III. Schwierigkeiten hinsichtlich der Identität demokritischer und epikureischer Naturphilosophie

[270] Außer den historischen Zeugnissen spricht vieles für die Identität demokritischer und epikureischer Physik. Die Prinzipien – Atome und Leere – sind unstreitig dieselben. Nur in einzelnen Bestimmungen scheint willkürliche, daher unwesentliche Verschiedenheit zu herrschen.

Allein so bleibt ein sonderbares, nicht zu lösendes Rätsel. Zwei Philosophen lehren ganz dieselbe Wissenschaft, ganz auf dieselbe Weise; aber – wie inkonsequent!- in allem stehen sie sich diametral entgegen, was Wahrheit, Gewißheit, Anwendung dieser Wissenschaft, was das Verhältnis von Gedanken und Wirklichkeit überhaupt betrifft. Ich sage, sie stehen sich diametral entgegen, und werde es jetzt zu beweisen suchen.

A. Das Urteil des Demokrit über Wahrheit und Gewißheit des menschlichen Wissens scheint schwer zu ermitteln. Es liegen widersprechende Stellen vor, oder vielmehr nicht die Stellen, sondern Demokrits Ansichten widersprechen sich. Denn Trendelenburgs Behauptung im Kommentar zur aristotelischen Psychologie, erst spätere Schriftsteller, nicht aber Aristoteles wisse von solchem Widerspruch, ist faktisch unrichtig. In der PsychologieA16 des Aristoteles heißt es nämlich: »Demokrit setzt Seele und Verstand als ein und dasselbe, denn das Phänomen sei das Wahre«, in der »Metaphysik« dagegen: »Demokrit behauptet, nichts sei wahr, oder uns sei es verborgen.« Widersprechen sich diese Stellen des Aristoteles nicht? Wenn das Phänomen das Wahre ist, wie kann das Wahre verborgen sein? Die Verborgenheit beginnt erst, wo sich Phänomen und Wahrheit trennen.A17 Diogenes Laertius aber berichtet, man habe Demokrit zu den Skeptikern gezählt. Es wird sein[270] Spruch angeführt: »In Wahrheit wissen wir nichts, denn im Abgrund des Brunnens liegt die Wahrheit.« Ähnliches findet sich bei Sextus Empiricus.

Diese skeptische, unsichere und innerlich sich widersprechende Ansicht des Demokrit ist nur weiterentwickelt in der Weise, wie das Verhältnis des Atoms und der sinnlich erscheinenden Welt bestimmt wird.

Einerseits kömmt die sinnliche Erscheinung nicht den Atomen selbst zu. Nicht objektive Erscheinung ist sie, sondern subjektiver Schein. »Die wahrhaften Prinzipien sind die Atome und das Leere; alles andere ist Meinung, Schein.« »Nur der Meinung nach ist das Kalte, der Meinung nach das Warme, in Wahrheit aber die Atome und das Leere.« Es wird daher in Wahrheit nicht eins aus den vielen Atomen, sondern »durch die Verbindung der Atome scheint jedes eins zu werden.« Durch die Vernunft zu schauen sind daher allein die Prinzipien, die schon wegen ihrer Kleinheit dem sinnlichen Auge unzugänglich sind; daher heißen sie sogar Ideen. Allein andrerseits ist die sinnliche Erscheinung das allein wahre Objekt, und die aisthêsis ist die phronêsis, dies Wahre aber ist wechselnd, unstet, Phänomen. Daß aber das Phänomen das Wahre sei, widerspricht sich. Es wird also bald die eine Seite, bald die andere zum Subjektiven und zum Objektiven gemacht. So scheint der Widerspruch auseinandergehalten, Indem er an zwei Welten verteilt wird. Demokrit macht daher die sinnliche Wirklichkeit zum subjektiven Schein; allein die Antinomie, aus der Welt der Objekte verbannt, existiert nun in seinem eigenen Selbstbewußtsein, in dem der Begriff des Atoms und die sinnliche Anschauung feindlich zusammentreffen.

Demokrit entrinnt also der Antinomie nicht. Sie zu erklären ist hier noch nicht der Ort. Genug, daß ihre Existenz nicht zu leugnen ist. Hören wir dagegen Epikur.

Der Weise, sagt er, verhält sich dogmatisch, nicht skeptisch. Ja, eben das ist sein Vorzug vor allen, daß er mit Überzeugung weiß. »Alle Sinne sind Herolde des Wahren.« »Nichts kann die sinnliche Wahrnehmung widerlegen; weder die gleichartige die gleichartige wegen der gleichen Giltigkeit, noch die ungleichartige die ungleichartige, denn sie urteilen nicht über dasselbe, noch der Begriff, denn der Begriff hängt ab von den sinnlichen Wahrnehmungen«, heißt es im Kanon. Während aber Demokrit die sinnliche Welt zum subjektiven Schein macht, macht sie Epikur zur objektiven Erscheinung. Und mit Bewußtsein unterscheidet er sich hierin; denn[271] er behauptet, dieselben Prinzipien zu teilen, nicht aber die sinnlichen Qualitäten zum Nur-Gemeinten zu machen.

War also einmal sinnliche Wahrnehmung das Kriterium des Epikur, entspricht ihr die objektive Erscheinung: so kann man nur als richtige Konsequenz betrachten, worüber Cicero die Achsel zuckt. »Die Sonne scheint dem Demokrit groß, weil er ein wissenschaftlicher und in der Geometrie vollendeter Mann ist; dem Epikur etwa von zwei Fuß Größe, denn er urteilt, sie sei so groß, als sie scheint

B. Diese Differenz in den theoretischen Urteilen des Demokrit und des Epikur über Sicherheit der Wissenschaft und Wahrheit ihrer Objekte verwirklicht sich in der disparaten wissenschaftlichen Energie und Praxis dieser Männer.

Demokrit, dem das Prinzip nicht in die Erscheinung tritt, ohne Wirklichkeit und Existenz bleibt, hat dagegen als reale und inhaltsvolle Welt die Welt der sinnlichen Wahrnehmung sich gegenüber. Sie ist zwar subjektiver Schein, allein eben dadurch vom Prinzip losgerissen, in ihrer selbständigen Wirklichkeit belassen; zugleich einziges reales Objekt, hat sie als solche Wert und Bedeutung. Demokrit wird daher in empirische Beobachtung getrieben. In der Philosophie unbefriedigt, wirft er sich dem positiven Wissen in die Arme. Wir haben schon gehört, daß Cicero ihn einen vir eruditus nennt. In der Physik, Ethik, Mathematik, in den enzyklischen Disziplinen, in jeder Kunst ist er bewandert. Schon der Bücherkatalog bei Diogenes Laertius zeugt für seine Gelehrsamkeit. Wie es aber der Charakter der Gelehrsamkeit ist, in die Breite zu gehen und zu sammeln und von außen zu suchen: so sehen wir den Demokrit die halbe Welt durchwandern, um Erfahrungen, Kenntnisse, Beobachtungen einzutauschen. »Ich«, rühmt er von sich selbst, »habe von meinen Zeitgenossen den größten Teil der Erde durchirrt, das Entlegenste durchforschend; und die meisten Himmelsstriche und Lande sah ich, und die meisten gelehrten Männer hörte ich; und in der Linienkomposition mit Beweis übertraf mich niemand, auch nicht der Ägypter sogenannte Arsepedonapten.«

