisse schon geregelt sind. Wenn das Teil eines jeden festgesetzt ist, so wird auch der Gemeinste keinen Streit anfangen.« Darum beruht die Beherrschung der Welt und die Ordnung des Staates auf der Bestimmung der Standesunterschiede. König Dschuang[283] von Tschu belagerte Sung neun Monate lang27, der König Kang belagerte Sung fünf Monate lang, König Schong belagerte Sung zehn Monate lang. Dreimal griff der Staat Tschu den Staat Sung an und konnte ihn nicht vernichten. Nicht daß er nicht zu vernichten gewesen wäre. Aber wenn ein Sung das andere angreift, wie will man da zu Ende kommen28? Alle großen Verdienste wurden dadurch erworben, daß zwischen den Gegnern ein Unterschied war an Tüchtigkeit, Stärke und innerer Ordnung.

Herzog Giän von Tsi29 hatte einen Beamten namens Dschu Yü Yang, der machte dem Herzog Vorstellungen und sprach: »Die beiden Beamten Tschen Tschong Tschang und Dsai Yü sind miteinander verfeindet. Ich fürchte, daß es zum offenen Kampf zwischen ihnen kommen könnte. Wenn es zu einem hartnäckigen Kampfe kommt, droht aber dem Fürsten Gefahr. Ich rate daher, einen von den Beamten zu entfernen.«

Herzog Giän sprach: »Das sind Dinge, die dein beschränkter Untertanenverstand nicht versteht.«

Nicht lange danach griff Tschen Tschong Tschang den Dsai Yü tatsächlich in offener Audienzversammlung an, und der Herzog kam in seinem eigenen Palast zu Schaden30. Da seufzte der Herzog tief auf und sprach: »Weil ich nicht auf die Worte des Dschu Yü Yang gehört habe, darum bin ich in diese Not gekommen.«

Er hatte seine Macht und seinen Einfluß verloren, da war es einerlei, ob er es bereute, nicht auf die Worte des Dschu Yü Yang gehört zu haben oder nicht. Das kam daher, weil er nicht das festhielt, was man festhalten kann und muß, sondern das, worauf man sich nicht verlassen kann. Die Geschichte von den Dreifüßen von Dschou und ihren Bildern zeigt dieselben Grundsätze angewandt31. Diese Grundsätze sind für alle Handlungen eines Fürsten maßgebend.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 280-284.
Lizenz:

Buchempfehlung

Hoffmann, E. T. A.

Klein Zaches

Klein Zaches

Nachdem im Reich die Aufklärung eingeführt wurde ist die Poesie verboten und die Feen sind des Landes verwiesen. Darum versteckt sich die Fee Rosabelverde in einem Damenstift. Als sie dem häßlichen, mißgestalteten Bauernkind Zaches über das Haar streicht verleiht sie ihm damit die Eigenschaft, stets für einen hübschen und klugen Menschen gehalten zu werden, dem die Taten, die seine Zeitgenossen in seiner Gegenwart vollbringen, als seine eigenen angerechnet werden.

88 Seiten, 4.20 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon