12. Vom Leiden Gottes

[80] Ein Lehrer spricht: Du reicher Gott, wie wohl wird mir, trägt meine Liebe Früchte dir!

Unser Herr spricht zu einer jeglichen liebenden Seele: »Ich bin euch Mensch gewesen, wenn ihr mir nicht Götter seid, so tut ihr mir unrecht. Mit meiner göttlichen Natur wohnte ich in eurer menschlichen Natur, so dass niemand meine göttliche Gewalt kannte und man mich wandeln sah wie einen andern Menschen. So sollt ihr euch mit eurer menschlichen Natur in meiner göttlichen Natur bergen, dass niemand eure menschliche Schwäche an euch erkenne und dass euer Leben zumal göttlich sei, dass man an euch nichts erkenne als Gott.« Und das geschieht nicht dadurch, dass wir süsse Worte und geistliche Gebärden annehmen und dass wir im Geruch der Heiligkeit stehen oder dass unser Name fern und weit getragen werde und wir von Gottes Freunden geliebt werden oder dass[80] wir von Gott so verwöhnt und verzärtelt sind, dass es uns vorkommt, Gott habe alle Kreaturen vergessen bis auf uns allein, und dass wir wähnen, was wir von Gott begehren, das sei jetzt alles geschehen. Nein, nicht also! Nicht das heischt Gott von uns; es steht ganz anders.

Er will, dass wir frei und unbewegt gefunden wer den, so man uns nachsagt, wir seien falsche und unwahrhafte Leute, und was man sonst von uns sprechen kann, um uns unsern guten Leumund zu nehmen, und nicht allein, dass man schlecht von uns spricht, sondern auch schlecht gegen uns handelt und uns die Hilfe entzieht, die wir für unsern Lebensbedarf nicht entbehren können, und nicht allein am Bedarf göttlicher Dinge, sondern uns auch an unserm Körper schädigt, dass wir krank werden oder sonst in schmerzliche Mühsal des Körpers verfallen, und wenn die Leute, während wir in allen unsern Werken das allerbeste tun, das wir ersinnen können, uns das zum allerbösesten kehren, das sie ersinnen können, und wenn wir das nicht allein von den Menschen erdulden, sondern auch von Gott, so dass er uns den Trost seiner Gegenwart entzieht und gerade so tut, als wäre eine Mauer zwischen uns und ihm aufgerichtet, und wenn er, falls wir mit unsrer Mühsal zu ihm kommen, um Trost und Hülfe zu suchen, sich dann[81] gegen uns benimmt, wie wenn er seine Augen vor uns schlösse, so dass er uns nicht sehen noch hören will und er uns allein stehen lässt im Kampf mit unsern Nöten, wie Christus von seinem Vater verlassen ward: sehet, dann sollten wir uns in seiner göttlichen Natur bergen, dass wir in unserer Trostlosigkeit so unerschüttert stünden, uns mit nichts anderm zu helfen als allein mit dem Worte, das Christus sprach: »Vater, all dein Wille werde an mir vollbracht.«

Gott ist ein so beschaffenes Wesen, dass man es am besten mit Nichts erkennt. Wieso mit Nichts? Dadurch, dass man alles Mittel abtut, aber nicht etwa bloss der Welt entsagen und. Tugend haben, sondern ich muss auch die Tugend lassen, wenn ich Gott unmittelbar sehen will; nicht so, dass ich der Tugend entsage, sondern die Tugend soll in mir wesenhaft wohnen und ich soll über der Tugend wohnen. Wenn so des Menschen Gedanken kein Ding mehr berühren kann, dann erst berührt er Gott. Ein heidnischer Meister sagt, dass die Natur über die Natur nichts vermag. Daher kann Gott von keiner Kreatur erkannt werden. Soll er erkannt werden, so muss das in einem Licht über der Natur geschehen.

Die Meister haben eine Frage, woher das komme, wenn Gott die Seele über sie selbst und[82] über alle Kreaturen erhebe und er sie zu sich selbst heimgeführt habe, warum er denn den Leib nicht auf eine höhere Stufe hebe, so dass er irdischer Dinge nicht bedürfte? Dies beantwortet ein Meister – ich glaube, es ist Sankt Augustin – und sagt folgendes: Wenn die Seele zur Vereinigung mit Gott gelangt, erst dann ist der Leib vollkommen dazu gelangt, dass er alle Dinge zu Gottes Ehre geniessen kann. Denn um des Menschen willen sind alle Kreaturen ausgeflossen, und was der Leib vernünftig von den Kreaturen geniessen kann, das ist für die Seele kein Abfall, sondern eine Erhöhung ihrer Würde, denn die Kreatur könnte keine edlere Mündung finden, um wieder zu ihrem Ursprung zu gelangen, als den rechten Menschen, der einen Augenblick seiner Seele gestattet, dass er in die Vereinigung mit Gott hinaufgezogen wird. Denn zwischen Gott und der Seele ist dann kein Hindernis, und sofern die Seele Gott in die Wüste der Gottheit folgt, sofern folgt der Leib dem lieben Christus in die Wüste der freiwilligen Armut, und wie die Seele mit der Gottheit vereint ist, so ist der Leib mit der Wirkung wahrer Tugend in Christus vereint. So kann der himmlische Vater wohl sprechen: »Dies ist mein lieber Sohn, in dem ich mir selber wohl gefalle,« denn er hat nicht allein in die Seele geboren seinen[83] eingeborenen Sohn, nein, er hat sie selbst seinem eingeborenen Sohn geboren.

Wohlauf, aus allertiefstem Herzen! Mensch, was kann dir hart oder bitter zu leiden sein, wenn du recht betrachtest, dass der, der da in der Form Gottes und im Tage seiner Ewigkeit im Glänze der Heiligen war, und der zuvor geboren war als ein Strahl und eine Substanz Gottes, dass der in den Kerker und den Leim deiner beschmeckenden Natur kommt, die so unrein ist, dass alle Dinge, so rein sie sich ihr nahen, in ihr stinkend und unrein werden, und dass er doch um deinetwillen gänzlich hineingesteckt werden woll te? Was gibt es, das dir nicht süss sein sollte zu leiden, wenn du die Bitternis deines Herrn und Gottes zusammenliest und wenn du zurückdenkst an all die Bitternis und all die Schmach, die auf ihn fiel? Welche Schmach und Schande er litt von den Fürsten und von den Rittern und von den bösen Knechten und von denen, die den Weg vor dem Kreuze auf und nieder gingen? Wie die Klarheit des ewigen Lichtes verspieen und verspottet und verhöhnt ward? Fürwahr, welch eine grosse schuldlose Barmherzigkeit und wohlbewährte Liebe, die mir an keinem Orte so vollkommen gewährt ward, als an dem Orte, wo die Kraft der Liebe aus seinem Herzen brach! Darum mache dir ein[84] Bündel aus allerhand Bitternis deines Herrn und Gottes und lass es allezeit zwischen deinen Brüsten wohnen, und sieh seine Tugend an und beschaue sie, wie fördersam er dein Heil in allen seinen Werken bedacht hat, und gib wohl acht, dass du ihm mit derselben Münze vergiltst seinen schändlichen, schmachvollen Tod und seine schmerzhafte Natur, mit der er ohne Schuld für deine Schuld gelitten hat, als ob es seine eigene Schuld wäre, wie er selbst in dem Propheten von seinem Schmerze spricht, indem er sagt: »Seht, das leide ich um meiner Verschuldung willen,« und wo er von der Frucht seiner Werke spricht, da sagte er: »Seht, diesen Reichtum sollt ihr besitzen für eure Werke,« und nennt unsre Sünde seine Sünde und sein Werk unsere Werke, denn er hat unsere Sünde gutgemacht, als ob er sie selbst getan hätte, und wir besitzen den Lohn seiner Werke, gerade als ob wir sie gewirkt hätten. Und dies soll unsere Mühsal gering machen, denn der gute Ritter klagt nicht um seine Wunden, wenn er den König ansieht, der mit ihm verwundet ist. Er bietet uns einen Trank, den er zuvor getrunken hat. Er schickt uns nichts, was er nicht vorher getan oder gelitten hätte. Darum sollen wir grosse Liebe zum Leiden haben, denn Gott hat nie etwas anderes getan, solange er auf Erden[85] war. Dass wir so unsre menschliche Natur und all unsre Schwäche in göttliche Natur verwandeln und verlieren, dass an uns nichts gefunden werde als lauter Gott, das walte Gott. Amen.[86]

Quelle:
Meister Eckharts mystische Schriften. Berlin 1903, S. 80-87.
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