Demetrius in den homônymois und Antisthenes in den diadochais erzählen, daß er gewandert sei nach Ägypten zu den Priestern, um Geometrie zu lernen, und zu den Chaldäern nach Persien und daß er gekommen zum Roten Meere. Einige behaupten, er sei auch zusammengetroffen mit den Gymnosophisten in Indien und habe Äthiopien betreten. Es ist einerseits[272] die Wissenslust, die ihm keine Ruhe läßt; es ist aber zugleich die Nichtbefriedigung im wahren, d.i. philosophischen Wissen, die ihn in die Weite treibt. Das Wissen, das er für wahr hält, ist inhaltslos; das Wissen, das ihm Inhalt gibt, ist ohne Wahrheit. Mag sie eine Fabel sein, aber eine wahre Fabel, weil sie das Widersprechende seines Wesens schildert, ist die Anekdote der Alten. Sich selbst habe Demokrit geblendet, damit das sinnliche Augenlicht nicht die Geistesschärfe verdunkle. Es ist derselbe Mann, der, wie Cicero sagt, die halbe WeltA18 durchwandert. Aber er hatte nicht gefunden, was er suchte.

Eine entgegengesetzte Gestalt erscheint uns in Epikur.

Epikur ist befriedigt und selig in der Philosophie. »Der Philosophie«, sagt er, »mußt du dienen, damit dir die wahre Freiheit zufalle. Nicht zu harren braucht der, der sich ihr unterwarf und übergab; sogleich wird er emanzipiert. Denn dies selbst, der Philosophie dienen, ist Freiheit.« »Weder der Jüngling«, lehrt er daher, »zögere zu philosophieren, noch lasse ab der Greis vom Philosophieren. Denn keiner ist zu unreif, keiner zu überreif, um an der Seele zu gesunden. Wer aber sagt, entweder noch nicht da sei die Zeit des Philosophierens oder vorübergegangen sei sie, der ist ähnlich dem, der behauptet, zur Glückseligkeit sei noch nicht die Stunde, oder sie sei nicht mehr.« Während Demokrit, von der Philosophie unbefriedigt, sich dem empirischen Wissen in die Arme wirft, verachtet Epikur die positiven Wissenschaften; denn nichts trügen sie bei zur wahren Vollendung. Ein Feind der Wissenschaft, ein Verächter der Grammatik wird er genannt. Unwissenheit selbst wird ihm vorgeworfen; »aber«, sagt ein Epikureer bei Cicero, »nicht Epikur war ohne Erudition, sondern diejenigen [sind] ungelehrt, die glauben, was dem Knaben Schande macht, nicht zu wissen, sei noch vom Greise herzusagen.«

Während aber Demokrit von ägyptischen Priestern, persischen Chaldäern und indischen Gymnosophisten zu lernen sucht, rühmt Epikur von sich, er habe keinen Lehrer gehabt, er sei Autodidakt. Einige, sagt er nach Seneca, ringen nach Wahrheit ohne jegliche Beihilfe. Unter diesen habe er sich selbst den Weg gebahnt. Und sie, die Autodidakten, lobt er am meisten. Die andern seien Köpfe zweiten Ranges. Während es den Demokrit in alle Weltgegenden treibt, verläßt Epikur kaum zwei- oder dreimal seinen Garten zu Athen und reist nach Jonien, nicht um Forschungen anzustellen, sondern um Freunde zu besuchen. Während endlichA19 Demokrit, am Wissen[273] verzweifelnd, sich selbst blendet, steigt Epikur, als er die Stunde des Todesnahen fühlt, in ein warmes Bad und begehrt reinen Wein und empfiehlt seinen Freunden, der Philosophie treu zu sein.

C. Die eben entwickelten Unterschiede sind nicht der zufälligen Individualität beider Philosophen zuzuschreiben; es sind zwei entgegengesetzte Richtungen, die sich verkörpern. Wir sehen als Differenz der praktischen Energie, was oben als Unterschied des theoretischen Bewußtseins sich ausdrückt.

Wir betrachten endlich die Reflexionsform, die die Beziehung des Gedankens auf das Sein, das Verhältnis derselben darstellt. In dem allgemeinen Verhältnisse, das der Philosoph der Welt und dem Gedanken zueinander gibt, verobjektiviert er sich nur, wie sein besonderes Bewußtsein sich zur realen Welt verhält.

Demokrit nun wendet als Reflexionsform der Wirklichkeit die Notwendigkeit an. Aristoteles sagt von ihm, er führe alles auf Notwendigkeit zurück. Diogenes Laertius berichtet, der Wirbel der Atome, aus dem alles entstehe, sei die demokritische Notwendigkeit. Genügender spricht hierüber der Auctor De placitis philosophorum: Die Notwendigkeit sei nach Demokrit das Schicksal und das Recht und die Vorsehung und Weltschöpferin. Die Substanz aber dieser Notwendigkeit sei die Antitypie und die Bewegung und der Schlag der Materie. Eine ähnliche Stelle findet sich in den physischen Eklogen des Stobäus und im 6ten Buch der Praeparatio evangelica des Eusebius. In den ethischen Eklogen des Stobäus ist folgende Sentenz des Demokrit aufbewahrt, die im 14ten Buch des Eusebius fast ebenso wiederholt wird, nämlich: Die Menschen fingierten sich das Scheinbild des Zufalls, – eine Manifestation ihrer eigenen Ratlosigkeit; denn mit einem starken Denken kämpfe der Zufall. Ebenso deutet Simplicius eine Stelle, in der Aristoteles von der alten Lehre spricht, die den Zufall aufhebt, auf den Demokrit.

DagegenA20 Epikur:

»Die Notwendigkeit, die von einigen als die Allherrscherin eingeführtA21 ist, ist nicht, sondern einiges ist zufällig, anderes hängt von unserer Willkür ab. Die Notwendigkeit ist nicht zu überreden, der Zufall dagegen unstet. Es wäre besser, dem Mythos über die Götter zu folgen, als Knecht zu sein der heimarmenê der Physiker. Denn jener läßt Hoffnung der Erbarmung wegen der Ehre der Götter, diese aber die unerbittliche Notwendigkeit. Der Zufall aber, nicht Gott, wie die Menge glaubt, ist anzunehmen.«[274] »Es ist ein Unglück, in der Notwendigkeit zu leben, aber in der Notwendigkeit zu leben, ist keine Notwendigkeit. Offen stehen überall zur Freiheit die Wege, viele, kurze, leichte. Danken wir daher Gott, daß niemand im Leben festgehalten werden kann. Zu bändigen die Notwendigkeit selbst, ist gestattet.«

Ähnliches spricht der Epikureer Vellejus bei Cicero über die stoische Philosophie: »Was soll man von einer Philosophie halten, welcher, wie alten und zwar ungelehrten Vetteln, alles durch das Fatum zu geschehen scheint? .... vom Epikur sind wir erlöst, in Freiheit gesetzt worden.«

So leugnet Epikur selbst das disjunktive Urteil, um keine Notwendigkeit anerkennen zu müssen.

Es wird zwar auch vom Demokrit behauptet, er habe den Zufall angewandt; allein von den beiden Stellen, die sich hierüber beim Simplicius finden, macht die eine die andere verdächtig, denn sie zeigt offenbar, daß nicht Demokrit die Kategorie des Zufalls gebraucht, sondern Simplicius sie ihm als Konsequenz beigelegt. Er sagt nämlich: Demokrit gebe von der Weltschöpfung im allgemeinen keinen Grund an; er scheine also den Zufall zum Grunde zu machen. Hier handelt es sich aber nicht um die Inhaltsbestimmung, sondern um die Form, die Demokrit mit Bewußtsein angewandt hat. Ähnlich verhält es sich mit dem Bericht des Eusebius: Demokrit habe den Zufall zum Herrscher des Allgemeinen und Göttlichen gemacht und behauptet, hier geschehe alles durch ihn, während er ihn vom menschlichen Leben und der empirischen Natur ferngehalten, seine Verkünder aber sinnlos gescholten habe.

Teils sehen wir hierin eine bloße Konsequenzmacherei des christlichen Bischofs Dionysius, teils, wo das Allgemeine und Göttliche anfängt, hört der demokritische Begriff der Notwendigkeit auf, vom Zufall verschieden zu sein.

