4. Möglichkeit des Irrtums und Scheins.

[309] Mit der Feststellung des Begriffs des Nichtseins ist das stärkste Bollwerk (261 C), hinter dem der Sophist sich verschanzt hatte, genommen; so darf man hoffen seiner endlich habhaft zu werden. Es kommt nur noch an auf den Beweis der Möglichkeit, Falsches auszusagen, das heißt auszusagen, was nicht ist, also auf die Verflechtung des Nichtseins mit der Aussage oder dem Urteil.

Das Urteil wird, allerdings zu sehr im bloßen Hinblick auf die grammatische Form des Satzes, erklärt als Verknüpfung (symplekein, plegma, 262 D) oder Zusammensetzung (syntheis E, synthesis, 263 D) von Nomen und Verbum, von welchen das Letztere die Tätigkeit (praxis), das Erstere das Ding als das Tätige (pragma als pratton) bedeute. Denn das seien die einzigen Arten von »Kundgebungen durch die Sprache«, die sich auf ein Sein (ousia) beziehen (261 E – 262 E). Und zwar wird ein Sein (Stattfinden) von etwas, das ist oder nicht ist (d.h. des im positiven oder negativen Sinne Behaupteten) erst voll bezeichnet durch eine Verknüpfung von Nomen und Verbum, nicht durch bloße aneinandergereihte Nomina oder Verba. Da nun die Aussage des positiven oder negativen Seins das Urteil ausmacht, so ist also dessen wesentlicher Faktor nicht die Tätigkeit noch das Subjekt als Täter, sondern die Verknüpfung beider in einer Aussage.

Es hätte nahe gelegen, diese Verknüpfung zurückzuführen auf die allgemeine Verknüpfung der Begriffe, die ja als konstituierender Faktor des Logos, des logischen Sinns der Aussage, also des Urteils bereits festgestellt wurde. Daraus hätte dann erst abgeleitet werden sollen, daß der eine der verknüpften Termini, als Subjekt (hypothemenos, 251 B), den Ausgangs-oder[309] Bezugspunkt des Urteils (so wie es hier heißt, das Urteil sei von etwas, tinos, 262 E, also das Subjekt das, wovon geurteilt wird), der andere Terminus, als Prädikat, das was von jenem geurteilt, d.h. in positiver oder negativer Beziehung auf es durch das Urteil erst gesetzt wird, und etwa die Kopula (es ist oder ist nicht) diese Beziehung selbst und damit die Seinsbedeutung des Ausgesagten, das Stattfinden der Verknüpfung vertritt. Das »Tun« bedarf wenigstens einer sehr weiten Auslegung, wenn es wirklich alle möglichen Bedeutungen der Prädikation umfassen soll. Nach dem oben (S. 303) Gesagten hätte man eher erwartet, daß im Urteil, statt der Praxis, die Poiesis sich ausspreche. Die »Tat« in diesem Sinne fiele freilich nicht dem Subjekt besonders zu, auch nicht dem Prädikat, sondern sie würde, frei schwebend über beiden, die Wechselbeziehung beider, also die »Knüpfung« (plegma, synthesis, s. o.) des Prädikats an das Subjekt, die zugleich Unterstellung (auch in diesem Sinne hypothesis) des Subjekts unter das Prädikat ist, und zwar gemäß den Urknüpfungen der Kategorieen (vgl. desmos 253 A), begründen. Was PLATO hier im Auge hat, ist aber vielmehr, daß im (jedenfalls »synthetischen«) Urteil die Setzung naturgemäß von der »Grundsetzung«, also dem Subjekt ausgeht. Dann verlegt sich in wohl verständlicher Übertragung der (ja auch von KANT stark hervorgehobene) Charakter des Urteils als »Handlung« zunächst in das Subjekt, von dem erst die Handlung des Setzens aufs Prädikat hinüberwirkt. Und so versteht sich am Ende der Ausdruck des Verhältnisses von Subjekt und Prädikat im Urteil als des des Täters zur Tat. –

Wenn aber schon hier eine genügend radikale Ableitung vermißt werden kann, die indessen aus der vorangeschickten Grundlegung dem Kern der Sache nach gegeben ist; so kann die nun folgende Erklärung des Falschurteilens den Kern des Problems ganz zu verfehlen scheinen. Eine Aussage sei wahr, sofern sie von dem, was ist, aussage, daß es ist, falsch, wenn sie von dem, was nicht ist, also, zufolge der Erklärung des Nichtseins als Andersseins, von etwas Anderm als was ist, aussage, daß es sei. Nun ist bewiesen, daß es das Nichtsein (im Sinne des Andersseins) gibt, also gibt es die falsche Aussage (263 B). – Gewiß ist der Begriff des Andersseins eine Bedingung dafür, daß man Andres als das Wahre aussagen kann. Aber diese Bedingung genügt doch nicht das Falschurteilen zu erklären. Es wird dadurch gar nicht erklärt, inwiefern die Aussage,[310] es sei anders, sich an die Stelle der Aussage, es sei so, schiebt, oder umgekehrt; wiefern nicht bloß überhaupt Etwas, das nicht ist, d.h. etwas von dem, was ist, Verschiedenes, sondern dies Verschiedene als Dasselbe, dies Nichtseiende als seiend ausgesagt wird; wie doch PLATO selbst (263 D) das Problem viel richtiger formuliert. Das was anders ist, erwies sich ja gerade als ebenso wahrhaft seiend wie das, was so und so ist; sollte also falsch Aussagen nur anders Aussagen bedeuten, so würde es auch etwas aussagen, das wahrhaft ist. Also erklärt das durch die vorige Deduktion erwiesene Sein des Nichtseins nicht die falsche Aussage. Eher könnte die falsche Aussage scheinen etwas auszusagen, was in keiner Weise ist. Dann schiene sie aber vorauszusetzen, daß es jenes absolute Nichtsein gäbe, von dem doch bewiesen wurde, daß es gar nicht stattfinden kann, daß es überhaupt keines Begriffs fähig ist. Dann könnte es also wiederum kein Falschurteilen geben.

Um das Problem im Einklang mit PLATOS Voraussetzungen richtig zu lösen, müßte man davon ausgehen, daß das Scheinen in der Tat ein relatives Sein bedeutet, das subjektiv für den Urteilenden wirklich stattfindet. In diesem Sinne ist oder enthält in der Tat der Schein und Irrtum stets etwas Wahrhaftes, Positives. Darin liegt aber eben nicht die Falschheit des Urteils. Sondern indem die bloß beziehentliche Geltung des Ausgesagten nicht erkannt und daher das wahrhafte Sein des Erscheinenden ohne die einschränkende Bedingung, unter der allein es ein wahrhaftes ist, behauptet wird, wird dann in einer neuen, nicht auf die fragliche Beziehung beschränkten, sondern darüber hinausblickenden Betrachtung das vorige Urteil für irrig erkannt, das heißt als nur in einer vorher unerkannten Einschränkung zutreffend und von dem, was, sei es überhaupt uneingeschränkt oder doch nicht in dieser Einschränkung von der Sache auszusagen ist, verschieden. So heißt in der Tat falsch Urteilen nur anders Urteilen, und das falsche Urteil ist so gut d.h. findet statt, gilt sogar in gehöriger, nur vom Urteilenden nicht erkannter Einschränkung ebensowohl wie das gegenüberstehende wahre Urteil.

Diese Auflösung des Problems darf man in den letzten Teilen des Dialogs Parmenides wenigstens angelegt finden, dessen letzte Tiefen also der Sophist in dieser Frage nicht ganz wieder erreicht. Immerhin nähert sich dieser Auflösung, was schließlich noch von dem soeben schon von uns verwendeten Begriff[311] des Erscheinens festgestellt wird. Von der Aussage nämlich, dem Logos, wird der Übergang gemacht zunächst zum Urteil, doxa, welches ganz nach dem Theaetet (189 f.) erklärt wird: Denken (dianoia) ist ein innerer, lautloser Dialog in der Seele, und dessen Abschluß (apoteleutêsis) in einer Bejahung oder Verneinung heißt doxa (264 A); was hier wie Theaetet 187 A (oben S. 113) nur durch »Urteil« wiedergegeben werden kann. Erscheinung aber (phantasia, phainetai ho legomen, 264 A B) heißt dasselbe seelische Erlebnis (das Urteil), wenn es nicht von selbst aus dem eignen seelischen Zusammenhang aufsteigt, sondern durch Vermittlung einer Wahrnehmung sich einstellt. Somit ist das Erscheinen allerdings ein Urteilsakt, der aber sich einstellt, vermittelt oder veranlaßt durch eine Wahrnehmung. Es ist ein Urteil über das Wahrgenommene, nämlich daß es sich mir jetzt so und nicht anders darstellt. Dies ist nun ein unzweifelhaft wirkliches Erlebnis (pathos) in der Seele, und die Aussage wenigstens, die es nur als solches Erlebnis, d.i. nur als Erscheinen und nicht als Sein aussagen würde, wäre eine vollkommen wahre Aussage. Wird andrerseits das Erscheinende nicht als etwas, daß bloß erscheine, ausgesagt, sondern als etwas, das sei, so ist doch selbst dann der ganze positive Gehalt der Aussage wahr, und die Falschheit liegt allein in der Nichterkenntnis der Einschränkung, in der allein sie wahr ist. Also beruht das Fehlurteil in diesem Fall nicht auf dem unmöglichen Erkennen von etwas, das schlechthin nicht ist, sondern, erstens, auf positiver Erkenntnis von etwas relativ Wahrem und Wirklichem, zweitens, auf Nichterkenntnis der bestimmten Relation, in der allein es wahr und wirklich ist. Es bedürfte nur der leicht zu begründenden Verallgemeinerung auf das Fehlurteil überhaupt, so erhielte man die obige, richtigere Auflösung des Problems.

Quelle:
Paul Natorp: Platos Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus. Leipzig 21921, S. 309-312.
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