1. Aporieen inbetreff des Nichtseins.

[284] Die Untersuchung über das Nichtsein geht ohne Umschweife sogleich auf den Hauptpunkt los. Ein Nichtsein schlechthin würde sich überhaupt nicht aussprechen lassen (vgl. Parm. 161 A). Es dürfte nicht von irgend etwas, das ist, also überhaupt nicht von irgend Etwas ausgesagt werden, denn »Etwas« besagt schon, was ist; ein Etwas ohne Sein läßt sich gar nicht denken. Es besagt ferner: Eines. Dies wird, etwas äußerlich, durch Hinweis auf den Gebrauch des Singulars begründet; ferner dadurch,[284] daß, was nicht Eins, eben Keins, also gar nichts wäre. Vielmehr, man dürfte auch nicht einmal sagen, wer es aussage, sage nichts aus, sondern, er sage überhaupt nicht aus. – Zahl überhaupt läßt sich nur aussagen von dem, was ist, nicht von dem, was nicht ist. Man kann aber das Nichtseiende, da es notwendig entweder im Singular oder im Plural ausgesagt wird, ohne Zahl überhaupt nicht mit dem Munde aussprechen noch in Gedanken fassen.

Also kann man das Nichtseiende, an sich oder schlechthin verstanden (auto kath' hauto), weder gültig aussprechen noch sagen noch denken, es ist unausdenkbar, unaussprechlich, nicht in Worte zu fassen, begriffslos, ein Unbegriff (alogon). Und dabei ist noch der ärgerlichste Widerspruch der, daß eben, indem man vom Nichtseienden alles dies aussagt (ihm sei weder Einheit noch Mehrheit beizulegen, es sei undenkbar, unaussprechlich usw.), man ihm erstens Zahl beilegt (denn es wird doch von ihm, in der Einzahl gesprochen), sodann Sein (denn man sagt doch, es sei undenkbar usw.). Man dürfte es garnicht einmal Es nennen, denn schon das ist ein Singular, der ihm wenigstens die positive Bestimmung der Einheit schon beilegen würde.

Daher wird man uns, wie wir uns auch über dies Nichtsein ausdrücken mögen, immer leicht des Widerspruchs gegen uns selbst überführen. Sagen wir, die Kunst des Sophisten bestehe darin, vom Wahren ein falsches Bild zu geben, so wird er, ganz mit Recht, erst eine Definition des Bildes von uns verlangen, jeder Versuch aber, es zu definieren, wird an diesem Begriff jene seltsame Verflechtung des Nichtseins mit dem Sein herausstellen: indem es nicht das Dargestellte ist, ist es, nichtwirklicher (nichtseiender) Weise, das Bild von dem, was ist. Oder wenn wir sagen, daß er durch Trugbilder täusche, d.h. unsre Seele Falsches (d.h. das Gegenteil dessen was ist) vorstellen mache, ja wenn man überhaupt einräumt, es gebe ein Irren, so besagt das, es gebe eine Aussage, die von dem, was ist, aussagt, es sei nicht, von dem, was nicht ist, es sei; damit aber würde man einräumen, daß in Meinung und Aussage der Widerspruch: das Sein des Nichtseins, doch statthabe, der nach der vorigen Beweisführung durchaus nicht sollte statthaben können.

Indessen muß man wohl, trotz »Vater PARMENIDES«, der das Gegenteil stets, in Prosa und in Versen, eingeschärft hat, sich entschließen zu erweisen, daß gewissermaßen doch das Nichtseiende sei und das Seiende nicht sei (241 D). –[285] Hierbei wurde das Sein selbst noch als unfraglich vorausgesetzt. Der zweite Teil der kritischen Erörterung wird aber zeigen, daß dieser Begriff nicht minderen Schwierigkeiten unterliegt als der des Nichtseins.

Diese Kritik des Begriffs des Nichtseins richtet sich einerseits, in höchster Ironie, gegen den Sophisten, der diesen Begriff überhaupt zunichte gemacht glaubt, wenn er zeigt, daß das Nichtsein im absoluten Sinne (der eigentlich gar kein Sinn ist) allerdings auf jede Weise unmöglich ist. Andrerseits aber und ganz ohne Ironie richtet sich die Kritik gegen die These des Parmenides: Nur das Sein ist, das Nichtsein ist schlechthin nicht, ist unausdenkbar, unsagbar. Diese Behauptung erweist sich in sich widersprechend, denn schon indem man von ihm aussagt, es sei unaussagbar, widerlegt man durch die Tat eben diese Aussage, denn man setzt es dabei gleichwohl im Gedanken, als Etwas, das doch irgendwie sei. PARMENIDES hatte begriffen, daß Sein der Allgemeinausdruck der Setzung im Denken ist; er hatte nicht begriffen, daß die Verneinung, das Nichtsein, eine nicht minder wesentliche Art der Setzung im Denken ist. Dieser allgemeine Begriff des Seins wird hier durchaus vorausgesetzt: Alles, was nur überhaupt, als Etwas, als Eines, ja als Es (auto) oder als was auch immer, ausgesagt wird, ist schon kraft und im Sinne dieser Aussage. So ist die Zahl, denn ohne Zahl läßt sich nichts »mit dem Munde aussprechen oder in Gedanken fassen«. So aber ist auch das Nichtsein, sofern es sich doch aussprechen und denken läßt; sofern es doch gesetzt, und Vielerlei von ihm zutreffend ausgesagt wird. Der positive Schluß läßt sich voraus absehen; es ist kein andrer, als den wir aus dem Parmenides schon kennen: Auch das Nichtsein ist gewissermaßen, Sein und Nichtsein also schließen sich nicht schlechthin aus, sind vielmehr, als ursprüngliche Denkfunktionen, wesentlich auf einander hingewiesen, sie setzen sich gegenseitig.

Die endgültige Feststellung über das Nichtsein wird aber vielmehr vom positiven Begriff des Seins ausgehen müssen. Daher muß sich die Erörterung, vorerst in gleicher, kritischer Richtung, nunmehr diesem zuwenden.

Quelle:
Paul Natorp: Platos Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus. Leipzig 21921, S. 284-286.
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