Soviel ist also historisch sicher, Demokrit wendet die Notwendigkeit, Epikur den Zufall an; und zwar verwirft jeder die entgegengesetzte Ansicht mit polemischer Gereiztheit.

Die Hauptkonsequenz dieses Unterschiedes erscheint in der Erklärungsweise der einzelnen physischen Phänomene.

Die Notwendigkeit erscheint nämlich in der endlichen Natur als relative Notwendigkeit, als Determinismus. Die relative Notwendigkeit kann nur deduziert werden aus der realen Möglichkeit, d.h. es ist ein Umkreis von Bedingungen, Ursachen, Gründen usw., durch welche sich jene Notwendigkeit vermittelt. Die reale Möglichkeit istA22 die Explikation der relativen Notwendigkeit.[275] Und sie finden wir vom Demokrit angewandt. Wir führen einige Belege aus Simplicius an.

Wenn einer dürstet und trinkt und gesund wird: so wird Demokrit nicht den Zufall als die UrsacheA23 angeben, sondern das Dürsten. Denn wenn er auch bei der Weltschöpfung den Zufall zu gebrauchen schien: so behauptet er doch, daß dieser im einzelnen von nichts die Ursache sei, sondern führt auf andere Ursachen zurück. So sei z.B. das Graben die Ursache des Schatzfindens oder das Wachsen des Ölbaums.

Die Begeisterung und der Ernst, mit dem Demokrit jene Erklärungsweise in die Betrachtung der Natur einführt, die Wichtigkeit, die er der Begründungstendenz beilegt, spricht sich naivA24 in dem Bekenntnisse aus: »Ich will lieber eine neue Ätiologie finden als die persische Königswürde erlangen!«

Epikur steht dem Demokrit wiederum direkt gegenüber. Der Zufall ist eine Wirklichkeit, welche nur den Wert der Möglichkeit hat. Die abstrakte Möglichkeit aber ist gerade der Antipode der realen. Die letztere ist beschränkt in scharfen Grenzen, wie der Verstand; die erste schrankenlos, wie die Phantasie. Die reale Möglichkeit sucht die Notwendigkeit und Wirklichkeit ihres Objektes zu begründen; der abstrakten ist es nicht um das Objekt zu tun, das erklärt wird, sondern um das Subjekt, das erklärt. Es soll der Gegenstand nur möglich, denkbar sein. Was abstrakt möglich ist, was gedacht werden kann, das steht dem denkenden Subjekt nicht im Wege, ist ihm keine Grenze, kein Stein des Anstoßes. Ob diese Möglichkeit nun auch wirklich sei, ist gleichgiltig, denn das Interesse erstreckt sich hier nicht auf den Gegenstand als Gegenstand.

Epikur verfährt daher mit einer grenzenlosen Nonchalance in der Erklärung der einzelnen physischen Phänomene.

Näher wird dies aus dem Brief an den Pythokles erhellen, den wir später zu betrachten haben. Hier genüge es, auf sein Verhältnis zu den Meinungen früherer Physiker aufmerksam zu machen. Wo der Auctor De placitis philosophorum und Stobäus die verschiedenen Ansichten der Philosophen über die Substanz der Sterne, die Größe und Figur der Sonne und ähnliches anführen, heißt es immer vom Epikur: Er verwirft keine dieser Meinungen, alle könnten richtig sein, er halte sich am Möglichen. Ja, Epikur polemisiert sogar gegen die verständig bestimmende und eben daher einseitige Erklärungsweise aus realer Möglichkeit.

So sagt Seneca in seinen Quaestiones naturales: Epikur behauptet, alle[276] jene Ursachen könnten sein, und versucht dazu noch mehrere andere Erklärungen und tadelt diejenigen, die behaupten, irgendeine bestimmte von diesen finde statt, da es gewagt sei, über das, was nur aus Konjekturen zu folgern, apodiktisch zu urteilen.

