1. Logik und Psychologie.

[390] Es kann nicht wohl verkannt werden, daß die Beweistheorie der Analytiken in weitem Umfang, wenn auch nicht eingeständlich, doch tatsächlich auf den Errungenschaften PLATOS fußt und weiterbaut. Einen Augenblick könnte man glauben nichts als eine recht genaue Ausarbeitung der von PLATO besonders[390] im Phaedo aufgestellten Grundsätze deduktiver Methode vor sich zu haben.

ARISTOTELES teilt ganz das platonische Ideal der deduktiven Begründung der Erkenntnis. Er wird nicht müde, Gründe, Prinzipien, Anfänge, erste Sätze (aitiai, archai, prôta) zu fordern. Sie sind das »an sich« Frühere, »an sich« Gewissere gegenüber den daraus abzuleitenden, besonderen Erkenntnissen. Und die Deduktion muß zurückgehn bis auf die schlechthin ersten, voraussetzungslosen, »durch sich selbst gewissen« Anfänge, die »wissenschaftlichen Prinzipien« (epistêmonikai archai, Top. I 1, 100 b 18), wie er sie einmal, scheinbar ganz in platonischem Geist, genannt hat. Man wird fragen: Was will denn PLATO, was will überhaupt die kritische oder genetische Ansicht der Erkenntnis andres, was kann sie andres wollen?

Aber die Anerkennung des Rationalismus – hier noch ganz abgesehen von der Frage, ob ARISTOTELES diesem Rationalismus durchweg treu bleibt und nicht in die entgegengesetzte, sensualistische Ansicht vielfältig wieder zurückfällt – bedeutet nicht auch schon die Anerkennung des Kritizismus. Eine dogmatische Auffassung der Erkenntnis ist mit dem Rationalismus an sich verträglich, historisch sogar meist mit ihm zusammengegangen. Die Dinge haben ihre Prinzipien; in den Dingen selbst findet das Verhältnis des Prinzips und des vom Prinzip Abhängigen statt. Das Sein selbst unterliegt gewissen fundamentalen, denkgemäßen Bestimmungen, die durch Abstraktion aus dem Gegebenen gewonnen, und nur dann vom reinen Verstand als denkgemäß ja denknotwendig eingesehen werden. So wird die Erkenntnis der Prinzipien zum Prinzip der Erkenntnis für alles Weitere. Und eben indem wir die Prinzipien erkennen, erkennen wir etwas von den Dingen an sich selbst. Die Erkenntnis jeder Sache beruht auf der Erkenntnis ihres Prinzips; so die Erkenntnis der Natur auf der der reinen, rationalen (denkgemäßen und denknotwendigen) Prinzipien, auf denen Natur selbst beruht, durch deren Heraushebung sich in der Physik etwa ein allgemeiner rationaler Teil (»Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft«, wie BRANDIS es zutreffend genannt hat) abgrenzt; und so weiterhin, als letzte Grundwissenschaft, die von den Prinzipien des Seins überhaupt, des »Seienden als seiend«. Denn, was sachlich das Erste, muß es auch in der vollkommen sachgemäßen Erkenntnis sein, und das ist die wissenschaftliche. Diese Ansicht ist rationalistisch, aber sie bleibt dabei vollkommen dogmatisch.[391]

ARISTOTELES hat nicht unterlassen, die Frage ausdrücklich aufzuwerfen, ob es Sache derselben Wissenschaft sei, die ersten Prinzipien des Seins oder der Substanz, und, die Prinzipien des Beweisens, den Satz des Widerspruchs mit seinen Zusätzen, zu behandeln (Metaph. III 1, 995 b 3). Die Antwort (IV 3) lautet: Ja, weil die letzten Grundsätze der Erkenntnis eben die sein müssen, die vom Seienden als solchem gelten.

Das möchte zunächst noch die mit dem Kritizismus nicht streitende Deutung zuzulassen scheinen: weil der Gegenstand doch in der Erkenntnis und für sie, den eignen Gesetzen der Erkenntnis gemäß gedacht werden müsse, so seien also die ersten Gesetze der Erkenntnis auch die ersten Gesetze für den Gegenstand, als Gegenstand der Erkenntnis überhaupt. Auch scheint ARISTOTELES selbst sich dieser Auffassung einen Augenblick zu nähern, wenn er den letztentscheidenden Grund der unverbrüchlichen Geltung des Identitätssatzes darin findet, daß er eine Voraussetzung alles Verstehens ausspricht (1005 b 15-17). Scheint nicht gleich hier der Streit zwischen Kritizismus und Dogmatismus ein bloßer Wortstreit zu sein, da doch auch der Kritizist nicht in Abrede stellt, daß Erkenntnis sich ihrem Begriff nach auf den Gegenstand bezieht, also, Prinzipien der Erkenntnis aufstellen zu wollen, die nicht auch Prinzipien für den Gegenstand der Erkenntis wären, widersinnig wäre?

In der Tat nicht hier finden wir den entscheidenden Beweis des Dogmatismus der aristotelischen Beweistheorie. Sondern er liegt in Folgendem. Letzte Obersätze zur Deduktion werden gefordert. Warum? Weil sonst der Beweis ins Unendliche ginge, also nichts bewiesen wäre.

Die ständig wiederkehrende Formel: »Das Unendliche lässt sich nicht zu Ende bringen«, ist bei ARISTOTELES, man darf sagen, überall, wo sie nur auftritt, das sichere Kennzeichen des Dogmatismus. Sein Beweis der Substanz, des geschlossenen Seins überhaupt, ist stets dieser. Und diese dogmatische Bedeutung hat der Satz schon in seiner Beweistheorie.

Zwar ist unzweifelhaft richtig: der Ausgangspunkt für das Denken muß dem Denken selbst feststehn; es muß bei einem bestimmten Punkte einsetzen, sonst könnte es überhaupt nicht beginnen. Es ist ebenso zweifellos gefordert, daß es beginne mit dem, was ein wahrer Anfang, was für das Denken selbst wirklich fundamental, voraussetzungslos, von einem nicht zu überbietenden Charakter der Ursprünglichkeit sei. Das war[392] PLATOS Forderung einer Grundlage, die nichts ferner zur Grundlage habe. Und ARISTOTELES gebraucht denselben Ausdruck des »voraussetzungslosen« oder nicht bloß voraussetzlich gültigen Prinzips (archê anypothetos, 1005 b 14), allerdings in dem abgeschwächten Sinne eines Satzes, der nicht nur als »Hypothese«, sondern als »Axiom« gelte (Anal. post. I 2, 72 a 16). Auch darin liegt, wie wir uns bald überzeugen werden, eine versteckte Wendung zum Dogmatismus. Ganz offen aber tritt dieser zu Tage in der Forderung: daß der Beweis nach beiden Seiten begrenzt sei.

Zwar bloß formal angesehen mag auch das noch unbedenklich, ja beinahe selbstverständlich scheinen: Der Beweis muß zu Ende geführt sein, wenn die Thesis bewiesen sein soll. Allein auf der Deduktion soll überhaupt die Erkenntnis des Gegenstands beruhen. Daher schiebt sich dem formal klaren und unanfechtbaren logischen Satze unvermittelt und unvermerkt der Sinn unter: daß der Gegenstand schlechthin abschließend, nicht etwa bloß in unendlicher Annäherung, zu erkennen, das heißt, mit unsern Begriffen zu erreichen sein müsse. Das aber ist ganz eigentlich die Voraussetzung des Dogmatismus, deren genauer Gegensatz die These PLATOS ist: daß Erkenntnis bestehe in sukzessiver Bestimmung eines ins Unendliche zu Bestimmenden, das also mit keiner wirklichen Bestimmung je schlechthin erreichbar sei. Nach dieser Ansicht ist die Deduktion, die zum Ziele den Gegenstand der Erfahrung hat, dem Ausgangspunkt des Denkens nach zwar begrenzt, aber nach Seiten ihres Zieles, des empirischen Gegenstands, sogar grundsätzlich unendlich.

Aber auch einer fortschreitenden Vertiefung der Prinzipien selbst wird sich der Kritizismus grundsätzlich offen halten. Wir besitzen darüber von PLATO zwar keine ausdrückliche Erklärung, aber tatsächlich sehen wir ihn an solcher Vertiefung arbeiten bis zuletzt. Nichts ist so charakteristisch für seine philosophische Arbeitsweise als dies nie sich genugtuende Ringen nach radikaleren und immer noch radikaleren Formulierungen des Prinzips, welches, der allgemeinen methodischen Richtung nach, ihm zwar unerschütterlich fest steht als das des Logischen selbst, aber, eben weil er das Logische begriffen hat als Methode, als Prozeß, als unendliche Bewegung und Entwicklung, in keiner abschließenden Formel sich je will einfangen und festlegen lassen.[393]

Den gerade entgegengesetzten Sinn hat die aristotelische Behauptung letzter nicht zu beweisender Grundsätze (Axiome). Das will nicht bloß sagen, daß sie nicht weiter deduzierbar sein dürfen, was wiederum formal verständlich und als abstrakte Forderung wohlbegründet wäre; sondern daß sie »durch sich selbst gewiß« oder »bekannt«, einer logischen Rechtfertigung überhaupt unbedürftig, über sie erhaben seien. Der Klassiker des modernen Kritizismus hat das scharfe Verdikt gesprochen, über welches die Eiferer wider seinen Apriorismus zwar regelmäßig hinweglesen: Wenn das eingeräumt werde, daß man irgend welche synthetischen Sätze, so evident sie auch sein möchten, für »unmittelbar gewiß, ohne Rechtfertigung oder Beweis«, ausgeben, daß man sie »ohne Deduktion, auf das Ansehen ihres eigenen Ausspruchs, dem unbedingten Beifall aufheften dürfe«, so sei »alle Kritik des Verstandes verloren«, die ganze Liebesmüh des philosophischen Eros (möchte PLATO sagen) umsonst. KANT unterscheidet hierbei scharf zwischen »transzendentaler Deduktion« und »Beweis« im aristotelischen Sinn, dessen die Prinzipien allerdings nicht fähig sind. Er versteht unter der ersteren (um es frei, doch hoffentlich sinngetreu zu umschreiben) die Rechtfertigung eines Satzes durch den Nachweis, daß und wie er im Systeme der ursprünglichen Verfahrungsweisen des Denkens begründet ist. Diese Beweisart, aus der »Methode« des Logischen, kennt und übt PLATO. ARISTOTELES, das sei ausdrücklich anerkannt, nähert sich ihr wenigstens in der Begründung des Identitätssatzes. Aber weder hat er sonst, für sein Kategoriensystem, für seine Begriffe von Potenz und Actus, für die vier Prinzipien seiner Metaphysik eine derartige Begründung ins Auge gefaßt, noch bleibt die weitere Durchführung der Deduktion in jenem einzigen Fall diesem Sinne wirklich treu, sondern sie lenkt sehr bald wiederum ab in die echt und recht dogmatische Ansicht, daß Denken und Gegenstand an sich kongruent sind, also in hinlänglich weit geführter Deduktion sich auch müssen zur Deckung bringen lassen.

Weit am gewöhnlichsten aber ist bei ihm die ganz platte Rückwendung zum Dogmatismus: daß er gerade da, wo er über die letzten Prinzipien seiner Philosophie Rechenschaft geben soll, sie rundweg verweigert, mit Wendungen, die nur des Fragers zu spotten scheinen, wie: Man müsse nicht einen Grund verlangen, wenn man Besseres habe, als daß man eines Grundes bedürfte (Phys. VIII 3, 254 a 30); oder: man solle nicht immer[394] eine Definition fordern, sondern mit Induktion und Analogie zufrieden sein (Metaph. IX 6, 1048 b 35); mit Verweis auf den Augenschein, auf die allgemeine Meinung, auf die sprachlichen Gemeinbegriffe, bestenfalls auf die Wahrnehmung und (wie wir eben vernahmen) auf Induktion und Analogie. Es gibt nicht nur Bewegung oder nur Stillstand, sondern beides; dafür genügt das einzige Zeugnis: wir sehen es (ebenda l. 35). Es gibt »Naturen« d.i. Körper, die den Grund der Veränderung und Beharrung in sich selbst haben; dafür einen Beweis suchen wäre lächerlich, denn es ist augenscheinlich, daß es viele solche Körper gibt. Augenscheinliches aber durch nicht Augenscheinliches beweisen wollen wird nur, wer nicht zu unterscheiden vermag, was durch sich und was nicht durch sich erkannt wird; das gibt dann ein Reden wie des Blinden von der Farbe (Phys. II 1, 193 a 3 – 9). Dieselbe Flucht vor der logischen Rechenschaft gerade über seine Fundamentalbegriffe verrät besonders auffallend die Zurückweisung der Zweifel gegen den Begriff der Potenz (Metaph. IX 3); wo nur das völlig blinde Vertrauen in die Gemeinbegriffe der Sprache die plumpe Vorwegnahme des zu Beweisenden halbwegs verständlich macht. Und nur aus derselben Verständnislosigkeit für das Bedürfnis der Rechenschaft gerade und zumeist von den Grundbegriffen begreift sich das vollständige Fehlen auch nur der geringsten Andeutung einer Begründung für eine so wesentliche Grundlage seiner ganzen Philosophie wie sein System der Kategorien.

Alle Erkenntnis, erklärt er oftmals, muß sich stützen auf voraus Erkanntes (progignôskomenon), nämlich alle Deduktion auf die Prinzipien; die Erkenntnis der Prinzipien aber – auf Induktion, zuletzt auf die Data der Sinne.

Das könnte etwa so gemeint sein, daß es zur Ermittlung der Prinzipien der Induktion bedürfe, da die Grundfunktionen des Erkennens doch nur aufgewiesen werden können an ihrem wirklichen Gebrauch in den Wissenschaften. Hätte ARISTOTELES das sagen wollen, so wäre er mit allen Kritizisten, besonders mit KANT, im besten Einklang. Aber die Meinung ist vielmehr die ganz dogmatische: Die Gegenstände sind gegeben, zuletzt durch die Sinneswahrnehmung; sie enthalten in sich die begrifflichen Bestimmungen bis zu den letzten zurück; und dem Denken bleibt nur übrig, sie, die im Gegebenen der Sinne potenziell mitgegeben sind, auch aktuell zum Bewußtsein zu bringen. Diese Leistung ist wesentlich Abstraktionsarbeit. Selbst[395] die Wege dieser Abstraktion sind vorgezeichnet durch die Prozesse der Sinneswahrnehmung, welche diese Zerlegung, nur ohne begleitendes Bewußtsein, schon einleiten und eine gute Strecke weit durchführen.

Das ist der kurze Sinn der aristotelischen Psychologie der Erkenntnis, wie sie im Schlußkapitel der Analytik, und in noch knapperer Zusammenfassung im ersten Kapitel der Metaphysik dargelegt wird.

Die entscheidungsvolle Frage wird dort in aller Schärfe gestellt: Wenn alle eigentliche Wissenschaft auf Deduktion, die Deduktion auf den Prinzipien ruht, wie sind die Prinzipien selbst uns gewiß? Hatten wir sie etwa schon voraus, ohne es zu wissen? Besaßen wir also, ohne es selbst zu ahnen, eine Erkenntnis, sicherer als aller Beweis? Oder, wenn wir sie empfangen haben, woher konnten wir sie empfangen, wenn keine Erkenntnis vorausgegangen sein soll?

Mit der ersteren Frage, deren verneinende Beantwortung für ARISTOTELES so selbstverständlich ist, daß sie gar nicht erst ausgesprochen zu werden braucht, wird PLATOS psychologischer Apriorismus, ohne Ahnung seiner tieferen Tendenz, beiseite geschoben. (Daß PLATO gemeint ist, lehrt sofort die Vergleichung mit Metaph. I 9, 992 b 30). Aber ist nicht die Gegenfrage recht bedenklich für ARISTOTELES selbst? Wie will er sie lösen?

Er löst sie durch die psychologische Hypothese der Anlage. Allerdings geht der Erkenntnis auch der Prinzipien etwas voraus, aber nicht eine Weise des Bewußtseins, die mehr den Charakter der Erkenntnis hätte (gnôstikôtera hexis), sondern vielmehr eine solche, die unter der Stute der Erkenntnis bleibt, nämlich die bloße Anlage oder Potenz der Erkenntnis. Also hat der Verstand durchaus nichts zu eigen, sondern er hebt nur heraus, was die Wahrnehmung ursprünglich gegeben, das Gedächtnis festgehalten hat Er sammelt allerdings und vereinigt die vielen, zerstreuten Wahrnehmungen, aber auch dazu bedient er sich eines besondern, ganz wie ein sechster Sinn vorgestellten Organs, eines Zentralsinnes.

Jedem muß hier der volle Gegensatz gegen PLATO auffallen, nach welchem das Mannigfaltige zur Einheit »zusammenstrebt« nicht kraft eines besondern Organs, sondern kraft des »Bewußtseins selbst«, ausdrücklich ohne Organ.[396]

Das Verstehen ist somit für ARISTOTELES nichts als ein Bewußtwerden dessen, was vor diesem Bewußtwerden der Sache nach schon da war; gleichsam eine besondere, bevorzugte Beleuchtung, die einem Teil oder einer Seite des Gegebenen zuteil wird. Selbst die Auseinanderlegung der im Gegenstande selbst in einander verflochtenen Merkmale bereitet der von ARISTOTELES übrigens mit feiner Psychologie verfolgte Aussonderungsprozeß der Wahrnehmung derart vor, daß für den Verstand nur übrig bleibt zu sehen, was (in der Wahrnehmung oder Vorstellung) da und gegeben ist. – Das hindert zwar ARISTOTELES nicht, zum Schluß in ganz platonisch lautenden Wendungen die Erkenntnis (epistêmê) und als ihr letztes Prinzip die Vernunft (nous) zu preisen, als allein untrüglich, gegenüber der trügenden Meinung (doxa). Indessen das besagt nur, daß ohne das Licht der Einsicht (wie hier nous am zutreffendsten wiederzugeben sein möchte) freilich alle Vorarbeit der Sinne vergeblich wäre. Dabei bleibt aber inhaltlich alle Leistung der Erkenntnis eigentlich die der sinnlichen Erkenntniskraft. Die ersten Sätze werden notwendig durch Induktion erkannt; Wahrnehmung ist es, welche das Allgemeine in uns hineinschafft (empoiei, 100 b 3, vgl. a 7).

Verwundert fragt man sich, ob es denn möglich ist, daß der Begründer der Apodeiktik von Herzensgrund nicht nur Empirist, sondern sogar Sensualist war? Undenkbar. Aber er ist Dogmatist, und sein Dogmatismus zwingt ihn, auch gegen seinen Willen, zum Sensualismus zurück.

Allgemein ist ja das die Erklärung des Werdens bei ARISTOTELES: Was wird, war gewissermaßen schon zuvor, nur nicht in der Form der Wirklichkeit (Verwirklichung), sondern der »Möglichkeit«. Nach diesem allgemeinen Rezept erklärt er auch das Werden der Erkenntnis, und damit ist für ihn die Frage erledigt, wie die Erkenntnis der Prinzipien, die alle andre Erkenntnis erst möglich macht, selber möglich sei. Diese Abschiebung der radikalen Frage der Begründung der Erkenntnis überhaupt auf eine besondere Erkenntnis, die Psychologie, und schließlich auf eine Metaphysik des Werdens, war nur möglich für einen Dogmatismus, dem nichts ferner lag als die platonische Einsicht, daß das Logische das Letzte ist, wohinter zurückzugehn, das selbst von einem Andern erst abzuleiten, eben logisch unmöglich ist. Wer nicht für die Priorität der gegebenen Dinge vor dem Gesetz des Erkennens[397] von Haus aus so entschieden war, daß gar keine Denkbarkeit einer andern Auffassung mehr für ihn bestand, konnte unmöglich mit einem solchen Kapitel eine – Beweistheorie krönen. Die logische Ungeheuerlichkeit dieses letzten Beweises seiner Beweistheorie selbst hätte einem so virtuosen Beweistechniker unmöglich verborgen bleiben können, wenn nicht für ihn subjektiv eine absolute Unmöglichkeit bestand, sich in eine andre als die dogmatistische Ansicht über Erkenntnis und Gegenstand überhaupt hineinzudenken.

Quelle:
Paul Natorp: Platos Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus. Leipzig 21921, S. 390-398.
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