Von den Städten, insbesondere von Amaurotum

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Wer eine Stadt kennt, kennt die andern alle, so ähnlich sind sie untereinander, sofern nicht der Charakter der Oertlichkeit eine Aenderung bedingt.

Ich werde daher eine beliebige schildern, es kommt wirklich nicht besonders darauf an, welche. Aber welche lieber als Amaurotum? Denn sie ist die angesehenste, so daß ihr die andern den Vorrang des Senatssitzes überlassen; auch ist mir keine besser bekannt, insofern ich fünf Jahre ununterbrochen dort gelebt habe.

Amaurotum liegt also an einer sanften Berglehne und ist von Gestalt beinahe viereckig. Ihre Breite beginnt etwas unterhalb des Gipfels des Hügels und erstreckt sich zweitausend Schritt am Flusse Anydrus hin; den Fluß entlang beträgt die Länge etwas mehr.

Der Anydrus entspringt achtzig Meilen oberhalb Amaurotums aus einer mäßigen Quelle, aber durch den Zufluß anderer Flüsse, darunter zweier ziemlich großen, verstärkt, wird er vor der Stadt fünfhundert Schritt breit, und nach einem weiteren Laufe von sechzig Meilen fällt er ins Weltmeer. Wenn bei der Fluth das Meer gegen dreißig Meilen weit eindringt, so erfüllt es das ganze Bett des Anydrus mit seinen Wellen und drängt das Flußwasser zurück. Da wird sein Wasser eine ziemliche Strecke mit Salzgeschmack verdorben, sodann wird der Fluß allmählich wieder süß, und durchfließt klar die Stadt; wenn dann die Ebbe eintritt, dringt umgekehrt sein unvermischtes reines Wasser fast bis zur Mündung vor. Die Stadt ist mit dem gegenüberliegenden Ufer durch eine herrlich gewölbte Brücke von[73] Steinwerk, nicht etwa bloß von hölzernen Pfeilern oder Pflöcken verbunden in jenem Stadttheile, der am weitesten vom Meere entfernt ist, damit die Schiffe dort ganz ungehindert vorüberfahren können.

Es gibt übrigens noch einen zweiten Fluß, nicht sehr groß, aber von sanftem und anmuthigem Lauf. Er entspringt demselben Berge, auf dem die Stadt liegt, fließt mitten durch diese und fällt in den Anydrus. Quelle und Ursprung dieses Flusses haben die Amaurotaner, weil sie etwas außerhalb der Stadt liegen, mit Befestigungen eingefaßt und so mit der Stadt verbunden, damit, wenn eine feindliche Macht eindränge, sie das Wasser in derselben weder auffangen, noch ableiten, noch verderben könne. Von da wird das Wasser in aus Backsteinen gemauerten Kanälen in verschiedenen Richtungen in die unteren Theile der Stadt geleitet, und wo das der örtlichen Beschaffenheit nach nicht möglich ist, wird das Regenwasser in geräumigen Cisternen gesammelt und leistet denselben Dienst.

Eine hohe und breite Mauer mit zahlreichen Thürmen, Basteien und Bollwerken umgibt die Stadt; trockene aber tiefe und breite Gräben, mit Zäunen von Dorngestrüpp umwegsam gemacht, ziehen sich von drei Seiten um die Stadtmauern, auf der vierten versieht der Fluß die Stelle des Grabens.

Die Straßen sind nicht allein zum Fahren, sondern auch die Winde abzuhalten geeignet; die Gebäude sind schmuck und bilden mit der Vorderfront eine zusammenhängende Reihe in einer Straßenbreite von fünfzehn Fuß.

An der Hinterseite der Häuser liegen große Gärten, die ganze Länge der Straße entlang, an die wieder die Rückseite anderer Straßen stößt. Kein Haus, das nicht, wie vorneheraus die Straßenthür, so nach hinten ein Pförtchen in den Garten hätte. Diese Thüren sind zweiflügelig, mit einem leichten Druck der Hand zu öffnen, und gehen dann auch von selber wieder zu und lassen Jedermann ein, denn Privateigenthum gibt es ja nicht. Denn selbst die Häuser vertauschen sie alle zehn Jahre durchs Loos.

Diese Gärten halten sie hoch. Darin haben sie Weinberge, Früchte, Kräuter, Blumen, von solcher Pracht und Pflege, daß[74] ich nirgends mehr Ueppigkeit und Zier gesehen habe. Ihr Eifer in dieser Art Gärtnerei entspringt nicht nur bloß dem Vergnügen, sondern auch einem Wettstreite der Straßen untereinander in Bezug auf die Pflege der einzelnen Gärten und sicherlich ist in der ganzen Stadt nichts Nützlicheres und Angenehmeres für die Bürger zu finden. Der Gründer der Stadt scheint denn auch auf nichts mehr Sorgfalt verwendet zu haben, als auf diese Gärten. Und richtig heißt es, Utopus selbst habe von allem Anfang diese Gestalt und Anlage der Stadt vorgesehen. Aber die Ausschmückung und den weiteren Ausbau, wozu, wie er voraussah, ein Menschengeschlecht nicht genügen würde, hat er den Nachkommen überlassen.

Und so steht in ihren Annalen geschrieben, die sie von der ersten Besitzergreifung der Insel an, die Geschichte von siebzehnhundertundsechzig Jahren umfassend, fleißig und gewissenhaft zusammengestellt aufbewahren, daß die Häuser im Anfang niedrig, wie Baracken und Schäferhütten, waren, aus beliebigem Holze errichtet, die Wände mit Lehm verschmiert, die Dächer spitz zulaufend und mit Stroh gedeckt.

Heutzutage ist jedes Haus elegant mit drei Stockwerken gebaut, die Außenseite der Mauer entweder von Kieselstein, Cement oder gebrannten Steinen, auf der Innenseite mit Bruchstein ausgekleidet. Die Dächer sind flach und werden mit einer Kalkmasse belegt, der das Feuer nichts anhaben kann und die gegen die Unbilden des Wetters sich widerstandsfähiger als Blei erweist. Den Wind halten sie durch Glas ab (dessen Gebrauch ihnen ganz geläufig ist). Doch gibt es auch Fenster von sehr dünner, mit klarem Oel oder Bernstein getränkter Leinwand, was den doppelten Vortheil hat, daß mehr Licht und weniger Wind durchgelassen wird.

Quelle:
Thomas Morus: Utopia. München 1896, S. 72-75.
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