Man sieht, es ist kein Interesse vorhanden, die Realgründe der Objekte zu untersuchen: Es handelt sich bloß um eine Beruhigung des erklärenden Subjekts. Indem alles Mögliche als möglich zugelassen wird, was dem Charakter der abstrakten Möglichkeit entspricht, wird offenbar der Zufall des Seins nur in den Zufall des Denkens übersetzt. Die einzige Regel, die Epikur vorschreibt, »nicht widersprechen dürfe die Erklärung der sinnlichen Wahrnehmung«, versteht sich von selbst; denn das Abstrakt-Mögliche besteht eben darin, frei vom Widerspruch zu sein, der also zu verhüten ist. Endlich gesteht Epikur, daß seine Erklärungsweise nur die Ataraxie des Selbstbewußtseins bezwecke, nicht die Naturerkenntnis an und für sich.

Wie ganz entgegengesetzt er sich also auch hier zu Demokrit verhalte, bedarf wohl keiner Ausführung mehr.

Wir sehen also beide Männer sich Schritt für Schritt entgegenstehn. Der eine ist Skeptiker, der andere Dogmatiker; der eine hält die sinnliche Welt für subjektiven Schein, der andere für objektive Erscheinung. Derjenige, der die sinnliche Welt für subjektiven Schein hält, legt sich auf empirische Naturwissenschaft und positive Kenntnisse und stellt die Unruhe der experimentierenden, überall lernenden, in die Weite schweifenden Beobachtung dar. Der andere, der die erscheinende Welt für real hält, verachtet die Empirie; die Ruhe des in sich befriedigten Denkens, die Selbständigkeit, die ex principio interno ihr Wissen schöpft, sind in ihm verkörpert. Aber noch höher steigt der Widerspruch. Der Skeptiker und Empiriker, der die sinnliche Natur für subjektiven Schein hält, betrachtet sie unter dem Gesichtspunkte der Notwendigkeit und sucht die reale Existenz der Dinge zu erklären und zu fassen. Der Philosoph und Dogmatiker dagegen, der die Erscheinung für real hält, sieht überall nur Zufall; und seine Erklärungsweise geht vielmehr dahin, alle objektive Realität der Natur aufzuheben. Es scheint eine gewisse Verkehrtheit in diesen Gegensätzen zu liegen.

Kaum aber kann man noch vermuten, daß diese Männer, in allem sich widersprechend, einer und derselben Lehre anhangen werden. Und doch scheinen sie aneinander gekettet.

Ihr Verhältnis im allgemeinen zu fassen, ist die Aufgabe des nächsten Abschnitts.A25[277]

A16

von Marx korrigiert aus: Physiologie

A17

dieser und der vorhergehende Satz von Marx eingefügt

A18

»halbe Welt« von Marx korrigiert aus: ganze Unendlichkeit

A19

nach »endlich« von Marx gestrichen: der vielgewanderte

A20

von Marx korrigiert aus: Hören wir dagegen den

A21

von Marx korrigiert aus: aufgeführt

A22

nach »ist« von Marx gestrichen: gleichsam

A23

in der Abschrift: Ursach

A24

nach »naiv« von Marx gestrichen: auch

A25

die im Inhaltsverzeichnis aufgeführten Kapitel IV und V sind in der vorliegenden Kopie nicht erhalten

Quelle:
Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Berlin 1968, Band 40, S. 270-278.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Hoffmann, E. T. A.

Nachtstücke

Nachtstücke

E.T.A. Hoffmanns zweiter Erzählzyklus versucht 1817 durch den Hinweis auf den »Verfasser der Fantasiestücke in Callots Manier« an den großen Erfolg des ersten anzuknüpfen. Die Nachtstücke thematisieren vor allem die dunkle Seite der Seele, das Unheimliche und das Grauenvolle. Diese acht Erzählungen sind enthalten: Der Sandmann, Ignaz Denner, Die Jesuiterkirche in G., Das Sanctus, Das öde Haus, Das Majorat, Das Gelübde, Das steinerne Herz

244 Seiten, 8.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.

442 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon