Erstes Buch

[13] Alles ist gut, wenn es aus den Händen des Schöpfers hervorgeht; alles entartet unter den Händen des Menschen. Er zwingt ein Land, die Produkte eines anderen hervorzubringen, einen Baum, die Früchte eines anderen zu tragen; vermischt und vermengt die Klimata, die Elemente, die Jahreszeiten; er verstümmelt seine Hand, sein Pferd, seinen Sklaven; er stürzt alles um, er verunstaltet alles; er liebt das Unförmliche, die Mißgestalten; nichts will er so, wie es die Natur gebildet hat, nicht einmal den Menschen; man muß ihn wie ein Schulpferd für ihn abrichten; man muß ihn wie einen Baum seines Gartens nach der Mode des Tages biegen.

Sonst würde aber alles noch schlechter gehen, und unser Geschlecht ist ein Feind alles halben Wesens. In dem Zustand, in welchem sich die Dinge nunmehr befinden, würde ein von seiner Geburt an sich unter den anderen selbst überlassener Mensch der verunstaltetste von allen sein. Die Vorurteile, der äußere Einfluß, der Zwang, das Beispiel, alle die sozialen Verhältnisse, in welche wir uns versunken befinden, würden die Natur in ihm ersticken, ohne ihm einen Ersatz dafür zu bieten. Es würde ihr wie einem jungen Baum ergehen, den der Zufall mitten auf einem Wege aufschießen läßt und den die Wanderer bald zum Welken bringen, indem sie ihn von allen Seiten stoßen und nach allen Richtungen biegen.[13]

An dich wende ich mich, zärtliche und vorsorgliche Mutter,2 die du dich von der großen Straße fernzuhalten und das wachsende Bäumchen vor dem Widerstreit der menschlichen Meinungen zu bewahren verstandest! Pflege, begieße die junge Pflanze, ehe sie abstirbt; ihre Früchte[14] werden dereinst deine Wonne sein. Bilde frühzeitig einen Schutzwall um die Seele deines Kindes; ein anderer kann den Umfang desselben bestimmen, du selber aber mußt die Schranken setzen.3

Man veredelt die Pflanzen durch die Zucht, und die Menschen durch die Erziehung. Würde der Mensch gleich groß und stark geboren, so würde ihm seine ausgebildete Gestalt und seine Kraft jedenfalls so lange unnütz sein, bis er gelernt hätte, sich ihrer zu bedienen; sie würden ihm sogar schädlich sein, indem sie die anderen abhielten, an seinen Beistand zu denken,4 und sich selbst überlassen, würde er in Elend dahinsterben, bevor er seine Bedürfnisse kennen gelernt hätte. Man klagt über den Zustand der Kindheit; man begreift nicht, daß das menschliche Geschlecht schon ausgestorben wäre, hätte der Mensch nicht als Kind das Leben begonnen.

Wir werden schwach geboren und deshalb sind uns Kräfte nötig; wir werden, von allem entblößt, geboren, und deshalb ist uns Hilfe nötig; wir werden mit unentwickelten Anlagen geboren, und deshalb ist uns Verstand und Urteilskraft nötig. Alles, was uns bei unserer Geburt fehlt, und was uns, wenn wir erwachsen sind, nötig ist, wird uns durch die Erziehung gegeben.

Diese Erziehung geht von der Natur, oder von den Menschen, oder von den Dingen aus. Die innere Entwicklung unserer Fähigkeiten und unserer Organe ist die Erziehung der Natur; die Anwendung, welche man uns von[15] diesen entwickelten Fähigkeiten und Organen machen lehrt, ist die Erziehung der Menschen, und in dem Gewinn eigener Erfahrungen in bezug auf die Gegenstände, welche auf uns einwirken, besteht die Erziehung der Dinge.

Jeder von uns wird also durch dreierlei Lehrer gebildet. Der Schüler, in welchem sich ihre verschiedenen Lehren entgegenarbeiten, wird schlecht erzogen, und wird nie zu einer inneren Harmonie gelangen. Derjenige dagegen, bei welchem sie alle auf die nämlichen Punkte gerichtet sind und die nämlichen Zwecke erstreben, erreicht allein sein Ziel und lebt in voller Harmonie. Dieser allein ist gut erzogen.5

Nun aber hängt von diesen drei verschiedenen Erziehungsarten die der Natur gar nicht, die der Dinge nur in gewisser Hinsicht von uns ab. Die der Men schen ist die einzige, die wirklich in unserer Gewalt steht, indes ist auch dies nur voraussetzungsweise der Fall, denn wer kann wohl die Hoffnung hegen, die Gespräche und Handlungen aller derer, die ein Kind umgeben, ganz und gar zu leiten?

Insofern also die Erziehung eine Kunst ist, kann sie fast unmöglich zu einem günstigen Resultat führen, weil das zu ihrem Erfolg notwendige Zusammenwirken in niemandes Gewalt steht. Höchstens kann man sich dem Ziel durch viel Mühe und Sorgfalt mehr oder weniger nähern, um es aber wirklich zu erreichen, dazu gehört viel Glück.

Was ist das nun für ein Ziel? Es ist das der Natur selbst; das ist soeben bewiesen. Da das Zusammenwirken der drei Arten zu einer vollkommenen Erziehung notwendig ist, so muß man nach derjenigen, zu welcher wir nichts beizutragen vermögen, die beiden anderen richten. Allein vielleicht knüpft sich an das Wort Natur ein zu allgemeiner Sinn; ich will ihn deshalb hier festzustellen suchen.[16] Natur, sagt man uns, ist nur Gewöhnung.6 Was heißt das? Gibt es nicht etwa Gewohnheiten, welche man nur gezwungen annimmt und welche die Natur niemals ersticken? So verhält es sich zum Beispiel mit der Gewöhnung der Pflanzen, deren aufrechte Richtung man gewaltsam verändert. Die wieder ihrer Freiheit zurückgegebene Pflanze behält zwar die Neigung, die sie gezwungenerweise angenommen hat; aber der in ihr kreisende Saft hat deshalb seine ursprüngliche Richtung nicht aufgegeben, und wenn die Pflanze zu wachsen fortfährt, so kehren die neuen Triebe zu der senkrechten Richtung zurück. Ebenso verhält es sich mit den Neigungen der Menschen. Solange man in den nämlichen Verhältnissen verharrt, kann man diejenigen, welche der Gewohnheit entspringen, selbst wenn sie unserer innersten Natur widerstreben, bewahren, sobald aber die Lage wechselt, schwächt sich die Gewohnheit ab und das natürliche Wesen kommt wieder zum Vorschein. Die Erziehung ist sicherlich nur Gewöhnung. Gibt es nun aber nicht Leute, welche ihre Erziehung vergessen und verlieren, und andere, welche sie bewahren? Woher kommt dieser Unterschied? Muß man die Benennung Natur auf die der Natur konformen Gewöhnungen beschränken, so kann man sich dieses Hinundhergerede ersparen.

Mit Empfindungsvermögen werden wir geboren und von unserer Geburt an sind wir den Einwirkungen der Gegenstände, die uns umgeben, in verschiedener Weise ausgesetzt. Sobald wir uns der erhaltenen Eindrücke sozusagen bewußt werden, bildet sich in uns die Neigung, die[17] Gegenstände, welche sie hervorbringen, aufzusuchen oder zu fliehen, zuerst je nachdem sie angenehm oder unangenehm sind, später je nach der Uebereinstimmung oder dem Mangel an Uebereinstimmung, die wir zwischen uns und diesen Gegenständen finden, und endlich je nach den Urteilen, die wir über sie nach der Vorstellung von Glück und Vollkommenheit fällen, welche uns die Vernunft gibt. Diese Neigungen oder Abneigungen erweitern und verstärken sich in dem Maße, wie wir empfänglicher und aufgeklärter werden; aber durch unsere Gewohnheiten beschränkt, werden sie sich unseren Ansichten mehr oder weniger anschließen. Vor dieser Aenderung sind sie das, was ich in uns die Natur nenne.

Auf diese ursprünglichen Neigungen müßte man also alles zurückführen; und das würde sein, wenn unsere drei Erziehungsarten nur verschieden wären: was aber soll man tun, wenn sie widerstreitend sind, wenn man, anstatt einen Menschen für sich selbst zu erziehen, ihn für die anderen erziehen will? Dann ist die Uebereinstimmung unmöglich. Gezwungen, die Natur oder die sozialen Einrichtungen zu bekämpfen, hat man sich zu entschieden, ob man einen Menschen oder einen Bürger bilden will; denn beides kann man nicht zugleich tun.

Jede nur einen Teil umfassende Gesellschaft sondert sich, wenn sie strenge und fest geeint ist, von der großen ab. Jeder Patriot ist gegen die Fremden abstoßend: in seinen Augen sind sie nur Menschen, sind sie nichts.7 Dieser Uebelstand ist unvermeidlich, ist aber ohne Bedeutung. Die Hauptsache ist, den Leuten, mit welchen man zusammen lebt, eine freundliche Gesinnung zu beweisen. Dem Ausland gegenüber war der Spartaner ehrgeizig, habgierig, ungerecht; aber Uneigennützigkeit, Billigkeit, Eintracht[18] herrschten innerhalb seiner Mauern. Nehmt euch vor diesen Kosmopoliten in acht, die in ihren Schriften aus weiter Ferne Pflichten herholen, deren Erfüllung sie in bezug auf ihre eigene Umgebung verächtlich zurückweisen. Ein solcher Philosoph liebt die Tataren, um dessen überhoben zu sein, seine Nachbarn zu lieben.

Der natürliche Mensch ist ein Ganzes für sich; er ist die numerische Einheit, das absolute Ganze, das nur zu sich selbst oder zu seinesgleichen in Beziehung steht. Der bürgerliche Mensch ist nur eine gebrochene Einheit, welche es mit ihrem Nenner hält, und deren Wert in ihrer Beziehung zu dem Ganzen liegt, welches den sozialen Körper bildet. Die guten sozialen Einrichtungen vermögen den Menschen am ehesten seiner Natur zu entkleiden, ihm seine absolute Existenz zu rauben, um ihm dafür eine relative zu geben, und das Ich in die allgemeine Einheit zu versetzen, so daß sich jeder einzelne nicht mehr für eine Einheit, sondern für einen Teil der Einheit hält und nur noch in dem Ganzen wahrnehmbar ist. Ein römischer Bürger war nicht Cajus, nicht Lucius, er war ein Römer; sogar das Vaterland liebte er mit Ausschluß seiner eigenen Persönlichkeit. Regulus gab sich für einen Karthager aus, als ob er das Eigentum seiner Besieger geworden wäre. In seiner Eigenschaft als Fremder weigerte er sich, seinen Sitz im römischen Senat einzunehmen; ein Karthager mußte es ihm erst befehlen. Er wurde unwillig darüber, daß man ihm das Leben retten wollte. Seine Ansicht drang durch, und jubelnd kehrte er zurück, um einen qualvollen Tod zu sterben. Das scheint mir freilich den Menschen, die wir kennen, nicht sehr ähnlich zu sehen.

Der Lazedämonier Phedaretes bewirbt sich um Aufnahme in den Rat der Dreihundert; er wird verworfen; voller Freude, daß es in Sparta dreihundert bessere Männer als ihn gibt, geht er wieder nach Hause.8 Ich nehme[19] dieser Aeußerung für wahr an, und es ist alle Ursache vorhanden, sie dafür zu halten. Fürwahr, ein echter Bürger!

Eine Spartanerin hatte fünf Söhne beim Heer, und harrte auf Nachrichten über die Schlacht. Ein Helote langt an; zitternd fragt sie ihn danach. »Deine fünf Söhne sind gefallen« – »Verächtlicher Sklave, habe ich dich danach gefragt?« – »Wir haben den Sieg erfochten!« Die Mutter läuft zum Tempel und dankt den Göttern.9 Fürwahr, eine echte Bürgerin!

Wer in der bürgerlichen Ordnung den Naturgefühlen den Vorrang einräumen will, der weiß nicht, was er will. Stets im Widerspruch mit sich selbst, stets zwischen seinen Trieben und Pflichten hin und her schwankend, wird er nie ein echter Mensch noch ein echter Bürger sein. Er wird weder sich noch anderen Vorteil gereichen. Er wird einer dieser Dutzendmenschen unserer Tage, ein Franzose, ein Engländer, ein Spießbürger, er wird nichts sein.

Um etwas zu sein, um stets sich selbst treu und in sich eins zu sein, muß man handeln wie man spricht, muß man stets über die Partei, die man zu ergreifen, laut zu ergreifen hat, entschieden sein und beständig zu ihr halten. Ich erwarte, daß man mir ein solches Wunderkind zeige, um zu erfahren ob es ein Mensch oder ein Staatsbürger ist, oder wie dasselbe es anfängt, um beides zugleich zu sein.

Aus diesen einander notwendig entgegengesetzten Zielen ergeben sich zwei sich widersprechende Erziehungsweisen: eine öffentliche oder staatliche und gemeinsame, und eine besondere und häusliche.

Wollt ihr euch eine Vorstellung von der öffentlichen Erziehung machen, so lest die Republik Platos. Es ist kein politisches Werk, wie die sich einbilden, welche die Bücher nur nach Titeln beurteilen: es ist vielmehr die beste Abhandlung über Erziehung, die je geschrieben ist.[20] Wenn man auf ein Utopieland aller möglichen Träumereien hinweisen will, so führt man regelmäßig Platos Erziehung an. Hätte aber Lykurg die seinige nur zu Papier gebracht, so würde sie mir noch wunderlicher vorkommen. Plato hat nur das Herz des Menschen geläutert. Lykurg hat ihn seiner Natur beraubt.

Die öffentliche Erziehung existiert nicht mehr und kann nicht mehr existieren, weil da, wo es kein Vaterland mehr gibt, es auch keine Bürger mehr geben kann. Diese beiden Wörter »Vaterland« und »Bürger« müssen aus den modernen Sprachen gestrichen werden. Den Grund kenne ich sehr wohl, will ihn aber nicht aussprechen, es ist für mein Thema von keiner Bedeutung.

Diese lächerlichen Anstalten, welche man Kollegien10 nennt, kann ich nicht als öffentliche Erziehungsanstalten anerkennen. Ebensowenig rechne ich die Erziehung der Welt zu der öffentlichen, weil diese Erziehung dadurch, daß sie nach zwei entgegengesetzten Zielen strebt, beide verfehlt. Sie ist nur imstande, Zwitterwesen zu bilden, die alles beständig auf andere zu beziehen scheinen und doch nur alles auf sich allein beziehen. Nun aber täuschen diese Gaukeleien, weil sie ein Gemeingut aller sind, niemanden. Es ist lauter verlorene Mühe.

Auf diesen Widersprüchen entsteht leider auch der, welchen wir unaufhörlich in uns selbst empfinden. Fortgerissen von der Natur und von den Menschen nach entgegengesetzten Richtungen, gezwungen uns zwischen diesen verschiedenen Antrieben zu teilen, schlagen wir einen Mittelweg ein, der[21] weder zu dem einen noch zu dem anderen Ziel führt. Auf diese Weise während unseres ganzen Lebens in ununterbrochenem Kampf mit uns selbst und hin und her schwankend, beschließen wir es, ohne es zu einer inneren Harmonie gebracht und uns oder anderen zum Nutzen gereicht zu haben.

Es bleibt nur noch die häusliche Erziehung oder die der Natur übrig. Aber was soll ein Mensch, der einzig und allein für sich erzogen ist, den anderen werden? Wenn sich vielleicht das doppelte Ziel, welches man sich vorsetzt, in ein einziges zusammenziehen ließe, so würde man durch Beseitigung der Widersprüche im Menschen ein großes Hindernis zu seinem Glück aus dem Wege räumen. Man müßte, um darüber zu urteilen, ihn ganz ausgebildet sehen; man müßte seine Neigungen beobachtet, seine Fortschritte gesehen, seinen Lebensgang verfolgt haben; mit einem Wort: man müßte den natürlichen Menschen kennen. Ich glaube, daß man nach Lektüre dieser Schrift einen guten Anfang zu diesen Forschungen gemacht haben wird.

Was haben wir nun zu tun, um diesen ausgezeichneten Menschen zu bilden? Unzweifelhaft viel: nämlich zu verhüten, daß etwas geschieht. Wenn es sich nur darum handelt, gegen den Wind zu segeln, so laviert man; ist aber das Meer bewegt und man will auf der Stelle bleiben, so muß man den Anker auswerfen. Nimm dich wohl in acht, junger Pilot, daß dein Ankertau nicht nachlasse und dein Anker nicht schleppe und das Schifflein nicht forttreibt, ehe du dich dessen versiehst.

In der gesellschaftlichen Ordnung, wo alle Stellen genau bestimmt sind, muß jeder für die seinige erzogen werden. Wenn ein für seine Stelle gebildetes Individuum diese aufgibt, taugt es zu nichts mehr. Die Erziehung ist nur insoweit von Vorteil, als das Vermögen der Eltern mit dem Beruf in Uebereinstimmung steht, zu welchem sie ihr Kind bestimmen; in jedem andern Fall ist sie dem Zögling[22] nur schädlich, und wäre es auch nur durch die vorgefaßten Meinungen, welche sie ihm eingeflößt hat. In Aegypten, wo der Sohn genötigt war, sich dem Stande seines Vaters zu widmen, hatte die Erziehung wenigstens ein sicheres Ziel; unter uns jedoch, wo nur die Rangstufen bleiben und die Menschen unaufhörlich wechseln, weiß niemand, ob er nicht, wenn er seinen Sohn für die seinige erzieht, ihm schadet.

In der natürlichen Ordnung, in der die Menschen alle gleich sind, ist ihr gemeinsamer Beruf, zuerst und vor allem Mensch zu sein, und wer für diesen gut erzogen ist kann diejenigen, welche mit demselben in Einklang stehen, nicht schlecht erfüllen. Ob man meinen Zögling für die militärische, kirchliche oder richterliche Laufbahn bestimmt, darauf kommt wenig an. Bevor die Eltern ihn für einen Beruf bestimmen, beruft die Natur ihn zum menschlichen Leben. Die Kunst zu leben soll er von mir lernen.11 Wenn er aus meinen Händen hervorgeht, wird er freilich, das gebe ich zu, weder Richter noch Soldat noch Priester sein, er wird zuerst Mensch sein. Alles, was ein Mensch sein muß, das alles wird er, wenn es darauf ankommt, ebensogut wie irgend jemand sein können, und das Schicksal wird ihn vergeblich seinen Platz wechseln lassen, er wird immer an dem seinigen sein. Occupavi te, fortuna, atque cepi; omnesque aditus tuos interclusi, ut ad me aspirare non posses.12

Unser wahres Studium ist das der menschlichen Natur. Wer unter uns die Freuden und Leiden dieses Lebens am besten zu ertragen versteht, der ist meines Erachtens am besten erzogen, woraus folgt, daß die wahre Erziehung weniger in Lehren als in Uebungen besteht. Wir beginnen[23] unsere Bildung mit dem Beginn unseres Lebens. Unsere Erziehung beginnt zugleich mit uns; unser erster Lehrer ist unsere Amme. Auch hatte das Wort »Erziehung« bei den Alten einen anderen Sinn, als den wir damit verbinden. Es bedeutete die Aufziehung. Educit obstetrix, sagt Barronius; educat nutrix, instituit paedagogus, docet magister.13 Daher sind die Aufziehung, die Erziehung, der Unterricht drei in ihrem Ziel ebenso verschiedene Dinge, wie die Wärterin, der Erzieher und der Lehrer. Aber diese Unterscheidungen gereichen zu keinem Vorteil und um gut erzogen zu werden, darf das Kind nur einem einzigen Führer folgen.

Wir müssen unsere Gesichtspunkte deshalb verallgemeinern und in unserem Zögling lediglich den Menschen an sich, den allen Wechselfällen des menschlichen Lebens ausgesetzten Menschen betrachten. Wenn die Menschen durch die Geburt an den Boden eines Landes gefesselt wären, wenn die nämliche Jahreszeit das ganze Jahr hindurch dauerte, wenn jeder im unveränderlichen Besitz seines Vermögens bliebe, so würde die eingeführte Methode in gewisser Hinsicht gut sein; das für seinen besonderen Stand erzogene Kind würde, da es denselben niemals aufgäbe, auch nie den Schwierigkeiten eines anderen ausgesetzt sein. Aber kann man wohl, in Anbetracht der Wandelbarkeit der menschlichen Dinge, in Anbetracht des unruhigen und nivellierenden Geistes dieses Jahrhunderts, welcher in jeder Generation einen allgemeinen Umsturz herbeiführt, kann man wohl, frage ich, eine thörichtere Methode ersinnen als die, ein Kind so zu erziehen, als ob es einst nie aus der Tür zu kommen brauchte, als ob es unaufhörlich von den Seinigen umgeben sein würde? Wenn der Unglückliche sich nur einen Schritt über den Boden erhebt, wenn er eine einzige Stufe hinabsteigt, ist er verloren. Dadurch lehrt[24] man ihn nicht den Schmerz ertragen, sondern übt ihn vielmehr denselben zu empfinden.

Man denkt nur an die Erhaltung seines Kindes; das ist nicht genug; man muß es auch lehren sich erhalten, wenn es ein Mann geworden ist; die Schicksalsschläge ertragen, sich über Ueberfluß und Mangel hinwegsetzen und wenn es nötig ist, auf Islands Eisfeldern oder auf dem brennenden Felsen Maltas leben. Vergebens wendet ihr Vorsichtsmaßregeln an, um es gegen den Tod zu schützen, es wird doch einmal sterben müssen; und wenn sein Tod auch nicht das Werk eurer Pflege und Verzärtelung sein sollte, so würden sie gleichwohl schlecht angewandt sein.14 Es kommt nicht sowohl darauf an, es gegen den Tod zu schützen, als vielmehr darauf, ihm die Kunst zu leben beizubringen. Leben heißt nicht atmen, sondern handeln, es heißt sich unserer Organe, unsere Sinne, unsere Fähigkeiten, kurz sich aller derjenigen Teile von uns zu bedienen, die uns die Empfindung unseres Daseins verleihen. Nicht der Mensch hat am meisten gelebt, welcher die höchsten Jahre zählt, sondern derjenige, welcher sein Leben am meisten empfunden hat. Mancher stieg erst im Alter von hundert Jahren in die Grube, der seit seiner Geburt wie tot war. Besser wäre es für ihn gewesen, er wäre in früher Jugend gestorben und hätte wenigstens bis zum Eintritt seines Todes gelebt.

Unsre ganze Weisheit besteht darin, daß wir uns von sklavischen Vorurteilen leiten lassen; alle unsere Gewohnheiten legen uns nur Zwang, Beschränkung und Fesseln auf. Jeder Bürgerliche wird in der Knechtschaft geboren, lebt und stirbt darin: bei seiner Geburt schnürt man ihn[25] in einen Wickel; bei seinem Tode sperrt man ihn in einen Sarg; solange er die menschliche Gestalt bewahrt, ist und bleibt er durch unsere Einrichtungen gefesselt.

Man erzählt sich, daß sich manche Hebammen nicht scheuen, dem Kopfe der neugeborenen Kinder durch Zusammenpressen eine angemessenere Form zu geben: und man duldet es! Unsere Köpfe sollten so, wie sie aus der Hand des Schöpfers hervorgegangen sind, nichts taugen! Man müßte sie äußerlich erst durch die Hebammen und innerlich durch die Philosophen modeln! Die Karaiben sind um die Hälfte glücklicher als wir.

»Kaum hat das Kind den Schoß der Mutter verlassen und kaum genießt es die Freiheit, seine Glieder zu bewegen und zu dehnen, so fesselt man es von neuem. Man wickelt es in Windeln, man legt es mit unbeweglichem Kopf und ausgestreckten Beinen hin, während die Aermchen an den Körper gedrückt sind; es wird in Linnen eingehüllt und in Wickelbetten eingeschnürt, so daß es seine Lage nicht verändern kann. Noch glücklich, wenn man es nicht bis zu dem Grade zusammengeschnürt hat, daß es dadurch am Atemholen behindert ist, und wenn man die Vorsicht beobachtet hat, es auf die Seite zu legen, damit das aus dem Munde fließende Wasser von selbst hinabfließen kann, denn es würde nicht die freie Bewegung haben, den Kopf auf die Seite zu wenden, um das Ausfließen zu erleichtern.«15

Das neugeborene Kind hat das Bedürfnis, seine Glieder auszustrecken und zu bewegen, um sie aus der Erstarrung zu reißen, in der sie sich, in einem Knäuel zusammengezogen, so lange befunden haben. Man streckt sie aus, das ist wahr, aber man verhindert sie, sich zu bewegen; sogar den Kopf steckt man in Kinderhäubchen: man scheint zu befürchten, daß es Lebenszeichen verraten könne.

Auf diese Weise findet der Trieb der inneren Teile eines Körpers, welcher im Wachstum begriffen ist, an den[26] Bewegungen, welche er von ihm verlangt, ein unübersteigliches Hindernis. Das Kind macht fortwährend vergebliche Anstrengungen, welche seine Kräfte erschöpfen oder ihre Zunahme aufhalten. Im Mutterschoße war es weniger beengt, eingeschränkt, zusammengepreßt, als in seinen Windeln. Ich sehe den Vorteil nicht ein, den es durch seine Geburt gewonnen hat.

Die Untätigkeit und der Zwang, worin man die Glieder eines Kindes erhält, haben den einzigen Erfolg, daß sie den Kreislauf des Blutes und der Säfte stören, die Kräftigung und das Wachstum des Kindes hemmen und seine Gesundheit untergraben. In den Gegenden, wo dergleichen überspannte Vorsichtsmaßregeln nicht zur Anwendung kommen, sind die Menschen sämtlich groß, stark und wohlgebildet.16 Die Länder, in denen man die Kinder einzuwickeln pflegt, wimmeln förmlich von Buckligen, Hinkenden, Krummbeinigen, Skrofulösen, Verkrüppelten – kurzum von Mißgestalten jeglicher Art. Aus Furcht, die Körper durch freie Bewegung Verkrüppelungen auszusetzen, beeilt man sich, dieselben Verkrüppelungen durch Einschnürung und Zusammenpressung hervorzurufen. Lieber möchte man die Kinder gleich lähmen, um sie nur ja abzuhalten, selbst die Schuld an ihre Verkrüppelung zu tragen.

Läßt sich nicht annehmen, daß ein so grausamer Zwang einen bedeutenden Einfluß auf ihr Gemüt, wie auf ihr Temperament ausüben muß? Ihre Empfindung ist eine schmerzliche und peinliche; selbst an den nötigsten Bewegungen finden sie sich behindert; unglücklicher als ein in Fesseln liegender Verbrecher, machen sie vergebliche Anstrengungen, werden allmählich böse und schreien. Mit Tränen, sagt ihr, erblicken sie das Licht der Welt. Ich glaube es wohl; von ihrer Geburt an tretet ihr der natürlichen Entwicklung derselben entgegen; Fesseln sind die ersten Gaben, die ihr in ihre Wiege legt; nur Qualen[27] bereitet ihr ihnen mit der Sorge, die ihr für sie tragt. Sollten sie, da ihnen der freie Gebrauch ihrer Stimme übriggeblieben ist, sich derselben nicht bedienen, um ihre Klagen auszudrücken? Ihr klägliches Geschrei verkündet euch das Leid, das ihr ihnen zufügt. Wäret ihr in ähnlicher Weise geknebelt, dann würdet ihr fürwahr ein noch weit lauteres Geschrei erschallen lassen.

Woher stammt diese unvernünftige Sitte? Von einer unnatürlichen Mode. Seitdem die Mütter, ihrer ersten Pflicht uneingedenk, ihre Kinder nicht mehr selbst stillen wollten, mußte man sie bezahlten Frauenmietlingen überlassen, in denen selbstverständlich die Stimme der Natur den fremden Kindern gegenüber, zu deren Müttern man sie auf solche Weise bestellt, schwieg, und die daher nur darauf ausgingen, sich so viel Mühe wie möglich zu ersparen. Ein seiner Freiheit überlassenes Kind würde unaufhörliche Ueberwachung erheischen, ist es jedoch wohl eingebunden, so legt man es in einen Winkel, ohne sich um sein Geschrei zu kümmern. Sind nur keine offenbaren Beweise für die Nachlässigkeit der Amme vorhanden, bricht sich nur der Säugling nicht Arme und Beine, was kommt dann im übrigen darauf an, ob er umkommt oder sich siech und elend durchs Leben schleppt? Zum Unheil seines ganzen Körpers schützt man seine Gliedmaßen, und was auch immer geschehen mag, die Amme steht völlig schuldlos da.

Wissen jedoch diese liebenswürdigen Mütter, welche sich, der Last der Kinderaufziehung überhoben, fröhlich den Vergnügungen des Stadtlebens hingeben, wissen sie wohl, welcher Behandlung das Kind in seinem Steckkissen auf dem Lande ausgesetzt ist? Bei der geringsten Abhaltung hängt die Amme es wie einen Bündel Flicken an einen Nagel, und solange dieselbe, ohne sich zu überstürzen, ihr Geschäft besorgt, so lange muß das unglückliche Wesen in dieser qualvollen Lage ausharren. Alle, die man in diesem Zustand fand, hatten ein dunkelrotes Gesicht; da die stark[28] zusammengepreßte Brust die nötige Zirkulation des Blutes nicht zuließ, stieg es nach dem Kopf. Wenn man das arme gemißhandelte Kind für sehr ruhig hielt, so lang das allein daran, daß es nicht mehr Kraft hatte zu schreien. Mir ist unbekannt, wieviel Stunden ein Kind, ohne zu sterben, in diesem Zustand zu bleiben vermag, aber ich bezweifle, daß es lange geschehen kann. Darin liegt, sollte ich meinen, einer der größten Vorteile des Einschnürens.

Man behauptet, die ihrer Freiheit überlassenen Kinder könnten ihnen schädliche Lagen einnehmen und unwillkürlich Bewegungen machen, die die Kraft und schöne Form ihrer Glieder zu gefährden imstande wären. Das sind nichts wie hohle Redensarten unserer heutigen Afterweisheit, welche noch nie in der Erfahrung ihre Bestätigung gefunden haben. Unter jener Menge von Kindern, welche bei Völkern, die sich rühmen können, verständiger als wir zu handeln, in dem freien Gebrauch ihrer Glieder aufgezogen werden, sieht man kein einziges, welches sich Schaden täte oder durch eigene Schuld verkrüppelte; bei ihrer zarten Jugend fehlt es ihren Bewegungen noch an jener Kraft, die sie allein gefährlich machen könnte, und nehmen sie auch auf kurze Zeit eine unnatürliche Lage ein, so zwingt sie der Schmerz, dieselbe bald wieder zu ändern.

Wir sind noch nie auf den Einfall geraten, die jungen Hunde oder Katzen in ein Steckkissen einzuschnüren: zeigt sich aber wohl, daß diese Vernachlässigung irgendeinen Nachteil für sie herbeiführt? Die Kinder sind schwerfälliger, das stelle ich nicht in Abrede; dafür sind sie aber auch verhältnismäßig schwächer. Sie vermögen sich ja kaum zu rühren, wie sollten sie sich also Schaden zufügen können? Legte man sie auf den Rücken, so würden sie, außerstande sich umzuwenden, in dieser Lage wie die Schildkröte sterben müssen.

Aber noch nicht zufrieden damit, daß sie ihre Kinder nicht mehr stillen, gehen die Frauen in ihren Wünschen[29] sogar so weit, gar keine Kinder mehr zu bekommen: die Folge davon ist nur zu natürlich. Sind der Mutter ihre Pflichten erst lästig, dann findet man auch bald Mittel sie gänzlich abzuschütteln. Man wünscht seine eheliche Pflicht so zu erfüllen, daß man keine Frucht zu befürchten braucht, um sich beständig dem Genuß hingeben zu können, und mißbraucht den zur Vermehrung des Geschlechts eingepflanzten Trieb. Diese Unsitte, an welche sich noch andre Ursachen der Entvölkerung reihen, deutet uns das Schicksal an, welches Europa bevorsteht. Die Wissenschaften, die Künste, die Philosophie und die Sitten, welche es hervorruft und erzeugt, werden es früher oder später in eine Wüste verwandeln. Es wird von wilden Tieren bewohnt werden: und damit wird sich kein großer Unterschied hinsichtlich seiner Bevölkerung bemerkbar machen.

Zu wiederholten Malen habe ich Gelegenheit gehabt, die kleinen Kunstgriffe junger Frauen zu beobachten, welche sich stellen, als ob sie ihre Kinder selbst stillen wollen. Sie verstehen es so vortrefflich einzurichten, daß sie nur dem Zwang nachzugeben scheinen, wenn sie von ihrem Vorhaben abstehen; unendlich fein wissen sie es so zu drehen, daß die Gatten, die Aerzte, besonders aber die Mütter, Einspruch dagegen erheben müssen. Wehe dem Mann, der es wagen sollte zu gestatten, daß seine Frau ihr Kind selbst stillte; er wäre ein verlorener Mann! Man würde ihn überall einen Mörder verschreien, der sie aus dem Weg räumen wolle. Kluge Gatten, ihr müßt die Vaterliebe dem Frieden zum Opfer bringen. Ein glücklicher Umstand ist es, daß man auf dem Lande doch Frauen findet, die enthaltsamer als die eurigen sind. Und noch glücklicherer Umstand wird es für euch sein, wenn eure Frauen die Zeit, welche sie dadurch gewinnen, nicht mit anderen vertändeln.

Die Pflicht der Frauen ihren Kindern gegenüber ist keinem Zweifel unterworfen; weil sie sich derselben jedoch entziehen, so läßt sich die Frage aufwerfen, ob es für die[30] Kinder einerlei sei, von der mütterlichen Milch oder der einer anderen Frau genährt zu werden. Da die Entscheidung über diese Frage einzig und allein den Aerzten17 zukommt, halte ich sie für endgültig und offenbar zugunsten der Frauen entschieden. Auch meiner Ueberzeugung nach ist es unbestritten besser, daß das Kind die Milch einer gesunden Amme, als die einer verdorbenen Mutter trinkt, sobald sich nur irgendwie die Entstehung eines neuen Uebels aus dem Blut, dem es sein Dasein zu verdanken hat, befürchten ließe.

Soll denn aber diese Frage nur von der physischen Seite aus betrachtet werden? Und bedarf denn das Kind weniger der treuen Pflege einer Mutter als ihrer Brust? Andere Frauen, Tiere sogar, werden ihm die Milch, welche sie ihm entzieht, geben können, für die mütterliche Sorgfalt findet sich jedoch kein Ersatz. Wer ein fremdes Kind statt seines eigenen nährt, kann nur eine schlechte Mutter sein; wie sollte eine solche nun eine gute Amme sein? Sie wird es werden können, aber freilich nur langsam; die Gewohnheit wird allmählich die Natur verändern müssen, und das schlecht gepflegte Kind wird hundertmal umkommen können, ehe seine Amme die Zärtlichkeit einer Mutter für dasselbe empfindet.

Aber sogar wenn diese günstige Wendung endlich eintritt, dient sie nur zur Quelle eines neuen Uebelstandes, der allein schon jeder fühlenden Frau den Mut rauben sollte, ihr Kind von einer anderen säugen zu lassen, der nämlich, daß sie das heilige Mutterrecht teilen oder vielmehr ganz auf dasselbe verzichten muß, mit ansehen muß, wie ihr[31] Kind eine fremde Frau ebensosehr oder gar noch mehr liebt als sie, empfinden muß, daß die Zärtlichkeit, welche es seiner eigenen Mutter bewahrt hat, nur eine Art Gnade ist, während die, welche es seiner Pflegemutter erzeigt, mehr den Charakter einer schuldigen Dankbarkeit an sich trägt: denn schulde ich, wo ich mütterliche Sorgfalt erfahren habe, nicht kindliche Anhänglichkeit?

In eigentümlicher Weise sucht man diesem Uebelstand abzuhelfen: man flößt nämlich den Kindern Geringschätzung gegen ihre Ammen ein, indem man dieselben auf die Stufe gewöhnlicher Mägde herabdrückt. Wenn die Dienste der Amme nicht mehr erforderlich sind, so entzieht man das Kind ihrer Pflege oder verabschiedet sie. Man nimmt sie schlecht auf, um sie von einem öfteren Besuch ihres Säuglings zurückzuschrecken. Nach Verlauf weniger Jahre sieht er sie nicht mehr, kennt er sie nicht mehr. Die Mutter, welche glaubt, den Platz derselben im Herzen des Kindes einnehmen zu können, und sich einbildet, ihre frühere Vernachlässigung durch ihre Grausamkeit wieder gutzumachen, gibt sich einer Täuschung hin. Anstatt einen verdorbenen Säugling in ein zärtliches Kind zu verwandeln, übt sie ihn vielmehr in der Undankbarkeit; sie hat ihm ein Beispiel gegeben, woraus er lernen wird, dereinst diejenige, welche ihm das Leben gab, mit derselben Geringschätzung zu behandeln, wie diejenige, die ihn mit ihrer Milch genährt hat.

Gern würde ich bei diesem Punkt noch länger verweilen, wenn es nur nicht so entmutigend wäre, nützliche Gedanken immer und immer vergeblich zu wiederholen. Weit mehr als man denkt, steht damit im engsten Zusammenhang. Wollt ihr, daß jedermann wieder seiner ersten und heiligsten Pflicht eingedenk sei, nun dann beginnt bei den Müttern; ihr werdet über die Veränderungen erstaunen, welche ihr damit bewirkt. Aus dieser ersten Verderbnis ist nach und nach alles übrige Unheil hervorgegangen: alle sittliche Ordnung leidet darunter; die Natürlichkeit erlischt in aller[32] Herzen, das Innere der Häuser verliert an Leben, das ergreifende Schauspiel einer heranwachsenden Familie vermag keine Anziehung mehr auf die Männer auszuüben, flößt den Fremden keine Achtung ein; man erweist der Mutter, deren Kinder man nicht sieht, weniger Rücksicht. Das innige Familienleben lockert sich; die Gewohnheit verstärkt die Bande des Blutes nicht mehr; es gibt keine Väter, keine Mütter, keine Kinder, keine Brüder, keine Schwestern mehr; kaum kennen sich alle untereinander, wie sollten sie sich also lieben? Jeder denkt nur an sich. Wenn das Haus nur eine traurige Einöde ist, dann muß man seinen Vergnügungen wohl außerhalb desselben nachgehen.

Wenn sich jedoch die Mütter dazu verstehen, ihre Kinder selbst zu nähren, so werden sich die Sitten von selbst bessern, werden die natürlichen Gefühle in aller Herzen wieder erwachen; der Staat wird sich wieder bevölkern; schon diese erste Folge, diese Folge allein, wird alles wieder vereinigen. Der Reiz des Familienlebens ist das beste Gegengift gegen den Verfall der Sitten. Der fröhliche Lärm der Kinder, den man für störend und lästig hält, wird mit der Zeit angenehm; er macht Vater und Mutter einander unentbehrlicher, einander lieber; er knüpft das eheliche Band, das sie vereinigt, enger und fester. Wenn ein Geist gegenseitiger inniger und lebhafter Zuneigung die Familienglieder aneinander kettet, dann bilden die häuslichen Sorgen die liebste Beschäftigung der Frau und den angenehmsten Zeitvertreib des Mannes. Auf diese Weise würde schon die Beseitigung dieses einzigen Fehlers bald eine allgemeine Besserung herbeiführen, würde die Natur bald wieder in alle ihre Rechte eintreten. Mögen die Frauen nur erst wieder Mütter werden, dann werden die Männer auch bald wieder Väter und Gatten sein.

Aber leider sind das verlorene und überflüssige Worte! Nicht einmal der Ueberdruß an den weltlichen Vergnügungen führt zu den geschilderten Freuden zurück. Die Frauen[33] haben aufgehört Mütter zu sein und werden es nie wieder werden, weil sie es nicht mehr sein wollen. Schon wenn sie es wollten, würden sie es kaum imstande sein. Da heutzutage einmal die gerade entgegengesetzte Sitte die Oberhand gewonnen hat, würde jede, die den Versuch wagte, den Widerspruch aller derer zu bekämpfen haben, mit denen sie in Berührung kommt, sind sie doch alle gegen ein Beispiel verbündet, das die einen nicht gegeben haben und die anderen nicht befolgen wollen.

Gleichwohl finden sich bisweilen noch junge Frauen von unverdorbener Natur, die in diesem Punkt der Herrschaft der Mode und dem Geschrei ihres Geschlechts zu trotzen wagen und mit tugendhafter Unerschrockenheit diese so süße Pflicht erfüllen, die ihnen die Natur auferlegt. Wären doch die verlockenden Güter, die denen zuteil werden, welche sich dieser Pflicht hingeben, imstande ihre Zahl zu vermehren! Unter Hinweis auf Schlußfolgerungen, die sich schon aus dem geringsten Nachdenken ergeben, und auf Beobachtungen, deren Richtigkeit mir bisher niemand hat in Abrede stellen können, wage ich es, diesen ihren Mutterberuf so treu erfüllenden Frauen eine aufrichtige und beharrliche Zuneigung ihrer Männer, eine wahrhaft kindliche Zärtlichkeit ihrer Söhne und Töchter, die allgemeine Hochachtung und Wertschätzung, glückliche Entbindungen ohne Unfälle und Folgen, eine feste und kräftige Gesundheit und endlich das Glück zu verheißen, sich dereinst von ihren eigenen Töchtern nachgeahmt und als Vorbild für die anderer Eltern hingestellt zu sehen.

Keine Mutter, kein Kind! Zwischen ihnen sind die Pflichten gegenseitig, und werden sie von der einen Seite schlecht erfüllt, so werden sie auch von der anderen vernachlässigt. Das Kind muß seine Mutter lieben, noch ehe es weiß, daß ihm dies die Pflicht gebietet. Wird die Stimme des Blutes nicht durch Gewährung und treue Abwartung gestärkt und gesteigert, so erlischt sie schon in den frühesten[34] Jahren, und das Herz stirbt sozusagen, noch ehe es geboren wird. Schon von den ersten Schritten an sagen wir uns von der Natur los.

Zu demselben Resultat gelangen wir jedoch auch auf dem entgegengesetzten Weg, dann nämlich, wenn eine Frau ihre Muttersorgen, anstatt sie zu vernachlässigen, übertreibt, wenn sie ihr Kind vergöttert, wenn sie seine Schwachheit vermehrt und nährt, um es nicht zu Gefühl derselben gelangen zu lassen, und wenn sie in der Hoffnung, es den Naturgesetzen entziehen zu können, alle schmerzlichen Berührungen von ihm fernhält, ohne zu bedenken, daß sie dasselbe gerade dadurch, daß sie es für den Augenblick vor geringem Ungemach behütet, für die Zukunft nur um so größeren Unfällen und Gefahren aussetzt, und wie barbarisch eine Vorsicht ist, die nur den Erfolg haben kann, ihm auch unter den Mühen und Arbeiten, die das Mannesalter erheischt, die Schwäche des Kinderalters zu erhalten. Thetis tauchte, der Sage nach, ihren Sohn, um ihn unverwundbar zu machen, in die Fluten des Styx. Diese Allegorie ist schön und deutlich. Die grausamen Mütter, von denen ich rede, handeln anders: dadurch daß sie ihre Kinder in die Weichlichkeit eintauchen, härten sie sie nicht gegen die Leiden ab, sondern machen sie erst recht empfänglich für dieselben, öffnen ihre Poren allerlei Uebeln, denen sie sicherlich als Erwachsene zum Opfer fallen werden.18[35]

Die erste Regel ist, die Natur zu beobachten und dem Wege zu folgen, den sie vorzeichnet. Sie übt stetig und ununterbrochen die Kinder; sie härtet ihren Körper durch die mannigfaltigsten Prüfungen ab; sie macht sie schon früh mit Schmerzen und Beschwerden vertraut. Das Zahnen setzt sie fieberhaften Erscheinungen aus, heftiges Leibschneiden ruft bei ihnen krampfartige Zufälle hervor, anhaltender Husten droht sie zu ersticken; die Würmer quälen sie; Vollblütigkeit verdirbt ihre Säfte, Magensäure belästigt sie und ruft gefährlichen Ausschlag hervor. Fast das ganze erste Lebensalter ist eine Reihe von Krankheiten und Gefahren; die Hälfte aller Kinder, die geboren werden, stirbt noch vor[36] dem achten Lebensjahr. Im Kampf mit diesen Prüfungen gewinnt aber das Kind Kräfte, und versteht es erst einmal das Leben richtig anzuwenden, so wird auch der Lebensgrund fester und gesicherter.

So lautet die einfache Regel der Natur. Warum handelt ihr derselben zuwider? Begreift ihr nicht, daß ihr in dem vergeblichen Wahn, sie zu verbessern, ihr Werk zerstört, daß ihr den Erfolg ihrer Bestrebungen verteilt? Auch äußerlich das tun, was sie innerlich tut, haltet ihr für eine Verdopplung der Gefahr, und doch ist es gerade im Gegenteil eine Ablenkung, eine Abschwächung derselben. Die Erfahrung lehrt, daß von den verzärtelten Kindern eine ungleich größere Anzahl stirbt als von den übrigen. Wenn man nur nicht über das Maß ihrer Kräfte hinausgeht, so läuft man bei entsprechender Anstrengung derselben weniger Gefahr als bei übertriebener Schonung. Uebt sie also mit Rücksicht auf die Schicksalsschläge, welche sie einst zu ertragen haben werden. Härtet ihre Körper gegen Rauheit der Jahreszeiten, der Klimate, der Elemente, gegen Hunger Durst und Strapazen ab; taucht sie in die Fluten des Styx. Vor Annahme einer anderen festen Gewohnheit kann man den Körper gefahrlos an das, was man wünscht und bezweckt, gewöhnen; hat sich jedoch erst eine gewisse Festigkeit herausgebildet, dann ist jeder Wechsel, jede Veränderung mit Gefahren verknüpft. Ein Kind vermag Veränderungen zu ertragen, die ein Mann nicht ertragen könnte; die noch weichen und geschmeidigen Fibern des erstern nehmen ohne große Mühe jede beliebige Biegung an, die des Mannes dagegen verändern, da sie steifer geworden sind, nur noch mit Anwendung von Gewalt die einmal angenommene Richtung. Man kann deshalb wohl ein Kind abhärten und stark machen, ohne sein Leben und seine Gesundheit auf das Spiel zu setzen, und selbst wenn eine Gefahr mit unterlaufen sollte, so dürfte man nicht den geringsten Anstand nehmen. Da es nun einmal dem menschlichen Leben unauflöslich[37] anhaftende Gefahren sind, kann man da wohl besser tun, als sie gerade der Lebensperiode vorzubehalten, wo sie am wenigstens schädlich sind?

Je älter das Kind, desto kostbarer wird sein Leben. Zu dem Wert seiner eigenen Persönlichkeit tritt auch der der Sorgen und Pflege, die es gekostet hat, hinzu. Ein je größerer Teil seines Lebens schon verstrichen ist, desto lebhafter erwacht in ihm das Todesgefühl. Der Gedanke an die Zukunft des Kindes muß demnach bei der Sorge für seine irdische Erhaltung hauptsächlich vorherrschend sein, man muß, ehe es so weit gelangt ist, dasselbe gegen die Uebel der Jugend waffnen; denn wenn sich der Wert des Lebens bis zu dem Alter erhöht, wo man dieses nutzbar zu machen versteht, welche Torheit ist es dann nicht, der Kindheit einige Uebel zu ersparen, da man sie im Alter der Vernunft dadurch vermehrt? Sind das die Lehren des Meisters?

Das Los der Menschheit bringt es nun einmal mit sich, daß uns jede Lebenszeit Leiden auferlegt. Sogar die Sorge für die bloße Erhaltung ist mit Mühseligkeiten verbunden. Von Glück hat zu sagen, wer in seiner Jugend nur die physischen Uebel kennen lernt, Uebel, die weit weniger qualvoll sind, weit weniger schmerzen als die übrigen, und auch weit seltner uns zum Lebensüberdruß treiben. Nicht um den Schmerzen der Gicht zu entfliehen, tötet man sich; schwerlich vermögen andere als Seelenleiden uns zur Verzweiflung zu bringen. Wir beklagen das Los der Kindheit, und sollten eher unser eigenes beklagen. Unser größtes Uebel bereiten wir uns selbst.

Mit Weinen tritt das Kind in die Welt; unter Weinen verfließt seine erste Kindheit. Bald wiegt, bald liebkost man es, um es zum Schweigen zu bringen. Entweder tun wir ihm den Willen, oder wir verlangen, daß es uns den Willen tut; entweder unterwerfen wir uns seinen Launen oder wir unterwerfen es den unsrigen; einen Mittelweg scheint man[38] nicht zu kennen; es muß Befehle erteilen oder annehmen. Auf diese Weise eignet es sich zuerst die Begriffe von Herrschaft und Knechtschaft an. Noch ehe es sprechen kann, gebietet es schon; ehe es handelnd auftreten kann, gehorcht es, ja bisweilen züchtigt man es, noch ehe es seine Fehler einzusehen, oder vielmehr, ehe es solche zu begehen imstande ist. Dadurch flößt man seinem jungen Herzen schon frühzeitig Leidenschaften ein, die man nachher der Natur zur Last legt, und nachdem man sich förmlich Mühe gegeben hat, das Kind unartig zu machen, beschwert man sich darüber, es so zu finden.

In dieser Weise bringt ein Kind sechs oder sieben Jahre unter den Händen der Frauen zu, ein Opfer ihrer und seiner eigenen Launenhaftigkeit, und nachdem man ihm die und das beigebracht hat, daß heißt nachdem man sein Gedächtnis mit Worten, die ihm unverständlich geblieben sind, oder mit allerlei nutzlosen Dingen überladen, nachdem man sein natürliches Wesen durch Leidenschaften, die man künstlich in ihm erweckt und genährt, völlig erstickt hat, überläßt man dies Kunstprodukt einer verschobenen Erziehung den Händen eines Lehrers, der sich alle Mühe gibt, die vorgefundenen künstlichen Keime zu entwickeln und auszubilden, der es alles lehrt, nur nicht sich selbst zu erkennen, nur nicht seiner selbst Herr zu sein, nur nicht die Kunst zu leben und sich glücklich zu machen. Wenn nun endlich dieses Kind Sklave und Tyrann in einer Person, voller Wissen und doch verstandesschwach, ebenso kraftlos an Körper wie an Geist, in die Welt hinausgeschleudert wird, wenn es in derselben seine Verschrobenheit, seinen Stolz und alle seine Fehler offen zur Schau trägt, so erfüllt uns ein solcher Anblick mit aufrichtiger Trauer über das menschliche Elend und die menschliche Verkehrtheit. Aber man täuscht sich: das ist lediglich der Mensch unserer Einbildung; der Mensch, wie er aus der Hand der Natur hervorgegangen ist, zeigt uns ein anderes Bild.[39]

Verlangt ihr nun, das er seine ursprüngliche Form bewahre, so erhaltet sie gleich von dem Augenblick an, wo er zur Welt kommt. Unmittelbar nach der Geburt müßt ihr euch seiner bemächtigen, und verzichtet ja auf seine Erziehung nicht, bevor er erwachsen ist. Wie die Mutter die eigentliche Amme ist, so ist der Vater der eigentliche Lehrer. Sie müssen in bezug auf das Ineinandergreifen ihrer Tätigkeiten, sowie in bezug auf das zu befolgende System in völligem Einverständnis sein; aus den Händen des einen muß das Kind in die des anderen übergehen. Es wird von einem vernünftigen, wenn auch, was die Kenntnisse anlangt, etwas beschränkten Vater besser als von dem geschicktesten Lehrer der Welt erzogen werden, denn der Eifer wird das Talent eher als das Talent den Eifer ersetzen.

Allein die leidigen Geschäfte, die amtlichen Obliegenheiten, die Pflichten – – – Ach, die Pflichten! Die Vaterpflicht ist also gewiß die allerletzte?19 Es setzt uns durchaus nicht in Erstaunen, daß ein Mann, dessen Frau es verschmäht hat, die Frucht ihrer Verbindung zu nähren, es nun auch seinerseits verschmäht, dieselbe zu erziehen. Es gibt kein fesselnderes Bild als das der Familie; aber ein einziger häßlicher Zug entstellt alle übrigen. Wenn die Mutter sich mit Rücksicht auf ihre wankende Gesundheit außerstande fühlt, ihren Kindern die Brust zu geben, so[40] wird den Vater die Ueberlast von Geschäften abhalten, ihr Lehrer zu sein. Die Kinder, aus der Heimat entfernt, in Erziehungsanstalten, in Klöstern, in Schulen untergebracht, werden die Liebe zum väterlichen Hause auf andere übertragen oder, um mich richtiger auszudrücken, ohne eine Spur von Anhänglichkeit und Zuneigung für irgend jemand zurückkehren. Brüder und Schwestern werden sich kaum kennen. Bei besonderen feierlichen Zusammenkünften werden sie sich zwar mit ausgesuchtester Höflichkeit entgegenkommen, aber sich doch fremd gegenüberstehen. Sobald zwischen den Eltern keine aufrichtige Zuneigung mehr besteht, sobald der Familienkreis nicht mehr die Würze des Lebens ausmacht, muß man wohl in lockren Sitten seinen Ersatz suchen. So geistesschwach ist gewiß niemand, daß er nicht den logischen Zusammenhang aller dieser Uebelstände einsehen sollte!

Durch Zeugung und Ernährung seiner Kinder kommt ein Vater nur dem dritten Teil der an ihn herantretenden Pflichten nach. Seinem Geschlecht schuldet er Menschen, der Gesellschaft schuldet er gesellige und umgängliche Menschen, dem Staat schuldet er Bürger. Wer diese dreifache Schuld abzutragen vermag und es nicht tut, macht sich schuldig und noch schuldiger vielleicht, wenn er sie nur zur Hälfte abträgt. Wer die Pflichten eines Vaters nicht zu erfüllen vermag, hat auch kein Recht, es zu werden. Keine Armut, keine Arbeit, keine menschliche Rücksicht irgendwelcher Art kann ihn davon lossprechen, seine Kinder zu ernähren und sie selbst zu erziehen. Schenket mir Glauben, lieber Leser! Ich sage es einem jeden, der noch Gefühl hat und so heilige Pflichten verabsäumt, voraus, daß er seine Fehler lange bitterlich wird beweinen müssen, ohne je Trost zu finden.20

Was tut nun aber dieser reiche Mann, dieser so mit Geschäften überladene Familienvater, daß er sich, wie er[41] überall vorgibt, leider abgehalten sieht, seinen Kindern seine volle Fürsorge zu widmen? Er bezahlt einen anderen Mann, um die Pflichten, die ihm selbst zu beschwerlich sind, zu übernehmen. Feile Seele! Bildest du dir ein, deinem Sohn für Geld einen zweiten Vater geben zu können? Täusche dich nicht; nicht einmal einen Lehrer gibst du ihm auf diese Weise, es ist nur ein Knecht. Bald wird er einen zweiten aus ihm machen.

Man spricht viel über die Eigenschaften eines guten Erziehers. Als die erste und vornehmlichste, welche allein schon die Voraussetzung vieler andrer ist, würde ich verlangen, daß er kein bloßer Mietling ist. Es gibt Berufsarten, die so edel sind, daß man sich, wenn man sie zum Lohnerwerb herabwürdigt, ihrer unwert macht: ein solcher ist der Beruf des Vaterlandsverteidigers und ebenso der des Erziehers. – Wer soll also mein Kind erziehen? – Ich habe es dir schon gesagt, du selbst. – Ich kann es nicht! – Du kannst es nicht! Nun, so suche dir einen Freund zu erwerben; ich wüßte sonst nicht, wie dir zu helfen ist.

Ein Erzieher! O welch ein erhabene Seele! Fürwahr, um einen Menschen zu bilden, muß man entweder Vater oder mehr als ein Mann sein. Und ein solches Amt vertraut ihr ruhig Mietlingen an!

Je mehr man darüber nachdenkt, auf desto mehr neue Schwierigkeiten stößt man. Der Erzieher hätte für seinen Zögling, die Diener hätten für ihren Herrn erzogen werden müssen, alle, die ihm nahe kommen, hätten die Eindrücke, welche sie ihm mitteilen sollen, empfangen müssen. Von Erziehung zu Erziehung müßte man bis zu den frühesten Uranfängen zurückgehen. Wie ist es möglich, daß ein Kind von jemandem gut erzogen wird, der selbst nicht gut erzogen ist?

Sollte sich ein solcher seltener Sterblicher nicht auffinden lassen? Ich weis es nicht. Wer will sich vermessen zu bestimmen, bis zu welcher Höhe der Tugend sich selbst in dieser[42] Zeit der Erniedrigung eine menschliche Seele emporzuschwingen vermag? Allein nehmen wir einmal an, dieser Wundermann sei entdeckt. Bei der Erwähnung und Feststellung seiner Obliegenheiten werde wir einsehen, was er sein soll. Im voraus halte ich es für selbstverständlich, daß ein Vater, der den ganzen Wert eines guten Erziehers zu schätzen wüßte, sich dazu entschließen würde, auf einen solchen zu verzichten; denn er würde mehr Zeit und Mühe daran setzen müssen, ihn sich zu verschaffen als selbst einer zu werden. Will er sich deshalb nach einem Freunde umsehen, so möge er lieber seinen Sohn dazu erziehen; dann ist er der Mühe überhoben, ihn anderwärts zu suchen, und die Natur hat schon die Hälfte des Werkes ausgerichtet.

Jemand, von dem mir nichts weiter als sein Rang bekannt ist, hat mir die Erziehung seines Sohnes an vertrauen wollen. Unstreitig hat er mir dadurch eine große Ehre erwiesen; allein anstatt meinen ablehnenden Bescheid zu beklagen, hat er vielmehr alle Ursache, über die gehegten Bedenken froh zu sein: hätte ich sein Anerbieten angenommen und meine Methode hätte sich als irrtümlich herausgestellt, so wäre meine Erziehung mißlungen gewesen; hätte ich dagegen glückliche Resultate erzielt, so wäre es noch schlimmer gewesen. Sein Sohn hätte auf seinen Titel verzichtet, er hätte nicht mehr Prinz sein wollen.

Ich bin von der Größe der Pflichten eines Erziehers zu sehr durchdrungen und fühle meine Unfähigkeit in zu hohem Grade, um je ein solches Amt anzunehmen, von welcher Seite es mir auch immer angetragen werden möge, und selbst das Interesse der Freundschaft würde für mich nur ein neuer Beweggrund der Ablehnung sein. Ich bin überzeugt, daß sich nach Lektüre dieses Buches nur wenige versucht fühlen werden, mir ein solches Anerbieten zu machen, und ich bitte diejenigen, welche sich etwa doch dazu verstehen könnten, sich keine vergebliche Mühe zu geben. Der Versuch, den ich in früherer Zeit mit der Erziehungskunst gemacht,[43] hat mir den genügenden Beweis geliefert, daß ich mich nicht für diese eigne, und meine äußere Lage würde mir die Ausübung desselben auch dann unmöglich machen, wenn es mir an der nötigen Befähigung nicht gebräche. Diese öffentliche Erklärung glaube ich denen schuldig zu sein, welche eine zu geringe Meinung von mir zu hegen scheinen, um mich für aufrichtig und fester Entschlüsse fähig zu halten.

Außerstande die schwerere Aufgabe zu lösen, will ich mich wenigstens an die leichtere heranwagen; nach dem Beispiel so vieler anderer will ich nicht die Hand ans Werk legen, sondern an die Feder, und anstatt das Erforderliche zu tun, will ich mich es zu sagen bemühen.

Ich weiß recht wohl, daß die Verfasser bei ähnlichen Unternehmungen in ihren Systemen, mit deren praktischer Ausführung sie sich nicht zu befassen brauchen, mit der größten Seelenruhe und in der oberflächlichsten Weise viel prächtig klingende, aber ganz unpraktische Vorschriften zu machen pflegen, und daß weil sie es an der Besprechung der Einzelheiten und an den nötigen Beispielen fehlen lassen, selbst das Ausführbare so lange ohne Nutzen bleibt, bis sie die Ausführbarkeit gezeigt haben.

Um mich nun nicht ähnlichen Vorwürfen auszusetzen, bin ich auf den Ausweg verfallen, mir einen imaginären Zögling zu geben, mich selbst mit dem Alter, der Gesundheit, den Kenntnissen, und allen Fähigkeiten ausgerüstet zu denken, die dazu gehören, seine Erziehung zu leiten, und endlich diese von seiner Geburt an bis zu dem Augenblick fortzuführen, wo er, in der Vollkraft seines Mannesalters, imstande ist, ohne fremde Führung durch das Leben zu schreiten. Diese Methode halte ich für ganz besonders geeignet, einen Schriftsteller, der seiner selber nicht ganz sicher ist, davon zurückzuhalten, sich in utopistische Träumereien zu verlieren; denn sobald er von der herkömmlichen Erziehungsweise abweicht, braucht er nur die seinige an seinem[44] Zögling der Probe zu unterwerfen. Dann wird er, oder der Leser statt seiner, bald herausfühlen, ob er der stetigen Entwicklung der Kindheit und dem natürlichen Gang des menschlichen Herzens folgt.

Und das zu tun bin ich unter allen Schwierigkeiten, die sich mir entgegenstellten, aufrichtig gewesen. Um mein Buch nicht unnützerweise noch umfangreicher zu machen, habe ich mich damit begnügt, diejenigen Grundsätze aufzustellen, deren Wahrheit unanfechtbar ist. Was dagegen die Regeln anlangt, die noch erst des Beweises bedürfen, so habe ich sie alle auf meinem Emil oder auf andere Beispiele angewandt und die Ausführbarkeit meiner Behauptungen an Einzelheiten weitläufig nachgewiesen. Diesen Plan habe ich mich wenigstens innezuhalten bemüht, inwieweit es mir gelungen ist, möge der Leser selbst beurteilen.

Der Grund, weshalb ich anfangs wenig von Emil gesprochen habe, liegt darin, daß meine Hauptgrundsätze der Erziehung, in so schroffem Gegensatze sie auch zu den jetzt giltigen stehen, so klar überzeugend sind, daß ihnen schwerlich ein vernünftiger Mensch seine Zustimmung wird versagen können. Allein je weiter mein Werk fortschreitet, desto unähnlicher wird mein Zögling, der ja ganz anders als die eurigen geleitet ist, einem gewöhnlichen Kinde; er bedarf einer ganz besonderen, nur für ihn bestimmten Leitung. Fortan erscheint er aber häufiger auf dem Schauplatz und zuletzt verliere ich ihn auch nicht einen einzigen Augenblick aus dem Gesicht, bis er schließlich, was er auch dazu sagen möge, meiner nicht im geringsten mehr bedarf.

Ich will hier noch von den Eigenschaften eines guten Erziehers reden; ich setze sie stillschweigend voraus, sowie, daß ich mich ihres Besitzes zu erfreuen habe. Der Leser dieses Werkes wird sehen, mit welcher Freigebigkeit ich mich bedacht habe.

Der allgemeinen Ansicht entgegen will ich mir nur die einzige Bemerkung erlauben, daß der Erzieher eines Kindes[45] jung und sogar so jung sein muß, als ein verständiger Mann nur sein kann. Ich wünschte, daß er womöglich selbst ein Kind wäre, daß er der Kamerad seines Zöglings werden und sich durch Teilnahme an seinen Spielen und Belustigungen sein Vertrauen erwerben könnte. Die Kindheit und das reife Alter haben zu wenig Gemeinsames, als daß sich bei diesem Abstand je eine echte und innige Zuneigung entwickeln kann. Die Kinder sind wohl gegen Greise bisweilen zärtlich, nie werden sie dieselben aber lieben.21

Man pflegt den Wunsch zu hegen, daß ein Erzieher schon früher eine Erziehung geleitet habe. Allein das ist zuviel; ein und derselbe Mensch kann nur eine einzige Erziehung übernehmen; bedürfte es, um zu einem glücklichen Resultat zu kommen, erst der Erfahrungen einer früheren, mit welchem Recht würde man die erste zu übernehmen wagen?

Im Besitz einer größeren Erfahrung würde man es freilich besser anzugreifen verstehen, aber man würde sein reicheres Wissen gar nicht mehr verwerten können. Wer sich einmal dieser Mühwaltung mit solcher Hingebung unterzogen hat, daß er alle Lasten und Beschwerden derselben empfunden hat, der läßt sich zur Uebernahme dieses Amtes gewiß nicht zum zweitenmal gewinnen, und hat er das erstemal keine günstigen Erfolge erzielt, so ist das ein schlimmes Vorzeichen für das zweitemal.

Es ist ein gewaltiger Unterschied, das will ich gern einräumen, einen jungen Menschen vier Jahre lang unter Augen zu haben oder ihn fünfundzwanzig Jahre lang zu leiten. Ihr überlaßt euren Sohn erst dann einem Erzieher, wenn seine Entwicklung schon eine bestimmte Richtung angenommen hat; ich dagegen will ihm einen schon vor seiner Geburt geben. Euer Erzieher kann alle paar Jahre einen[46] neuen Schüler er halten; der meinige wird nie mehr als einen haben. Ihr macht zwischen Lehrer und Erzieher einen Unterschied: eine neue Torheit. Macht ihr denn etwa zwischen Schüler und Zögling einen Unterschied? In einer einzigen Wissenschaft braucht man die Kinder zu unterweisen, in der Wissenschaft von den Pflichten des Menschen. Diese Wissenschaft bildet eine völlig in sich abgeschlossene Einheit, und was auch immer Xenophon von der Erziehung der Perser gesagt hat, sie läßt sich nicht teilen. Uebrigens nenne ich den Lehrer dieser Wissenschaft weit lieber Erzieher als nur Lehrer, weil es sich für ihn weniger um Unterrichtserteilung als um angemessene Leitung handelt. Er soll nicht bloß Regeln geben, sondern seinen Zögling daran gewöhnen, sie selbst aufzufinden.

Wenn man aber bei der Wahl eines Erziehers mit so großer Vorsicht zu Werke gehen muß, so wird es diesem wohl ebenfalls gestattet sein müssen, sich seinen Zögling zu wählen, besonders wenn man sich die Aufgabe gestellt hat, ein Muster aufzustellen. Auf diese Wahl vermögen weder die Anlagen noch der Charakter des Kindes einen bestimmenden Einfluß auszuüben, da sie sich ja erst nach Vollendung des Werkes ganz erkennen lassen, und ich mir meinen Zögling schon vor seiner Geburt wähle. Wenn mir die Wahl freistände, würde sie auf ein Kind fallen, das sich durch keine hervorragenden Anlagen auszeichnet, und so stelle ich mir auch meinen Zögling vor. Nur gewöhnliche Menschen bedürfen der Erziehung, ihre Erziehung, allein kann für diejenigen, welche bei allen ihnen an Begabung Gleichstehenden beobachtet werden muß, zum Muster dienen. Die anderen erziehen sich aller Gegenbemühungen ungeachtet allein.

Das Land ist für die Bildung der Menschen ebenfalls von wesentlichem Einfluß. Nur in den gemäßigten Himmelsstrichen können sie die höchste Entwicklungsstufe erreichen. Der schädliche Einfluß der extremen Klimate läßt sich deutlich nachweisen. Ein Mensch wird nicht wie ein Baum in[47] ein Land gepflanzt, um beständig darin zu bleiben, und wer von einem Extremen zum anderen gelangen will, ist gezwungen, einen doppelt so großen Weg wie derjenige zurückzulegen, der vom Mittelpunkt aus demselben Ziel entgegeneilt.

Selbst in dem Fall, daß der Bewohner eines gemäßigten Himmelsstriches die beiden klimatischen Extreme nacheinander durchreist, ist er offenbar im Vorteil; denn obgleich er dem klimatischen Temperaturwechsel in gleich hohem Grade wie derjenige ausgesetzt ist, welcher von einem äußersten Endpunkte zum andern geht, so entfernt er sich dennoch um die Hälfte weniger von den ihm zusagenden und gewohnten Verhältnissen. Ein Franzose ist ebensogut imstande, in Guinea wie in Lappland zu leben, aber ein Neger wird nicht ebensogut in Tornea, noch ein Samojede in Benin auszuhalten vermögen. Uebrigens scheint auch die Organisation des Gehirnes innerhalb der beiden äußersten Zonen weniger vollkommen zu sein. Weder die Neger noch die Lappen können sich an Verstand mit den Europäern messen. Hege ich also den aufrichtigen Wunsch, daß mein Zögling sich überall auf Erden aufzuhalten vermag, so werde ich ihn mir aus einer der beiden gemäßigten Zonen wählen, aus Frankreich zum Beispiel lieber als anderswoher.

Im Norden bedürfen die Menschen auf ihrem unergiebigen Boden viel Nahrungsstoff, im Süden dagegen auf fruchtbarem Boden nur wenig. Daraus ergibt sich eine neue Verschiedenheit, indem erstere zur rastlosen Tätigkeit gezwungen werden, während letztere ein mehr beschauliches Leben führen. Ein Bild dieser Verschiedenheit bietet uns die heutige Gesellschaft an einem und demselben Ort in den Armen und den Reichen dar. Jene bewohnen den unergiebigen Boden, diese den fruchtbaren.

Der Arme hat keine Erziehung nötig; die für seinen Stand ausreichende wird ihm schon durch die Verhältnisse aufgezwungen; er wäre nicht in der Lage, sich eine andere zu verschaffen. Im Gegenteil ist die Erziehung, welche der[48] Reiche von seinem Stande erhält, sowohl ihm selbst als auch der Gesellschaft am wenigsten dienlich. Außerdem muß eine naturgemäße Erziehung nicht einen einzigen Stand ins Auge fassen, sondern einem Menschen die Fähigkeit mitteilen, sich in allen Lebenslagen bewegen zu können. Nun ist es aber offenbar vernünftig, einen Armen mit Rücksicht auf die Möglichkeit, dereinst reich zu werden, als einen Reichen mit Rücksicht auf sein mögliche Verarmung zu erziehen, denn es steht fest, daß die Zahl der Verarmten die der Emporgekommenen überwiegt. Unsere Wahl soll deshalb auf einen Reichen fallen; wenigstens werden wir dann zu der befriedigenden Gewißheit gelangen, einen Menschen mehr gebildet zu haben, wohingegen ein Armer durch sich selbst ein Mensch zu werden vermag.

Aus demselben Grund würde es mir nicht unlieb sein, wenn Emil von vornehmer Abkunft wäre. Immer würde dadurch dem Vorurteil ein Opfer entrissen werden.

Ich betrachte Emil als Waise, wenn er auch noch Vater und Mutter hat. Durch Uebernahme ihrer Pflichten trete ich auch in alle ihre Rechte. Seinen Eltern soll er Ehrerbietung erweisen, Gehorsam dagegen nur mir allein. Das ist meine erste oder vielmehr meine einzige Bedingung.

Freilich muß ich noch eine hinzufügen, die jedoch nur eine notwendige Folge derselben ist, daß man uns nämlich ohne unsere ausdrückliche Zustimmung nie voneinander trennen darf. Diese Bedingung ist durch aus notwendig, und ich wünschte sogar, der Erzieher und der Zögling betrachteten sich in so hohem Maße unzertrennlich, daß ihr Lebenslos eine ihnen gemeinsame Aufgabe bildete. Sobald ihnen ihre Trennung stets vor Augen schwebt, sobald sie den Augenblick voraussehen, von dem an sie sich wieder fremd entgegentreten werden, so sind sie es schon; jeder schmiedet seine besonderen Pläne, und beide, stets mit der Zeit beschäftigt, wo sie nicht mehr beisammen sein werden, bleiben es nur noch widerwillig. Der Schüler sieht in dem[49] Lehrer nur noch den Aufpasser und den Quälgeist seiner Kinderjahre; der Lehrer erblickt dagegen in dem Schüler nur noch eine drückende Last, nach deren Abnahme er sich herzlich sehnt; beide sehnen sich gleich sehr nach dem Augenblick, der sie voneinander erlösen soll, und da unter ihnen nie eine aufrichtige Zuneigung geherrscht hat, wird es der eine ebensosehr an Wachsamkeit wie der andere an Gelehrigkeit fehlen lassen.

Wenn sie dagegen ihre Lebenswege als unzertrennlich miteinander verbunden betrachten, wird jeder sich die Liebe des anderen zu gewinnen suchen, und schon durch dieses Streben allein werden sie einander wert. Der Zögling fühlt sich nicht beschämt, in seiner Jugend den Ratschlägen eines Freundes folgen zu müssen, der ihm auch, wenn er erwachsen ist, seine Freundschaft nicht entziehen wird, und der Erzieher gibt sich mit ganzer Seele Sorgen und Mühen hin, deren Frucht er pflücken soll; alle die Verdienste, die er sich bei der Erziehung seines Zöglings erwirbt, bilden ein Kapital, das ihm in seinem Alter zugute kommt.

Ein solcher schon im voraus abgeschlossener Vertrag setzt natürlich eine glücklich verlaufende Geburt, ein wohlgebildetes, kräftiges und gesundes Kind voraus.

Ein Vater darf keine Vorliebe haben und kein Glied der Familie, die Gott ihm schenkt, auf Kosten der anderen bevorzugen; alle seine Kinder sind in gleicher Weise seine Kinder; allen ist er die nämliche aufmerksame Pflege schuldig. Ob sie verkrüppelt sind oder nicht, ob sie siech sind oder kräftig, jedes von ihnen ist ein anvertrautes Gut, über welches er dermaleinst dem, aus dessen Hand er es empfängt, wird Rechenschaft ablegen müssen; und die Ehe ist ein Vertrag, der nicht weniger mit der Natur als zwischen den Eheleuten abgeschlossen wird.

Wer sich aber nun freiwillig einer Pflicht unterzieht, welche ihm die Natur keineswegs auferlegt hat, muß sich vorher auch der Mittel, sie zu erfüllen, versichern, sonst macht[50] er sich für die ungenügende und mangelhafte Erfüllung selbst verantwortlich. Wer sich mit der Sorge für einen schwächlichen und kränklichen Zögling belastet, vertauscht seinen Erzieherberuf mit dem Dienst eines Krankenwärters; er verliert seine Zeit damit, ein unnützes Leben zu pflegen, anstatt er sie einzig und allein der Aufgabe widmen sollte, den Wert eines Menschenlebens zu erhöhen. Er setzt sich selbst der Gefahr aus, daß ihm eines Tages eine trostlose Mutter den Tod ihres Sohnes, welchen er ihr lange Zeit künstlich erhalten hat, zum Vorwurf macht.

Ich würde gewiß nicht die Last der Erziehung eines kränklichen und durch und durch ungesunden Kindes auf mich nehmen, und sollte es auch sein Dasein bis zum höchsten Greisenalter fristen. Ich will nichts von einem Zögling wissen, der weder sich noch anderen Nutzen schaffen kann, der sein ausschließliches Augenmerk auf seine leibliche Erhaltung richtet, und dessen eigener Körper der Erziehung der Seele hinderlich in den Weg tritt. Durch die vergebliche Verschwendung meiner Sorgen an denselben würde ich nur den Verlust der Gesellschaft verdoppeln und ihr statt eines Menschen gleich zwei entziehen. Ich habe nichts dagegen, wenn sich statt meiner ein anderer mit diesem Schwächling befaßt, und ich kann seinem Liebeswerk meine Billigung nicht versagen, allein mir ist diese Fähigkeit nicht gegeben: ich verstehe mich nicht darauf, jemanden leben zu lehren, der unaufhaltsam dem Tode zueilt.

Der Körper muß notwendigerweise Kraft besitzen, wenn er anders der Seele gehorchen soll; ein guter Diener muß stark sein. Ich weiß, daß die Unmäßigkeit die Leidenschaften weckt; auf die Länge schwächt sie auch den Körper; aber umgekehrt bringen auch Kasteiungen und Fasten durch entgegengesetzte Ursachen oft dieselbe Wirkung hervor. Je schwächer der Körper ist, desto gebieterischer tritt er auf; je stärker er ist, desto gehorsamer ist er. Alle sinnlichen Leidenschaften wohnen in verweichlichten Körpern; je weniger[51] dieselben sie zu befriedigen vermögen, desto mehr leiden sie unter ihren Einflüssen.

Ein kraftloser Körper schwächt auch die Seele. Daher entspringt die Herrschaft der Arzneikunst, einer Kunst, welche den Menschen jedenfalls gefährlicher ist als alle Uebel, die sie sich zu heilen rühmt. Ich meinesteils kenne wenigstens die Krankheit nicht, von welcher uns die Aerzte zu heilen vermögen; so viel aber weiß ich, daß sie die Schuld an den unheilvollsten Leiden tragen, welche die Menschheit beunruhigen, nämlich an der Feigheit, dem Kleinmut, der Leichtgläubigkeit und der Furcht vor dem Tode; während sie den Körper heilen, ertöten sie den Mut. Was kann es darauf ankommen, wenn sie doch nur wandelnden Leichnamen scheinbares Leben einhauchen? Menschen sind uns nötig, aber solche sieht man aus ihren Händen nicht hervorgehen.

Das Medizinieren ist unter uns Mode geworden, und das kann nicht anders sein. Es gehört zu dem Zeitvertreib geschäftsloser Müßiggänger, welche nicht wissen, was sie mit ihrer Zeit anfangen sollen und sie deshalb nur in der Sorge für ihre leibliche Erhaltung vergeuden. Hätten sie das Glück gehabt, als Unsterbliche in die Welt zu treten, so würden sie die elendesten Wesen sein. Ein Leben, dessen Verlust sie nie zu befürchten brauchten, würde ihnen wertlos erscheinen. Dergleichen Leute müssen durchaus Aerzte haben, die ihnen den Gefallen tun, sie in ewiger Todesfurcht zu erhalten, und die ihnen täglich das einzige Vergnügen, für das sie noch empfänglich sind, bereiten, das Vergnügen, noch nicht gestorben zu sein.

Es liegt nicht in meiner Absicht, mich hier weitläufig über die Richtigkeit der Arzneikunst zu verbreiten. Mein Zweck ist nur, sie von der sittlichen Seite zu betrachten. Gleichwohl kann ich die Bemerkung nicht zurückhalten, daß sich die Menschen über ihren Nutzen genau denselben Trugschlüssen[52] hingeben, wie über die Erforschung der Wahrheit. Sie gehen beständig von der Voraussetzung aus, daß der Kranke, welcher sich in ärztlicher Behandlung befindet, auch Heilung erhält, und daß das Suchen nach der Wahrheit auch zum Finden führt. Sie wollen nicht begreifen, daß man den Vorteil einer Heilung, welche man wirklich einmal dem Arzt zu verdanken hat, gegen den Tod von hundert Kranken, welchen er auf dem Gewissen hat, und den Nutzen einer neuentdeckten Wahrheit gegen den offenbaren Schaden abwägen muß, welchen die sich stets gleichzeitig daranknüpfenden Irrtümer hervorrufen. Die Wissenschaft, welche unterrichtet, und die Arzneikunst, welche heilt, sind unzweifelhaft sehr nützlich; aber die Wissenschaft, die uns Täuschungen, und die Kunst, die den Tod herbeiführt, sind schädlich. Könnte man uns wenigstens den Nachweis führen, wie sie sich unterscheiden lassen. Das ist die Hauptschwierigkeit. Wenn wir nicht so begierig darauf wären, beständig neue Wahrheiten zu entdecken, so würden wir uns nicht so oft von der Lüge hinter das Licht führen lassen; wenn wir nicht darauf ausgingen, gegen die Natur Genesung zu suchen, so würden wir niemals unter den Händen des Arztes sterben. Jedenfalls würde es Klugheit verraten, in diesen beiden Punkten eine gewisse Entsagung zu beobachten; durch Unterwerfung unter die Gesetze der Natur würde man augenscheinlich gewinnen. Ich bestreite also keineswegs, daß nicht die Arzneikunst einzelnen Menschen vorteilhaft sein könne, aber das behaupte ich entschieden, daß sie dem menschlichen Geschlecht im allgemeinen unheilvoll ist.

Man wird mir, wie man ja nicht müde wird, unaufhörlich zu tun, den Einwand machen, daß die begangenen Fehler leidiglich den einzelnen Aerzten zur Last gelegt werden müssen, daß indes die Arzneikunst an sich untrüglich sei. Ist dies in der Tat der Fall, dann nahe sie sich wenigstens den Kranken ohne Vermittlung eines besonderen Arztes, denn sobald sie zusammen erscheinen, werden wir von den[53] Irrtümern des Künstlers hundertmal mehr zu befürchten, als von seiner Kunst zu hoffen haben.22

Diese trügerische Kunst, die offenbar mehr gegen die Uebel des Geistes als gegen die des Körpers gerichtet ist, schafft gegen die einen ebensowenig Nutzen als gegen die anderen; sie heilt uns weniger von unseren Krankheiten, als daß sie uns vielmehr Schrecken vor denselben einflößt; sie hält den Tod weniger auf, als daß sie uns denselben im Gegenteil schon im voraus fühlen läßt; sie schwächt das Leben, anstatt es zu verlängern, und wenn sie es verlängerte, so würde selbst dies doch nur unserm Geschlecht zum Schaden gereichen, weil sie uns durch die stete Sorge für unser Wohl, zu der sie uns unablässig anspornt, der Gesellschaft entzieht, und durch die unaufhörliche Todesfurcht, in der sie uns erhält, uns von der Erfüllung unsrer Pflichten abhält. Die Kenntnis der Gefahren flößt uns Furcht vor denselben ein; wer sich für unverwundbar hielte, würde vor nichts Furcht empfinden. Indem der Dichter den Achill gegen die Gefahr waffnet, raubt er ihm das Verdienst der Tapferkeit; um denselben Preis wäre jeder andere an seiner Stelle ebenfalls ein Achill gewesen.

Nur an den Orten kann man Männer von wahrem Mut antreffen, wo es keine Aerzte gibt, wo man nicht fortwährend über die Gefahr der Krankheiten grübelt und nur wenig an den Tod denkt. Im Naturzustand versteht der Mensch standhaft zu leiden und ruhig zu sterben. Erst die Aerzte mit ihren Rezepten, die Philosophen mit ihren Vorschriften, die Priester mit ihren Ermahnungen rauben[54] ihm den Mut und lassen ihm keine Ruhe, bis er zu sterben verlernt.

Entweder muß der Zögling, den man mir anvertraut, alle diese Leute entbehren können, oder ich weise ihn zurück. Ich will nicht, daß mir andere mein Werk verderben; entweder will ich ihn allein erziehen oder gar nichts mit ihm zu schaffen haben. Der gelehrte Locke, welcher sich eine lange Zeit dem Studium der Medizin gewidmet hatte, empfiehlt angelegentlich, den Kindern weder aus Vorsorge noch wegen leichter Unpäßlichkeit Arznei zu geben. Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter und erkläre hiermit, daß ich den Arzt, welchen ich meinetwegen sowieso niemals rufe, auch nie wegen meines Emils rufen werde, es müßte denn sein Leben in augenscheinlicher Gefahr schweben, denn dann kann er ihn schlimmstenfalls ja auch töten.

Ich weiß recht wohl, daß der Arzt nicht verfehlen wird, aus dieser scheinbaren Saumseligkeit Vorteil zu ziehen. Stirbt das Kind, nun, so hat man ihn zu spät gerufen; kommt es davon, so wird die Rettung sein Werk sein. Mag es sein: möge der Arzt einen Triumph feiern; aber vor allen Dingen werde er nur in der äußersten Gefahr gerufen.

Das Kind muß, weil es ja doch nicht versteht, sich selbst zu heilen, zunächst lernen krank zu sein; diese Kunst ersetzt die erstere und führt oft weit glücklichere Erfolge herbei, sie ist die Kunst der Natur. Ist das Tier krank, so leidet es still und verhält sich ruhig, und gleichwohl sieht man nicht mehr sieche und kraftlose Tiere als Menschen. Wie viel Leute hat Ungeduld, Furcht, Aufregung und vor allen Dingen die Arznei getötet, welche ihrer Krankheit sicher nicht erlegen wären, sondern durch die Zeit allein Heilung gefunden hätten. Man wird mir einwenden, daß die Tiere wegen ihrer naturgemäßeren Lebensweise auch weniger Leiden als wir unterworfen sein müssen. Sehr richtig, und darum will ich gerade diese Lebensweise meinem Zögling[55] zur zweiten Natur machen; er wird den nämlichen Nutzen daraus ziehen.

Der einzige wirklich nützliche Teil der Arzneiwissenschaft ist die Gesundheitslehre; überdies ist sie weniger eine Wissenschaft als eine Tugend. Mäßigkeit und Arbeit sind die beiden wahren Aerzte des Menschen: die Arbeit reizt den Appetit, und die Mäßigkeit verhindert dessen mißbräuchliche Befriedigung.

Um mit Sicherheit festzustellen, welche Lebensweise dem Leben und der Gesundheit am meisten zusagt, braucht man nur zu erforschen, welche Lebensweise die Völker beobachten, welche am gesundesten und kräftigsten sind und es bis zum höchsten Alter bringen. Wenn sich durch die allgemeinen Beobachtungen nicht nachweisen läßt, daß die Ausübung der Arzneikunst dem Menschen eine festere Gesundheit und ein längeres Leben verleiht, so ist diese Kunst schon einfach infolge des Umstands, daß sie keinen Nutzen gewährt, schädlich, weil sie sich Zeit, Menschen und Dinge ohne allen Erfolg dienstbar macht. Nicht allein muß man die Zeit, welche man mit der leiblichen Erhaltung des Lebens verschwendet, die deshalb für den Genuß und die Abwendung desselben verloren ist, von der ganzen Lebensdauer in Abzug bringen, sondern sie ist sogar, da sie nur zu unserer Qual angewendet wird, noch schlimmer, als wenn sie gar nicht dagewesen wäre, sie ist geradezu negativ, und will man bei der Rechnung billig verfahren, so muß man sie eigentlich auch noch von unserem Lebensrest abziehen. Ein Mensch, der zehn Jahre der Aerzte nicht bedarf, lebt sowohl für sich als auch für andere länger als derjenige, der dreißig Jahre seines Lebens ihr Opfer ist. Da ich beide Zustände aus eigener Erfahrung kenne, so halte ich mich mehr als sonst irgend jemand für berechtigt, obigen Schluß daraus zu ziehen.

Das sind die Gründe, aus denen ich nur einen kräftigen und gesunden Zögling will, und die Grundsätze, durch deren[56] Anwendung ich ihn so zu erhalten gedenke. Ich werde mich nicht dabei aufhalten, erst weitläufig den Nutzen der Handarbeiten und der körperlichen Uebungen für die Kräftigung des Körpers, die Entwicklung des Charakters und die Gesundheit zu beweisen; niemand stellt ihn in Abrede; Beispiele eines langen Lebens finden sich fast nur bei solchen Menschen, die sich am meisten Bewegung gemacht, am meisten Anstrengung und Arbeit ertragen haben.23 Ebensowenig werde ich mich umständlich auf Einzelheiten hinsichtlich der Sorgfalt einlassen, die ich einzig und allein auf diesen Gegenstand zu verwenden gedenke. Man wird sehen, daß dieselben von meiner Methode untrennbar sind, so daß man, hat man nur erst den Geist erfaßt, keiner anderen Erklärung bedarf.

Gleichzeitig mit dem Leben beginnen die Bedürfnisse. Das neugeborene Kind muß eine Amme haben. Wenn die Mutter damit einverstanden ist, selbst ihre Pflicht zu erfüllen, desto besser, nur wird man ihr dann christliche Anleitung geben müssen, denn diesem Vorteil wird dadurch die Wage gehalten, daß er den Erzieher in etwas größerer[57] Entfernung von seinem Zögling hält. Indes läßt sich annehmen, daß das Wohl des Kindes, sowie die Achtung vor demjenigen, dem sie ein so teures Gut anvertrauen will, die Mutter bewegen werden, den Rat des Lehrers zu beachten, und außerdem kann man mit Sicherheit voraussetzen, daß sie ihre gefaßten Pläne auch besser als jede andere ausführen wird. Ist aber eine fremde Amme einmal nötig, so ist eine glückliche Wahl derselben die erste Hauptsache.

Zu den Unannehmlichkeiten, welchen reiche Leute ausgesetzt sind, gehört besonders der Umstand, daß sie bei allem betrogen werden. Darf man sich daher wundern, wenn sie eine schlechte Meinung von den Menschen haben? Der Reichtum verdirbt sie, und als gerechte Vergeltung fühlen gerade sie zuerst die Unvollkommenheit des einzigen Werkzeugs, welches ihnen bekannt ist. Was sie nicht selbst tun, wird bei ihnen alles schlecht ausgeführt; leider tun sie fast nie etwas. Die Auswahl einer Amme überläßt man dem Geburtshelfer. Was ist die Folge davon? Daß stets die für die beste gilt, welche demselben den größten Vorteil zugewandt hat. Ich werde mir deshalb wegen Emils Amme bei keinem Geburtshelfer Rat einholen; ich werde mich der Mühe, sie auszusuchen, selbst unterziehen. Freilich werde ich vielleicht die Gründe, die mich zu meiner Wahl bestimmt haben, nicht so beredt wie ein Arzt entwickeln können, aber sicherlich kann ich mehr Treu und Glauben für mich beanspruchen, und mein Eifer wird mich weniger täuschen als seine Habsucht.

Um eine solche Wahl treffen zu können, braucht man sich keineswegs erst einen Schatz geheimnisvoller Kenntnisse angeeignet zu haben; die Regeln dazu sind bekannt; indes weiß ich nicht, ob man nicht dem Alter sowie der Beschaffenheit der Milch noch ein wenig mehr Aufmerksamkeit schenken sollte. Die junge Milch der Wöchnerin ist noch völlig wässerig; sie muß beinahe eine auflösende und abführende Kraft besitzen, um die Eingeweide des neugeborenen Kindes[58] von dem letzten Rest zähen meconium zu reinigen. Nach und nach nimmt sie an Dichtigkeit zu und gibt dem Kinde, dessen Verdauungsvermögen schon stärker geworden ist, eine kräftige Nahrung. Gewiß verändert die Natur nicht ohne Ursache bei den Weibchen aller Tiergattungen die Dichtheit der Milch nach dem Alter des Säuglings.

Ein neugeborenes Kind müßte demnach auch eine erst vor kurzem entbundene Amme haben. Ich weiß nur zu wohl, welche Hindernisse dem entgegentreten; weicht man aber einmal von der Ordnung der Natur ab, so stößt man überall auf Hindernisse, wenn man seine Sache gut machen will; der bequemste Ausweg bleibt immer, seine Sache schlecht zu machen, und den ergreift man auch gewöhnlich.

Eine Amme sollte an Geist und Körper gleich gesund sein; zügellose Leidenschaften können ihre Milch ebenso wie schlechte Säfte verderben. Uebrigens faßt man, wenn man hierbei ausschließlich das Physische in Betracht zieht, den Gegenstand nur zur Hälfte ins Auge. Die Milch kann gut und die Amme gleichwohl schlecht sein; ein guter Charakter ist nicht weniger notwendig als eine gute Körperbeschaffenheit. Ich will zwar nicht behaupten, daß, wenn die Wahl auf eine lasterhafte Frau fällt, ihr Säugling ihre Last annehmen werde, aber so viel behaupte ich wenigstens, daß er darunter leiden werde. Soll sie ihm nicht außer der Milch, die sie ihm reicht, auch Pflege erweisen, welche Eifer, Geduld, Sanftmut und Reinlichkeit erfordert? Ist sie naschhaft, ist sie unmäßig, so wird sie binnen kurzem ihre Milch verdorben haben; ist sie nachlässig oder aufbrausend, wie wird es dann einem armen unglücklichen Wesen ergehen, daß ihrer Willkür völlig preisgegeben ist und sich weder verteidigen noch beschweren kann? Niemals werden die Schlechten etwas Gutes auszurichten imstande sein, was es auch immer sein möge.

Die Wahl der Amme ist um so wichtiger, als ihr Säugling keine andere Wärterin als sie haben soll, wie er auch[59] keinen anderen Lehrer als seinen Erzieher haben soll. So erheischte es die Sitte bei den Alten, die weniger Worte machten und doch verständiger waren als wir. Nachdem die Ammen die Kinder ihres Geschlechts gesäugt hatten, verließen sie dieselben nie mehr. Das ist auch die Ursache, weshalb in ihren Theaterstücken die meisten Vertrauten Ammen sind. Es ist ja auch unmöglich, daß ein Kind, welches nach und nach durch so viele verschiedene Hände geht, gut erzogen werden kann. Bei jedem Wechsel stellt es im geheimen Vergleichungen an, die stets darauf hinauslaufen, seine Achtung von seinen Erziehern und folglich auch ihre Autorität über dasselbe zu schwächen. Wenn sich erst einmal der Gedanke in ihm bildet, daß es Erwachsene gibt, die nicht mehr Vernunft haben als Kinder, so ist alles Ansehen des Alters sofort verloren und die Erziehung gescheitert. Ein Kind darf keine anderen Vorgesetzten als seinen Vater und seine Mutter kennen oder, in deren Stellvertretung, sein Amme und seinen Erzieher, ja sogar diese zwei sind schon um eins zuviel. Leider ist aber diese Teilung unvermeidlich, und nur dadurch läßt sich diesem Uebelstand einigermaßen abhelfen, daß die Personen beiderlei Geschlechts, welche das Kind erziehen, in bezug auf ihre verantwortliche Aufgabe so vollkommen übereinstimmen, daß sie in seinen Augen gleichsam nur ein einziges Ganze bilden.

Die Amme muß etwas bequemer leben, bedarf einer kräftigeren Kost, aber sie darf ihre Lebensweise nicht vollständig ändern, denn eine plötzliche und gänzliche Aenderung ist stets, sogar dann, wenn sie etwas Besseres an die Stelle des Schlechteren setzen sollte, der Gesundheit nachteilig; da ihre bisherige Lebensweise ihr die Gesundheit erhalten oder gegeben und sie derselben ihre kräftige Konstitution zu verdanken hat, welchen Nutzen würde sie durch eine Aenderung gewinnen?

Die Bäuerinnen essen weniger Fleisch und mehr Gemüse als die Städterinnen, und diese vegetabilische Kost scheint[60] ihnen und ihren Kindern eher zuträglicher als schädlich zu sein. Erhalten sie nun aber städtische Säuglinge, so setzt man ihnen fortwährend Suppen vor, fest überzeugt, daß kräftige Fleischbrühen sie zu dem Ernährungsgeschäft geeigneter machen, und ihnen mehr Milch geben. Ich bin durchaus nicht dieser Meinung, und auf meiner Seite habe ich die Erfahrung, welche uns lehrt, daß die auf diese Weise ernährten Kinder weit mehr als andere von Leibschmerzen und Würmern zu leiden haben.

Das ist auch gar nicht zu verwundern, da die animalische Substanz bei eintretender Fäulnis von Würmern wimmelt, was bei der vegetabilischen nicht in gleicher Weise stattfindet. Obgleich sich die Milch im tierischen Körper erzeugt, ist sie doch eine vegetabilische Substanz.24 Ihre Analyse weist dies nach; sie geht leicht in Säure über, und anstatt auch nur irgendeine Spur flüchtigen Laugensalzes zu liefern, wie es bei allen animalischen Substanzen der Fall ist, gibt sie vielmehr ein in hohem Grade neutrales Salz.

Die Milch der Grasfresser ist lieblicher und gesünder als die der Fleischfresser. Aus einer der ihrigen gleichartigen Substanz gewonnen, bewahrt sie ihre Natur besser und ist dem Verderben weniger ausgesetzt. Jedermann weiß daß Mehlspeisen mehr Blut bilden als Fleischspeisen; also müssen sie auch mehr Milch geben. Ich kann mir nicht vorstellen, daß ein Kind, welches man nicht zu frühzeitig entwöhnte und dann nur bei einfacher Pflanzenkost aufzog und dessen Amme sich ebenfalls mit Pflanzenkost begnügte, je an Würmern leiden sollte.

Es ist möglich, daß Pflanzenkost eine Milch gibt, die eher in Säure übergeht; aber ich bin gar weit davon entfernt,[61] saure Milch für ein ungesundes Nahrungsmittel zu halten; ganze Völker, die nur darauf angewiesen sind, befinden sich sehr wohl dabei, und mit kommen alle diese Säure verzehrenden Mittel wie reine Scharlatanerie vor. Es gibt Naturen, welchen die Milch nicht zuträglich ist, und dann wird kein absorbierendes Mittel sie in ein denselben dienliches Nahrungsmittel verwandeln; andere vertragen sie ohne dergleichen Mittel. Man befürchtet von der dicken oder geronnenen Milch üble Folgen. Das ist eine Torheit, da es eine allbekannte Tatsache ist, daß die Milch immer im Magen gerinnt. Weil sie dabei ihren flüssigen Zustand verliert, wird sie gerade zur Ernährung der Kinder und der Jungen der Tiere erst recht geeignet; wenn sie nicht gerönne, würde sie durch den Körper, ohne ihn zu ernähren, hindurchgehen.25 Umsonst verdünnt man die Milch auf tausenderlei Art, umsonst wendet man tausenderlei absorbierende Mittel an: wer Milch genießt, verdaut doch Käse; das ist eine Regel, von der es keine Ausnahme gibt. Der Magen besitzt die Fähigkeit, die Milch gerinnen zu lassen, in so hohem Grade, daß man sich des Kälbermagens als Käselab bedient.

Ich halte deshalb dafür, daß man den Ammen keine andere Kost als ihre gewöhnliche zu geben braucht, und daß es vollkommen genügt, ihnen dieselbe reichlicher und schmackhafter zu bereiten. Es liegt nicht in der Natur der ohne Fleisch gekochten Speisen, daß sie erhitzen; lediglich ihre Zubereitung macht sie ungesund. Reformiert eure Küchenrezepte, verlangt nicht viel Gebackenes und Gebratenes; laßt weder Butter noch Salz noch Milch ans Feuer kommen; würzt die in Wasser gekochten Gemüse nicht[62] eher, bis sie heiß auf den Tisch kommen. Ohne Fleisch zubereitete Speisen werden die Ammen nicht erhitzen, sondern ihr im Gegenteil reichliche und vortreffliche Milch geben.26 Hat man die vegetabilische Kost einmal als die dem Kinde zuträgliche anerkannt, wie wäre es dann möglich, die Fleischkost für die der Amme angemessenste zu halten? Es läge ein schreiender Widerspruch darin.

In den ersten Lebensjahren übt vorzüglich die Luft einen entscheidenden Einfluß auf die Körperkonstitution des Kindes aus. Solange die Haut noch zart und weich ist, dringt dieselbe durch alle Poren und ist bei der Entwicklung der jungen im Wachstum begriffenen Körper von größter Wichtigkeit; sie hinterläßt an denselben Eindrücke, die sich nicht verwischen. Ich würde mich deshalb nicht dafür entscheiden, daß man eine Bäuerin ihrem Dorf entzöge, um sie in der Stadt in ein Zimmer zu sperren und das Kind im elterlichen Hause zu nähren; ich würde es für besser halten, das Kind die reine Landluft statt der verdorbenen Stadtluft einatmen zu lassen. Es muß den Stand seiner Pflegemutter annehmen, ihr ländliches Haus bewohnen, und sein Erzieher muß ihm dahin folgen. Der Leser wird sich dessen wohl noch erinnern, daß dieser Erzieher sein Amt nicht um des Lohnes willen verrichtet; er ist der Freund des Vaters. Wenn sich nun aber ein solcher Freund nicht findet, wenn sich der Aufenthalt auf dem Lande nicht so leicht bewerkstelligen läßt, wenn alle diese Ratschläge sich als unausführbar erweisen, was in aller Welt, wird man mir entgegnen, ist dann zu tun?

Ich habe euch schon gesagt, was ihr zu tun habt, dazu braucht es keines weiteren Rates.[63] Die Menschen sind nicht dazu geschaffen, um wie in einem Ameisenhaufen zusammengepfercht zu leben, sondern sollen die Erde füllen und bebauen. Je enger sie zusammenwohnen, desto mehr verderben sie sich. Körperliche Gebrechen sowie geistige Mängel sind die unfehlbare Folge jedes zu zahlreichen Zusammenlebens. Der Mensch ist unter allen lebenden Wesen dasjenige, welches am wenigsten herdenweise zu leben vermag. Menschen, die wie Schafe zusammengepfercht wären, würden in kürzester Zeit zugrunde gehen. Der Odem des Menschen wirkt tödlich auf seinesgleichen; das ist im eigentlichen Sinn durchaus ebenso wahr wie im bildlichen.

Die Städte sind der Abgrund des menschlichen Geschlechts. Nach Verlauf weniger Menschenalter gehen die Stämme unter oder entarten; man muß sie wieder verjüngen, und stets ist es das Land, von dem diese Verjüngung ausgeht. Schickt deshalb eure Kinder ins Freie, damit sie sich sozusagen selbst verjüngen und inmitten der Fluren die Vollkraft wiedergewinnen, welche man in der ungesunden Luft übervölkerter Orte verliert. Schwangere Frauen, die sich auf dem Lande aufhalten, kehren zeitig in die Stadt zurück, um daselbst niederzukommen; sie sollten gerade das Gegenteil tun, die vor allen Dingen, welche ihre Kinder selbst zu stillen beabsichtigen. Sie würden es wenig bedauern, als sie vielleicht denken, und die Freuden, welche uns die treue Erfüllung der natürlichen Pflichten gewährt, würden ihnen während eines Aufenthalts, der unserem Geschlecht weit natürlicher ist, bald den Geschmack an leeren Vergnügungen benehmen, die diesen Pflichten zuwiderlaufen.

Unmittelbar nach erfolgter Geburt wäscht man das Kind mit lauem Wasser, dem man Wein beizumischen pflegt. Diese Beimischung von Wein erscheint mir gerade nicht nötig. Da die Natur selbst nichts Gegorenes hervorbringt, so läßt sich nicht gut annehmen, daß die Anwendung einer[64] künstlichen Flüssigkeit für das Leben ihrer Geschöpfe von Wichtigkeit sei.

Aus demselben Grund ist die Vorsicht, lauwarmes Wasser anzuwenden, nicht unbedingt notwendig; und in der Tat baden nicht wenige Völker ihre neugeborenen Kinder ohne weiteres in den Flüssen oder im Meer; doch unsere Kinder, welche durch die Verweichlichung der Väter und der Mütter schon vor ihrer Geburt ebenfalls verweichlicht sind, bringen, wenn sie auf die Welt kommen, schon eine verderbte Körperkonstitution mit, so daß man sie nicht gleich all den Versuchungen und Experimenten, die ihre Wiederherstellung bezwecken, aussetzen darf. Nur stufenweise kann man sie zu ihrer ursprünglichen Lebenskraft zurückführen. Für den Anfang empfiehlt es sich deshalb, die bestehende Sitte beizubehalten und nur allmählich dieselbe aufzugeben. Häufiges Baden ist notwendig, ihre Unreinlichkeit liefert den Beweis. Durch bloßes Abwaschen und Abtrocknen kann man sie leicht verletzen; aber mit der zunehmenden Erstarkung der Kinder muß man nach und nach die Wärme des Wassers vermindern, bis man sie zuletzt Sommer und Winter mit kaltem, ja sogar mit eiskaltem Wasser baden darf. Das es, um ihre Gesundheit keiner Gefahr auszusetzen, von Wichtigkeit ist, daß diese Verminderung langsam, allmählich und unmerklich vor sich gehe, so kann sich zur genaueren Messung eines Thermometers bedienen.

Die Sitte des Bades darf nun, wenn sie einmal eingeführt ist, nie wieder unterbrochen werden, und es ist von äußerster Wichtigkeit, sie lebenslänglich beizubehalten. Ich schätze sie nicht allein vom Gesichtspunkt der Reinlichkeit und dem augenblicklichen Gesundheitszustand aus, sondern erblicke darin auch eine heilsame Vorsichtsmaßregel, um das Zellengewebe und das Muskelsystem geschmeidiger zu machen und sie dahin zu bringen, ohne Anstrengung und Gefahr jeden Temperaturwechsel zu ertragen. Zu gleichen Zweck wünsche ich auch, daß man sich mit zunehmendem Alter[65] nach und nach daran gewöhnte, abwechselnd bald in warmem Wasser von allen nur erträglichen Hitzegraden, bald in kaltem Wasser jegliche Temperatur zu baden. Auf diese Weise würde man, wenn man sich erst gewöhnt hätte, jeglichen Temperaturwechsel des Wassers zu ertragen, gegen den der Luft fast unempfindlich sein, da das Wasser, welches eine dichte Flüssigkeit als letztere ist, uns an viel mehr Punkten berührt und deshalb eine größere Wirkung auf uns ausübt.

Man dulde nicht, daß man dem Kind in dem Augenblicke, wo es von seiner natürlichen Hülle befreit wird und zu atmen beginnt, andere Hüllen gebe, die es noch mehr beengen. Keine Kinderhäubchen, keine Wickelbänder, keine Steckkissen! Gebraucht nichts weiter als lockere und breite Windeln, die dem Kinde den freien Gebrauch seiner Glieder gestatten und weder so schwer sind, es in seinen Bewegungen zu behindern, noch so warm, um die Einwirkungen der Luft von ihm abzuhalten.27 Legt es in eine nicht zu enge, gut gepolsterte Wiege,28 wo es sich bequem und gefahrlos bewegen kann. Beginnt es dann kräftiger zu werden, so laßt es im Zimmer umherkriechen; laßt es seine kleinen Glieder dehnen und strecken, und ihr werdet sehen, wie sie sich von Tag zu Tage kräftiger entwickeln. Wenn ihr dann mit einem wohleingewindelten Kinde desselben Alters vergleicht, werdet ihr über die Verschiedenheit Fortschritte erstaunt sein.29[66]

Man muß sich dabei natürlich auf den entschiedensten Widerspruch seitens der Ammen gefaßt machen, denen ein fest eingepacktes Kind bedeutend weniger Mühe macht als eines, das eine unaufhörliche Ueberwachung erheischt. Außerdem wird Verunreinigung desselben bei einem offenen Kleidchen in die Augen fallender, und die Amme muß sich deshalb öfter der Mühe unterziehen, das Kind zu reinigen. Endlich wird auch noch die bestehende Sitte vorgeschützt, ein Grund, der in gewissen Ländern in den Augen aller Volksklassen völlig unwiderlegbar scheint.

Die Ammen muß man nicht mit Vernunftgründen zu widerlegen suchen; gebt bestimmten Befehl, überwacht die Ausführung und laßt kein Mittel unversucht, durch welches[67] die wirkliche Beobachtung der von euch vorgeschriebenen Wartung und Pflege erleichtert werden kann. Warum sollte man dieselbe nicht teilen? Bei der herkömmlichen Erziehungsweise, bei der man lediglich das Physische berücksichtigt, erscheint, wenn nur das Kind bleibt und nicht dahinsiecht, alles übrige von geringer Bedeutung; allein hier, wo die Erziehung mit dem Eintritt in das Leben beginnt, ist das Kind schon von Geburt an Schüler, zwar nicht des Erziehers, aber der Natur. Die Aufgabe des sogenannten Erziehers besteht nur in einem ununterbrochenen Studium dieser ersten und wichtigsten Lehrmeisterin, und in der unausgesetzten Bemühung, alles aus dem Wege zu räumen, wodurch die Wirksamkeit derselben vereitelt werden könnte. Er überwacht den Säugling, er beobachtet ihn, er läßt ihn nicht aus den Augen; er sucht mit gespannter Wachsamkeit den ersten schwachen Schimmer der aufdämmernden Vernunft zu erspähen, wie die Mohamedaner beim Herannahen des ersten Viertels den Augenblick des Mondaufganges zu erspähen suchen.

Wir werden zwar mit der Fähigkeit zu lernen, aber ohne irgend ein Wissen, ohne irgendeine Kenntnis geboren. Die an unvollkommene und erst halbfertige Organe gebundene Seele besitzt noch nicht einmal das Bewußtsein ihrer eigenen Existenz. Die Bewegung und das Geschrei des neugeborenen Kindes sind rein mechanische Wirkungen, ohne Bewußtsein und freien Willen.

Nehmen wir einmal an, daß ein Kind bei seiner Geburt die Größe und Kraft eines erwachsenen Menschen besäße, daß es sozusagen völlig ausgerüstet aus dem Schoße seiner Mutter, wie Pallas aus dem Haupte des Jupiter, hervorginge: nun, ein solches Mannkind würde ein Bild vollkommener Geistesschwäche, ein Automat, eine unbewegliche und fast unempfindliche Natur sein. Es würde nichts sehen, nichts hören, niemanden erkennen, ja es würde nicht einmal die Fähigkeit besitzen, die Augen dahin zu richten,[68] wohin es blicken sollte. Es würde nicht allein keinen Gegenstand außer sich gewahren, sondern auch nicht imstande sein, ihn auf dem Sinnesorgan wirken zu lassen, welches die Wahrnehmung allein zu vermitteln vermag. Die Farben würden sich in seinen Augen, die Töne in seinen Ohren nicht unterscheiden lassen, die Berührung fremder Körper würde es nicht empfinden, es würde nicht einmal ein Bewußtsein davon haben, daß es selbst einen Körper besitzt; das Tastgefühl seiner Hände würde sich allein in seinem Gehirn wahrnehmen lassen; alle seine Empfindungen würden sich in einem einzigen Punkte vereinigen; es würde sich seine Existenz nur in einer ganz allgemeinen Empfindungsfähigkeit (sensorium) äußern, es würde nur eine einzige Vorstellung, die des eigenen Ich, besitzen, auf welche es alle seine Empfindungen bezöge, und diese Vorstellung, oder vielmehr dieses dunkle Gefühl, würde es einzig und allein von einem gewöhnlichen Kinde unterscheiden.

Ein solcher körperlich ganz ausgebildeter Mensch würde sich trotzdem nicht einmal auf seinen Füßen aufzurichten vermögen; lange Zeit würde er gebrauchen, ehe er nur lernte, sich im Gleichgewicht zu erhalten; vielleicht würde er nicht einmal den Versuch machen, und man könnte das Schauspiel genießen, diesen großen starken und vierschrötigen Körper wie einen Stein auf seinem Platz liegenbleiben oder gleich einem Hund kriechen und rutschen zu sehen.

In unbehaglicher Weise würden sich die Bedürfnisse bei ihm regen, ohne daß er sie noch kennte und ohne daß er ein Mittel zu ihrer Befriedigung ausfindig zu machen vermöchte. Es gibt keine unmittelbare Kommunikation zwischen den Muskeln des Magens und denen der Arme und Beine, welche ihn, selbst wenn er von Nahrungsmitteln umgeben wäre, dazu bewegen könnte, auch nur einen Schritt zu tun, um sich ihnen zu nähern, oder auch nur die Hand auszustrecken, um sie zu ergreifen, und da sein Körper dem Wachstum nicht mehr unterworfen, sein Glieder bereites völlig[69] entwickelt wären, und da er folglich weder die Unruhe der Kinder besäße, noch sich gleich diesen in fortwährender Bewegung befände, so würde er Hungers sterben können, bevor er sich bewegen ließe, sich selbst nach seiner Nahrung umzusehen. Wie geringe Untersuchungen man auch bisher über den Gang und den stufenmäßigen Fortschritt unserer Erkenntnis angestellt hat, so läßt sich doch das wenigstens nicht in Abrede stellen, daß dieser primitive Zustand der Unwissenheit und Stumpfsinnigkeit des Menschen naturgemäß ist, bis er durch die Erfahrung oder durch seine Mitmenschen etwas gelernt hat.

Man kennt also den Anfangspunkt oder man kann ihn wenigstens kennen, von dem ein jeder von uns auszugehen hat, um nach und nach das gewöhnliche Maß der geistigen Entwicklung zu erreichen; aber wer mag anzugeben, wo derselben Grenzen gesetzt sind? Jeder macht größere oder geringere Fortschritte je nach seinen natürlichen Anlagen, seinem Geschmack, seinen Bedürfnissen, seinem Talent, seinem Eifer und der Gelegenheit, die sich ihm darbietet, sich weiter auszubilden. Mir ist kein Philosoph bekannt, der so vermessen gewesen wäre, die Behauptung aufzustellen: das ist die Grenze, welche der Mensch erreichen kann, aber nimmermehr zu überschreiten vermag. Wir wissen nicht, bis zu welcher Höhe uns unsere Natur emporzusteigen gestattet; niemand von uns hat den Abstand gemessen, der sich möglicherweise zwischen diesem und jenem Menschen auffinden läßt. Wer hegte wohl eine so niedrige Gesinnung, daß ihn dieser Gedanke nie erwärmte und der nicht bisweilen mit Stolz zu sich selber sagte: Wie viele habe ich bereits übertroffen, wie viele werde ich noch einholen! Warum sollte einer meinesgleichen nicht weiterkommen als ich?

Ich wiederhole es: die Erziehung des Menschen beginnt von dem Augenblick seiner Geburt an; bevor er noch sprechen kann, bevor sein Verständnis geweckt ist, unterrichtet er sich[70] schon durch die Erfahrung. Letztere geht dem eigentlichen Unterrichte voraus. Viel hat schon das Kind mit dem Augenblick gewonnen, wo es seine Amme erkennt. Man würde über die Kenntnisse selbst des ungebildetsten Menschen in Erstaunen geraten, wenn man seine Fortschritte von dem Augenblick seiner Geburt an bis zu dem gerade erreichten Lebensabschnitte verfolgen wollte. Teilte man das ganze menschliche Wissen in zwei Teile, deren einer die allen Menschen gemeinsamen Kennt nisse, der andere das Wissen umfaßt, welches sich allein die Gelehrten anzueignen vermögen, so würde letzterer im Vergleich mit dem ersteren äußerst beschränkt sein. Leider aber pflegen wir die gemeinsamen Errungenschaften kaum zu beachten, weil wir sie unbewußt und sogar noch vor Eintritt in das Alter machen, in welchem sich die Vernunft allmählich entwickelt, weil sich überhaupt das Wissen nur durch die gar sehr verschiedenen Stufen desselben bemerkbar macht, und weil, genau wie in den algebraischen Gleichungen, die gemeinschaftlichen Größen sich gegenseitig aufheben und deshalb keine Geltung haben.

Selbst bei den Tieren lassen sich große Fortschritte wahrnehmen. Sie haben Sinne und müssen sie erst gebrauchen lernen; sie haben Bedürfnisse und müssen dieselben befriedigen lernen; sie müssen fressen, laufen, fliegen lernen. Die vierfüßigen Tiere, die sich von Geburt an auf ihren Füßen halten, können trotzdem noch nicht laufen. Ihre ersten Schritte zeigen, wie unsichere Versuche es sind. Vögel, die ihren Käfigen entronnen sind, können nicht fliegen, weil sie noch nie geflogen. Alles ist für beseelte und empfängliche Wesen Unterricht. Wenn die Pflanzen eine fortschreitende Bewegung hätten, so müßten sie auch Sinne haben und sich Kenntnisse erwerben, sonst würden die Gattungen bald zugrunde gehen.

Die ersten Eindrücke, welche die Kinder erhalten, sind ausschließlich äußerlicher Natur. Nur für angenehme und für schmerzliche Empfindungen sind sie empfänglich. Da sie[71] weder zu gehen noch etwas zu ergreifen vermögen, so gehört viel Zeit dazu, ehe sie sich allmählich die Begriffe bilden, welche ihnen die Gegenstände außer ihnen in ihrer wahren Gestalt zeigen. Während sich aber diese Gegenstände für sie mehr und mehr erweitern, sich, da das Kind die Entfernungen unterscheiden lernt, sozusagen mehr und mehr von ihren Augen entfernen und bestimmte Dimensionen und Gestalten annehmen, unterwirft die fortwährende Wiederkehr derselben äußeren Eindrücke dieser Macht der Gewohnheit. Man sieht, wie sie ihre Augen unaufhörlich dem Lichte zuwenden, und wie dieselben, wenn es von der Seite kommt, unbewußt diese Richtung annehmen, so daß man ihr Gesicht beständig nach dem Lichte kehren muß, damit sie nicht schielen lernen. Auch muß man sie von früh auf an die Finsternis gewöhnen, sonst weinen und schreien sie, sobald sie sich im Dunkeln befinden. Eine zu genaue Regelung der Nahrung und des Schlafes macht ihnen beides nach Ablauf der gewohnten Zwischenzeiten zu einem Bedürfnis, und bald entspringt das Verlangen danach nicht mehr dem Bedürfnis, sondern der Gewohnheit, oder vielmehr fügt die Gewohnheit dem natürlichen Bedürfnis ein neues hinzu, und diesem Uebelstand muß man vorbeugen.

Keine Gewohnheit zu haben muß des Kindes einzige Gewohnheit sein. Man trage es sowohl auf dem einen wie auf dem anderen Arm, man gewöhne es nicht daran, eine Hand lieber als die andere zu geben oder sich derselben öfter zu bedienen, zu bestimmten Stunden zu essen, zu schlafen, zu wachen, oder weder bei Tage noch bei Nacht allein zu bleiben. Schon von frühe auf muß man es für die dereinstige selbständige Benutzung seiner Freiheit und Anwendung seiner Kräfte dadurch vorbereiten, daß man dem Körper seine natürliche Gewohnheit läßt, es in den Stand setzt, stets Herr seiner selbst zu sein und seinen Willen, sobald es erst einen haben wird, überall zur Ausführung zu bringen.[72]

Sobald das Kind die Gegenstände zu unterscheiden beginnt, ist es von Wichtigkeit, unter denen, welche man ihm zeigen will, eine sorgfältige Auswahl zu treffen. Alle neuen Gegenstände interessieren natürlicherweise den Menschen. Er fühlt sich so schwach, daß er alles Unbekannte fürchtet. Die Gewohnheit, neue Gegenstände zu sehen, ohne sich davon unangenehm berührt zu fühlen, zerstört diese Furcht. Die Kinder, welche in sauberen Häusern, in denen man keine Spinnen leidet, aufgezogen sind, fürchten sich vor den Spinnen, und diese Furcht bleibt ihnen oft, wenn sie erwachsen sind. Niemals habe ich jedoch Bauern oder Bäuerinnen gesehen, welche sich von Spinnen gefürchtet hätten.

Warum sollte also die Erziehung eines Kindes nicht beginnen, bevor es zu sprechen und zu begreifen imstande ist, zumal da schon die Auswahl der Gegenstände, die man demselben zeigt, geeignet ist, es furchtsam oder beherzt zu machen? Mein Wunsch ist, daß man es an den Anblick neuer Gegenstände, häßlicher, widerlicher, auffallender Tiere gewöhne, freilich nur nach, erst von weitem, bis es sich daran gewöhnt hat, und es endlich wagt, wenn es gesehen hat, wie andere sie berühren, sie selbst anzufassen. Wenn es in seiner Kindheit den Anblick von Kröten, Schlangen, Krebsen ohne Entsetzen zu ertragen vermocht, dann wird es auch, wenn es erwachsen ist, jedwedes Tier ohne Grauen ansehen können. Wer täglich schreckenerregende Gestalten vor Augen hat, für den verlieren sie alles Grauen.

Alle Kinder fürchten sich vor Masken. Zuerst werde ich Emil eine Maske zeigen, die ein freundliches und hübsches Gesicht darstellt. Darauf muß jemand dieselbe in seiner Gegenwart vor das Gesicht nehmen; ich fange zu lachen an, alle lachen und das Kind fällt endlich in das Gelächter der übrigen ein. Nach und nach gewöhne ich es an weniger freundliche Züge der Masken und endlich an geradezu abstoßende Gesichter. Habe ich dabei die rechte Stufenfolge[73] innegehalten, so wird das Kind so weit davon entfernt sein, sich von diesen zu entsetzen, daß es vielmehr über sie ebensosehr wie über die erste Maske lachen wird. Dann brauche ich nicht mehr zu befürchten, daß man ihm durch Masken Furcht einzujagen vermag.

Homer erzählt, daß bei Hektors Abschied von der Andromache der kleine Astyanax vor dem flatternden Federbusch auf dem Helm seines Vaters erschrocken sei, denselben nicht erkannt und sich schreiend an die Brust seiner Amme geschmiegt habe, was seiner Mutter ein mit Tränen vermischtes Lächeln entlockt hätte. Was läßt sich nun tun, um ein Kind vor solchem Schreck zu bewahren? Genau dasselbe, was Hektor tat, der den Helm auf die Erde stellte und nun erst das Kind liebkoste. In einem ruhigen Augenblick dürfte man es nicht dabei bewenden lassen: man müßte sich dem Helme nähern, man müßte mit den Federn spielen, man müßte das Kind dazu bewegen, selbst sie anzufassen. Endlich müßte die Amme den Helm nehmen und ihn sich lachend auf den Kopf setzen, wenn es überhaupt die Hand einer Frau wagen dürfte, irgendein Stück von Hektors Kriegsrüstung zu berühren.

Beabsichtige ich Emil an den Knall der Feuergewehre zu gewöhnen, so brenne ich zuerst das Zündpulver in der Pfanne einer Pistole ab. Diese plötzlich auflodernde und schnell wieder verlöschende Flamme, diese blitzartige Erscheinung ergötzt ihn. Ich wiederhole dasselbe Experiment unter Anwendung einer größeren Pulvermenge, nach und nach lade ich die Pistole ganz regelrecht mit alleiniger Fortlassung des Pfropfens, darauf lade ich sie stärker, und schließlich gewöhne ich ihn an Flinten-, Büchsen- und Kanonenschüsse, ja an die furchtbarsten Detonationen.

Ich habe die Bemerkung gemacht, daß sich die Kinder selten vor dem Donner fürchten, vorausgesetzt, daß die Schläge nicht zu heftig sind und dem Ohr nicht wirklich[74] wehe tun. Diese Furcht bildet sich in ihnen erst dann, wenn sie eingesehen haben, daß der dem Donner vorausgehende Blitz Schaden anrichtet oder sogar hin und wieder tötet. Wenn ihr merkt, daß ihnen die gewonnene Einsicht Furcht erweckt, so gebt euch Mühe, sie durch Gewohnheit wieder zu beruhigen. Durch eine allmähliche und behutsame Steigerung kann man einem Erwachsenen wie einem Kind eine sich nie verleugnende Unerschrockenheit einflößen.

Während der ersten Lebensstufe, wo Gedächtnis und Einbildungskraft noch völlig ruhen, ist das Kind nur auf das aufmerksam, was unmittelbar auf seine Sinne wirkt. Da seine Sinneseindrücke nun das erste Material seiner Kenntnisse ausmachen, so muß man es sich angelegen sein lassen, ihm dieselben in einer zweckentsprechenden Reihenfolge darzubieten, denn dadurch bereiten wir sein Gedächtnis vor, sie dereinst seinem Verstand in derselben Reihenfolge zu übergeben. Weil es nun aber eben auf seine Sinneseindrücke aufmerksam ist, so genügt es für den Anfang, ihm deren Zusammenhang mit den Gegenständen, welche sie verursachen, recht anschaulich nachzuweisen. Es will alles berühren, alles betasten; widersetzt euch dieser Unruhe nicht; es verdankt ihr höchst notwendige Kenntnisse. Auf diese Weise lernt es die Wärme und Kälte, die Härte und Weichheit, die Schwere und Leichtigkeit der Körper kennen, lernt sich über ihre Größe, ihre Gestalt und ihre wahrnehmbaren Eigenschaften ein Urteil bilden, indem es diese anschaut, betastet, behorcht,30 vor allen Dingen aber die Wahrnehmung seines Gesichtssinnes mit denen seines Tastsinnes vergleicht und sich gewöhnt, mit dem Auge schon[75] im voraus die Wirkung abzuschätzen, welche sie auf seine Finger ausüben müßten.

Nur durch die Bewegung lernen wir, daß es außer uns noch andere Dinge gibt, während wir wieder nur durch unsere eigene Bewegung die Vorstellung des Raumes gewinnen. Weil dem Kinde diese Vorstellung noch fehlt, so streckt es nach allen Dingen, die es ergreifen will, mögen dieselben so nahe sein, daß es sie fast berührt, oder sich in einer Entfernung von hundert Schritten befinden, ohne Unterschied die Hand aus. Die Mühe, welche es sich dabei gibt, erscheint euch vielleicht als ein Zeichen der Herrschsucht, als ein Befehl an den Gegenstand, sich zu nähern, oder an euch, ihm denselben herbeizubringen, und gleichwohl liegen ihm solche Gedanken ganz fern; die Ursache liegt lediglich in dem Umstand, daß es die nämlichen Gegenstände, welche es zuerst in seinem Gehirn, darauf vor seinen Augen sah, jetzt in Armeslänge vor sich erblickt und daß es sich nur die räumliche Ausdehnung vorzustellen vermag, von der es sich durch seinen Tastsinn überzeugen kann. Laßt es deshalb recht oft umhertragen und von einem Platz zum anderen bringen und sorgt vor allem dafür, daß es auch Ortsveränderung wahrnehme, damit es dadurch die Entfernungen beurteilen lerne. Sobald es jedoch diese richtig zu schätzen beginnt, müßt ihr die Methode ändern und es nicht mehr nach seinem, sondern nur nach eurem eigenen Gefallen umhertragen, denn sobald es keinen Sinnestäuschungen mehr unterliegt, läßt es sich auch von anderen Beweggründen leiten. Die Veränderung ist so bemerkenswert, daß sie eine weitläufige Erläuterung erfordert.

Das Unbehagen, welches die sich einstellenden Bedürfnisse erregen, äußert sich, sobald sich zu ihrer Befriedigung fremde Hilfe nötig macht, in gewissen Zeichen. Daher rührt das Schreien der Kinder; sie weinen viel und das muß so sein. Alle Eindrücke rufen bestimmte Erregungen hervor; sind dieselben angenehmer Natur, so erfreuen sich ihrer die[76] Kinder stillschweigend, sind sie dagegen schmerzlicher Natur, so geben sie es in ihrer Sprache zu erkennen und verlangen Linderung. Solange sie wach sind können sie deshalb in keinem indifferenten Zustand verharren; entweder schlafen sie oder sind gewissen Erregungen unterworfen.

Alle unsere Sprachen sind künstlich entstanden. Man hat weitläufige Untersuchungen angestellt, ob es eine natürliche und allen Menschen gemeinsame Sprache gebe. Unzweifelhaft gibt es eine solche, nämlich die, welche die Kinder sprechen, ehe sie reden können. Diese Sprache ist zwar unartikuliert, aber trotzdem akzentuiert, klangvoll, leicht verständlich. Die Gewöhnung an die übliche Sprache der Erwachsenen hat sie uns bis zu dem Grade vernachlässigen lassen, daß wir sie völlig vergessen haben. Durch ein sorgfältiges Studium der Kinder werden wir sie ihnen bald wieder ablernen. Die Ammen können uns als Lehrerinnen dieser Sprache dienen; sie verstehen alles, was ihre Säuglinge ihnen sagen, sie antworten ihnen und halten die lebhaftesten und zusammenhängendsten Zwiegespräche mit ihnen. Obwohl sie dabei Worte aussprechen, tragen dieselben zum Verständnis doch nicht das geringste bei, denn nicht den Sinn der Worte fassen die Kinder auf, sondern den Ton und Ausdruck, mit dem sie ausgesprochen werden.

Zu der Sprache der Stimme gesellt sich nicht weniger ausdrucksvoll Gebärdensprache. Letztere wird nicht von den kraftlosen Händen der Kinder vermittelt, sondern steht leserlich auf ihren Gesichtszügen geschrieben. Es ist wunderbar, eines wie großen Ausdrucks schon diese wenig entwickelten Physiognomien fähig sind; jeden Augenblick verändern sich ihre Züge mit unbegreiflicher Geschwindigkeit. Blitzartig sieht man Lächeln, Verlangen, Schrecken auf ihnen entstehen und wieder verschwinden; jedesmal glaubt man ein anderes Gesicht zu sehen. Unstreitig haben sie beweglichere Gesichtsmuskeln als wir, während dafür ihre glanzlosen Augen fast ausdruckslos sind. In einem Alter, wo man nur leibliche[77] Bedürfnisse hat, kann es aber nur derartige Zeichen geben. Die äußeren Eindrücke spiegeln sich auf den Gesichtszügen, das Seelenleben in den Augen ab.

Da Not und Schwäche den ersten Zustand des Menschen kennzeichnen, so sind seine ersten Laute auch Klagetöne und Weinen. Das Kind fühlt seine Bedürfnisse und kann sie nicht befriedigen; es ruft durch sein Geschrei fremde Hilfe herbei. Wenn es hungert oder durstet, so weint es; wenn es an Kälte oder Hitze leidet, vergießt es ebenfalls Tränen; wenn es sich nach Bewegung sehnt und man es ruhig liegen läßt, müssen Tränen seinen Wunsch zu erkennen geben; wenn es schlafen will und man es in fortwährender Bewegung erhält, redet es wieder durch Tränen zu uns. Je weniger es sich selbst zu helfen weiß, desto unruhiger ist es. Es hat nur eine einzige Ausdrucksweise, weil es sozusagen nur eine einzige Art des Unbehagens kennt; bei der Unvollkommenheit seiner Organe vermag es die verschiedenen auf sie ausgeübten Eindrücke nicht zu unterscheiden. Alle Leiden bereiten ihm nur eine einzige Empfindung, die des Schmerzes.

Aus diesen Tränen, die man für so wenig der Beachtung halten möchte, entsteht die erste Beziehung des Menschen zu seiner ganzen Umgebung. Hierdurch wird das erste Glied dieser langen Kette geschmiedet, aus der die soziale Ordnung gebildet wird.

Wenn das Kind weint, so leidet es; es fühlt irgendein Bedürfnis, welches es nicht zu befriedigen vermag. Man sieht nach, man sucht zu entdecken, was ihm fehlt, man findet die Ursache, man entfernt sie. Wenn man sie aber nicht findet oder nicht zu entfernen vermag, so hält das Weinen an. Da dies lästig ist, so liebkost man das Kind, um es allmählich zu beruhigen und einzuschläfern; will dies aber nicht gelingen, und das Weinen hört nicht auf, so verliert man endlich die Geduld und versucht es mit Drohungen, ja rohe Ammen schlagen selbst das Kind bisweilen.[78] Fürwahr eine sonderbare Erziehungsmethode bei seinem Eintritt ins Leben!

Nie in meinem Leben werde ich vergessen, wie ich einmal Augenzeuge gewesen bin, als eine Amme einen dieser unbequemem Schreihälse auf diese Weise mißhandelte. Er schwieg sofort, weshalb ich ihn für eingeschüchtert hielt. Das wird einst, sagte ich mir, eine knechtische Seele werden, von der man alles nur durch Strenge wird erreichen können. Aber ich hatte mich getäuscht; das unglückliche Kind drohte vor Zorn zu ersticken, der Atem war ihm ausgegangen, ich sah wie es immer röter wurde. Einen Augenblick darauf brach es in ein durchdringendes Geschrei aus. Alle Zeichen des Unwillens, der Wut, der Verzweiflung dieses Alters gaben sich in diesen Tönen zu erkennen. Ich befürchte, daß es bei dieser heftigen Aufregung den Geist aufgeben würde. Hätte ich sonst daran gezweifelt, daß das Gefühl für Recht und Unrecht dem Menschen angeboren wäre, dieses einzige Beispiel würde mich eines Besseren belehrt haben. Ich bin völlig überzeugt, daß diesem Kinde ein glühender Feuerbrand, welcher ihm zufällig auf die Hand gefallen wäre, weniger Schmerzen verursacht hätte, als dieser nur ganz leichte, aber in der unverkennbaren Absicht, es empfindlich zu strafen, gegebene Schlag.

Diese Neigung der Kinder zur plötzlichen Aufwallung, zum Aerger und zum Zorn erheischt die äußerste Schonung. Boerhave stellt die Behauptung auf, daß die Kinderkrankheiten größtenteils krampfartiger Natur sind, weil das Nervensystem der Kinder, da es verhältnismäßig ausgedehnter und der Kopf größer und dicker als bei den Erwachsenen ist, auch eine größere Reizbarkeit besitzt. Mit der größten Sorgfalt muß man deshalb alle Dienstboten von ihnen fernhalten, welche sie reizen, erzürnen und ungeduldig machen; sie sind ihnen hundertmal schädlicher und unheilvoller als die nachteiligen Einwirkungen der Witterung und der Jahreszeiten. Solange die Kinder nur an den[79] Dingen und niemals an den Launen ihrer Umgebung Widerstand finden, so lange werden sie weder eigensinnig noch zornig werden und sich einer dauerhaften Gesundheit erfreuen. Darin liegt auch eine der Ursachen, weshalb die Kinder der niederen Volksklassen, die von Geburt in größerer Freiheit und Unabhängigkeit aufgezogen werden, im allgemeinen weniger schwächlich, weniger weichlich, sondern im Gegenteil kräftiger als diejenigen sind, welche man dadurch, daß man ihrem eigenen Willen beständig entgegentritt, angeblich besser erzieht. Aber man sollte stets bedenken, daß es ein großer Unterschied ist, den Kindern nicht zu gehorchen und ihnen nicht entgegenzutreten.

In dem ersten Weinen der Kinder liegt eine Bitte, sowie man aber die Vorsicht außer acht läßt, verwandelt sie sich in Befehl. Haben sie sich anfänglich nur beistehen lassen, so wollen sie schließlich bedient sein. So entsteht gerade aus ihrer Schwäche, der zu nächst das Abhängigkeitsgefühl entspringt, später die Vorstellung des Befehlens und Herrschens. Da jedoch diese Vorstellung weniger durch ihre Bedürfnisse als durch unsere Dienstleistungen hervorgerufen wird, so beginnen sich hier die moralischen Wirkungen zu zeigen, deren unmittelbare Ursache keineswegs in der Natur zu suchen ist, und man sieht ein, weshalb es schon in diesem frühesten Lebensalter von Wichtigkeit ist, der geheimen Absicht nachzuforschen, welche die Kinder zu einer Gebärde oder einem Schrei veranlaßt.

Wenn das Kind die Hand hastig und ohne etwas zu sagen ausstreckt, so steht es in dem Wahn, den gewünschten Gegenstand erreichen zu können, weil es nicht imstande ist, die Entfernung richtig zu schätzen. Es befindet sich im Irrtum. Wenn es aber beim Ausstrecken der Hand klagt und weint, so täuscht es sich über die Entfernung nicht mehr, es befiehlt vielmehr dem Gegenstande, sich zu nähern, oder auch, ihm denselben zu bringen. Im ersten Fall muß man es langsam und mit kleinen Schritten zu dem Gegenstand[80] hintragen; im zweiten Fall darf man es durchaus nicht tun, sondern muß sich stellen, als ob man es gar nicht verstehe; je mehr es schreit, desto weniger darf man darauf hören, ist es doch sehr wichtig, das Kind schon früh daran zu gewöhnen, nicht kommandieren zu wollen, weder die Menschen, denn es ist nicht ihr Herr, noch die Dinge, denn sie verstehen es nicht. Wenn deshalb ein Kind etwas, was es sieht, zu haben wünscht, und man es ihm geben will, so ist es besser, das Kind selbst zu dem Gegenstand hinzutragen, als umgekehrt den Gegenstand dem Kinde zu bringen. Aus dieser Handlungsweise zieht es einen seinem kindlichen Alter entsprechenden Schluß, und es gibt kein anderes Mittel, es dazu anzuleiten.

Der Abbé de St. Pierre nannte die Menschen große Kinder; umgekehrt würde man die Kinder kleine Menschen nennen können. Als Sentenzen haben dergleichen Sätze ihre Wahrheit, als Grundsätze bedürfen sie einer Erläuterung. Allein als Hobbes den Bösen, den Teufel, ein kräftiges Kind nannte, erhielt diese Bezeichnung einen offenbaren Widerspruch. Jede Bosheit ist die Folge von Schwäche; das Kind ist also nur boshaft, weil es schwach ist; kräftigt es, so wird es gut sein. Wer alles vermöchte, würde nie etwas Böses tun.31 Unter allen Attributen der allmächtigen Gottheit ist die Güte diejenige, ohne welche man sie sich am wenigsten vorstellen kann. Alle Völker, welche an das Dasein zweier göttlichen Wesen glaubten, haben das böse stets dem guten für untergeordnet gehalten, sonst hätte ihre Annahme völlig widersinnig erscheinen müssen. Man vergleiche damit das Glaubensbekenntnis des savoyschen Vikars, welches ich weiter unten anführen werde.

Die Vernunft allein lehrt uns das Gute und das Böse erkennen. Das Gewissen, welches uns Liebe zu dem ersteren und Haß gegen das letztere einflößt, kann sich, trotzdem es[81] von der Vernunft unabhängig ist, doch nicht ohne dieselbe entwickeln. Vor dem Alter der Vernunft tun wir das Gute wie das Böse, ohne es zu kennen, und es ist folglich mit unseren Handlungen keine Moralität verbunden, obgleich wir dieselbe bei den Handlungen anderer, die uns in Mitleidenschaft ziehen, bisweilen herausfühlen. Ein Kind will alles, was es sieht, auseinandernehmen; es zerbricht und zerschlägt, was es nur immer ergreifen kann; es packt einen Vogel, wie es einen Stein anpacken würde, und tötet ihn, ohne zu wissen, was es tut.

Weshalb das? Die Philosophie wird sich diese Tatsache sofort aus den uns angeborenen Mängeln erklären; der Stolz, die Herrschbegierde, die Eigenliebe, die Bosheit des Menschen, wozu man noch das Gefühl seiner Schwäche fügen könnte, flößen dem Kinde die Sucht ein, Gewalttaten zu verüben und sich von seiner eigenen Kraft zu überzeugen. Aber man betrachte jenen gebrechlichen und altersschwachen Greis, der im Kreislauf des menschlichen Lebens wider zur Schwäche der Kindheit zurückgeführt ist, er bleibt nicht allein selbst unbeweglich und ruhig, er verlangt sogar, daß alles um ihn her so bleibe; die geringste Veränderung stört und beunruhigt ihn; er möchte eine allgemeine Stille herrschen sehen. Wie könnte nun die nämliche mit denselben Neigungen verbundenen Ohnmacht so verschiedene Wirkungen in diesen beiden Lebensaltern hervorbringen, wenn nicht entgegengesetzte Ursachen zugrunde lägen? Und worin kann man diese Verschiedenheit der Ursachen wohl anders suchen als in dem physischen Zustand der beiden Individuen? Der beiden gemeinsame Tätigkeitstrieb beginnt sich bei dem einen zu entwickeln, während er bei dem andern zu erlöschen droht; der eine ist im Bildungs-, der andere im Auflösungsprozeß begriffen, der eine hat ein langes Leben vor sich, der andere steht an der Schwelle des Grabes. Die halberloschene Tätigkeit konzentriert sich im Herzen des Greises, im kindlichen Herzen zeigt sich der Tätigkeitstrieb[82] von überschäumender Kraft und macht sich nach außen Luft. Das Kind fühlt sich gleichsam so voller Leben, daß es seine ganze Umgebung beleben möchte. Ob es schaffe oder vernichte, darauf kommt es ihm nicht an, es ist schon damit zufrieden, den Zustand der Dinge zu verändern, und jede Veränderung bedeutet ihm Tätigkeit. Sein scheinbar größerer Zerstörungstrieb ist nicht die Folge einer angeborenen Bosheit, sondern läßt sich daraus erklären, daß die schaffende Tätigkeit stets eine langsame ist, uns die zerstörende gerade um deswillen der Lebhaftigkeit des Kindes mehr entspricht, weil sie schnellere Resultate herbeiführt.

Während der Schöpfer der Natur den Kindern diesen Tätigkeitstrieb einpflanzt, trifft er aber auch gleichzeitig Sorge, daß er nur in geringem Grade schädlich wirken kann, indem er ihnen nur wenig Kraft zu seiner Betätigung verleiht. Können sie jedoch die Personen ihrer Umgebung als Werkzeuge betrachten, deren Verwendung nur von ihrem Gefallen abhängt, so bedienen sie sich ihrer zur Befriedigung dieses Triebes und zur Ergänzung ihrer eigenen Schwäche. Dann werden sie lästig, tyrannisch, herrisch, boshaft, unbändig, kurzum ihre Entwicklung schlägt Bahnen ein, auf die sie nicht durch eine natürliche Herrschsucht gedrängt werden, die sie aber zu derselben führt, denn es bedarf keiner langen Erfahrung, um zu fühlen, wie angenehm es ist, durch andere Hände zu handeln und nur die Zunge bewegen zu brauchen, um das Weltall in Bewegung zu setzen.

Mit der körperlichen Entwicklung nehmen die Kräfte zu, man wird weniger unruhig, weniger beweglich, man zieht sich mehr in sich selbst zurück. Leib und Seele setzen sich gleichsam ins Gleichgewicht, und die Natur verlangt von uns nur die zu unserer Erhaltung notwendige Bewegung. Aber die Lust zu kommandieren erlischt nicht mit dem Bedürfnis, welches sie hervorgelockt hat; die Ausübung einer gewissen Herrschaft erweckt die Eigenliebe und schmeichelt ihr, und die Gewohnheit nährt und kräftigt sie. Auf[83] solche Weise tritt bloße Launenhaftigkeit an die Stelle des ursprünglichen Bedürfnisses; auf diese Weise nisten sich Vorurteile und Befangenheit schon frühzeitig ein.

Haben wir das Prinzip nun einmal erkannt, so sehen wir auch den Punkt deutlich, wo man von dem Wege der Natur abweicht. Laßt uns nachsehen, was wir tun müssen, um uns auf demselben zu erhalten.

Weit davon entfernt, überschüssige Kräfte zu besitzen, haben die Kinder für die vielen Anforderungen der Natur nicht einmal genug. Man muß sie also in dem ungestörten Gebrauch aller Kräfte lassen, die ihnen die Natur verleiht und die sie nicht mißbrauchen können. Erster Grundsatz.

Man muß sie bei allem, was das physische Bedürfnis erheischt, unterstützen und ihnen überall, wo es ihnen an Verständnis oder Kraft fehlt, ergänzend zur Seite stehen. Zweiter Grundsatz.

Bei der Hilfe, die man ihnen leistet, muß man sich ausschließlich auf das Nützliche beschränken, ohne ihrer Launenhaftigkeit oder ihrem unvernünftigen Verlangen im geringsten nachzugeben, denn die Launenhaftigkeit wir sie nicht quälen, wenn man sie nicht selbst großgezogen hat, da sie keine Mitgift der Natur ist. Dritter Grundsatz.

Sorgfältig muß man ihre Sprache und ihre Zeichen studieren, damit man in einem Alter, wo sie sich nicht verstellen können, bei ihren Wünschen unterscheide, was unmittelbar der Natur und was ihre Launenhaftigkeit entspringt. Vierter Grundsatz.

Der Geist der hier aufgestellten Vorschriften geht darauf aus, den Kindern mehr wahre Freiheit und weniger Herrschaft zu gestatten, sie mehr an Selbsttätigkeit zu gewöhnen und von dem Verlangen nach fremder Hilfe zu entwöhnen. Indem sie sich auf diese Weise schon frühzeitig gewöhnen, ihre Wünsche mit ihren Kräften in Einklang zu bringen, werden sie die Entbehrung dessen, was zu erlangen nicht in ihrer Macht steht, nur wenig empfinden.[84]

Darin liegt denn ein neuer und sehr wichtiger Beweggrund, die Körper und Glieder der Kinder vollkommen frei zu lassen, mit der einzigen Vorsichtsmaßregel, die Gefahr des Fallens von ihnen fernzuhalten und ihnen keine Gegenstände in die Hände zu geben, an denen sie sich verletzen könnten.

Unfehlbar wird ein Kind, dessen Körper und Arme frei sind, weniger weinen, als ein in ein Steckkissen eingeschnürtes Kind. Wer nur physische Bedürfnisse kennt, weint auch nur, wenn er leidet, und das ist ein sehr guter Fingerzeig, denn dann weiß man rechtzeitig, wenn es Hilfe braucht, und man darf, wenn es möglich ist, keinen Augenblick zögern, sie ihm zu gewähren. Kann man die Schmerzen des Kindes jedoch nicht lindern, so verhalte man sich ruhig und verschwende keine Liebkosungen, um es dadurch zu beruhigen; eure Schmeicheleien werden sein Leibschneiden nicht heilen; allein es wird in seiner Erinnerung behalten, was es nur zu tun braucht, um geliebkost zu werden, und wenn es erst einmal weiß, wie es euch um seinetwillen nach Belieben in unaufhörlicher Geschäftigkeit erhalten kann, dann ist es euer Herr geworden, dann ist alles verloren.

In ihren Bewegungen weniger behindert, werden die Kinder weniger weinen; durch ihr Weinen weniger belästigt, wird man sie weniger peinigen, um sie zur Ruhe zu bringen; weniger häufig bedroht und gehätschelt, werden sie weniger furchtsam oder halsstarrig werden und besser in ihrem natürlichen Zustande verharren. Die Kinder können sich weniger durch anhaltendes Weinen als durch unsere unausgesetzten Beruhigungsmittel einen Bruch zuziehen, und zum Beweis will ich nur den Umstand anführen, daß gerade die vernachlässigsten Kinder weniger häufig als andere mit diesem Uebel behaftet sind. Ich bin weit davon entfernt, deshalb zu wünschen, daß man sie vernachlässige; es ist im Gegenteil von Wichtigkeit, daß man ihnen zuvorkomme und sich nicht erst durch ihr Geschrei auf ihre Bedürfnisse aufmerksam machen lasse. Aber ich[85] will ebensowenig, daß die Sorgfalt, die man ihnen erweist, am unrechten Platz sei. Warum sollten sie sich des Weines enthalten, wenn sie erst einsehen, welche Vorteile sie durch ihre Tränen erreichen können? Gar gut mit dem Preise bekannt, welchen man auf ihr Stillsein setzt, hüten sie sich, allzu verschwenderisch damit zu sein. Sie steigern ihn endlich in dem Maße, daß man ihn nicht mehr zu zahlen vermag, und dann tritt die Gefahr ein, daß sie sich durch vergebliches Weinen übermäßig anstrengen, erschöpfen, ja selbst töten.

Unausgesetztes Weinen eines Kindes, welches weder eingeschnürt noch krank ist, und dem man es an nichts fehlen läßt, rührt nur von Gewohnheit und Eigensinn her. Die Schuld trägt nicht die Natur, sondern die Amme, welche, weil sie sich nicht Mühe geben will, die kleine Unannehmlichkeit des Weinens zu ertragen, es lieber vermehrt, ohne zu bedenken, daß man das Kind gerade dadurch, daß man es heute zum Schweigen bringt, erst recht anstachelt, morgen desto mehr zu weinen.

Das einzige Mittel, dieser schlechten Gewohnheit abzuhelfen oder ihr von vornherein vorzubeugen, besteht darin, gar nicht darauf zu merken. Niemand unterzieht sich gern einer vergeblichen Mühe, nicht einmal die Kinder. Sie hören freilich in ihren Versuchen nicht sogleich auf; besitzt man indes nur mehr Beharrlichkeit als sie Hartnäckigkeit, so ermüden sie bald und wiederholen sie nicht mehr. Auf diese Weise er spart man ihnen Tränen und gewöhnt sie, nur dann welche zu vergießen, wenn der Schmerz sie ihnen wirklich auspreßt.

Will man übrigens Kinder, die aus Launenhaftigkeit oder Eigensinn weinen, abhalten, darin fortzufahren, so ist ein sicheres Mittel, sie durch einen hübschen und in die Augen fallenden Gegenstand, der sie ihre Absicht zu weinen vergessen läßt, zu zerstreuen. Die meisten Ammen glänzen in dieser Kunst, und behutsam und nicht zu häufig angewandt, ist sie von großem Nutzen: dabei ist es jedoch von[86] äußerster Wichtigkeit, daß das Kind nicht die Absicht, es zu zerstreuen, merke, daß das Kind sich unterhalte, ohne zu glauben, daß man es beobachte. Nun sind aber gerade in letzterer Hinsicht alle Ammen höchst ungeschickt.

Man entwöhnt die Kinder ohne Ausnahme zu früh. Der naturgemäße Zeitpunkt der Entwöhnung wird durch den Durchbruch der Zähne angezeigt, welcher gewöhnlich mit Schmerzen und mit Beschwerden verbunden ist. Instinktmäßig führt dann das Kind alles, was es in den Händen hält, öfters nach dem Mund, um daran zu kauen. Man denkt dem Kind das Zahnen zu erleichtern, wenn man ihm irgendeinen harten Körper, wie Elfenbein oder Wolfszähne, zum Spielzeug gibt. Meiner Ansicht nach täuscht man sich. Anstatt das Zahnfleisch zu erweichen, machen diese harten Körper dasselbe vielmehr schwielig, verhärten es und erhöhen die Schmerzen und Beschwerden des Durchbruchs. Nehmen wir uns nur immer den Instinkt zum Muster. Man sieht nie, das junge Hunde ihre hervorbrechenden Zähne an Kieselsteinen, Eisen oder Knochen üben, sondern an Holz, Leder, Lumpen und weichen nachgiebigen Stoffen, in welche sich der Zahn eindrücken kann.

Auf allen Gebieten ist die Einfachheit verschwunden, selbst aus der Kinderstube. Schellen von Silber, von Gold, von Korallen, von geschliffenen Kristall, Klappern von jedem Preis und jeder Gattung – was für unnützes und verderbliches Zeug! Fort mit all diesem Kram! Fort mit den Schellen! Fort mit den Klappern! Kleine Baumzweige mit ihren Früchten und Blättern, ein Mohnkopf, in welchem man die Samenkörner klappern hört, ein Stück Süßholz, an dem es saugen und kauen kann, werden es in ebenso großes Entzücken versetzen als all diese prächtigen Schnurrpfeifereien, und sind vor allen Dingen nicht mit dem Uebelstande verbunden, es schon von Geburt an den Luxus zu gewöhnen.

Man hat allgemein anerkannt, daß Brei keine allzu gesunde Nahrung ist. Abgekochte Milch und Mehl in noch[87] halbrohem Zustand sagen dem Magen nicht zu und verderben ihn. Im Brei ist das Mehl weniger zubereitet und durchgekocht als im Brot und hat außer dem den Gärungsprozeß nicht durchgemacht; meines Erachtens sind Brotsuppe und Reisschleim vorzuziehen. Will man aber durchaus Brei kochen, so ist es ratsam, das Mehl vorher ein wenig zu rösten. In meinem Lande bereitet man aus solchem gedörrten Mehl eine sehr angenehm schmeckende und gesunde Suppe. Bouillon und Fleischsuppen sind ebenfalls für Kinder keine sehr empfehlenswerten Nahrungsmittel, deren Genuß man soviel als möglich beschränken muß. Man muß sein Augenmerk darauf richten, daß sich die Kinder sogleich ans Kauen gewöhnen; das ist das eigentlichste und richtigste Mittel, den Durchbruch der Zähne zu erleichtern. Beginnen sie erst, das Gekaute hinunterzuschlucken, so befördert der sich mit den Speisen mischende Speichel wesentlich die Verdauung.

Ich würde sie deshalb sogleich an trockenen Früchten und Brotrinden kauen lassen und ihnen zum Spielen Stückchen harten Brotes oder Zwieback geben, ähnlich dem in Piemont gebräuchlichen Brot, welches dort unter dem Namen Grisse bekannt ist. Während sie dies Brot in ihrem Mund erweichen, würden sie auch ein wenig davon verschlucken; ehe man sich dessen versähe, wären die Zähne durchgebrochen und die Kinder entwöhnt. Die Landleute haben gewöhnlich einen sehr guten Magen, und man hat sie nur auf die beschriebene Weise entwöhnt.

Die Kinder hören von ihrer Geburt an sprechen; man spricht nicht allein zu ihnen, bevor sie verstehen, was man ihnen sagt, sondern selbst bevor sie die Laute, welche sie vernehmen, wiederzugeben vermögen. Ihr noch in einer Art Erstarrung liegendes Sprachorgan gebraucht geraume Zeit, bis es die Fähigkeit erlangt, die vorgesprochenen Töne nachzuahmen, und es ist noch nicht einmal sicher, ob das kindliche Ohr sie von Anfang an ebenso deutlich vernimmt[88] wie das unsrige. Ich mißbillige es keineswegs, daß die Amme das Kind durch Lieder und durch fröhliche Töne zu erheitern sucht; aber das mißbillige ich, daß sie es durch einen Schwall überflüssiger Worte, von denen es nichts als den darauf gelegten Ton versteht, unablässig betäubt. Ich wünschte, daß die ersten Laute, welche man das Kind vernehmen läßt, genau artikuliert, leicht faßbar und deutlich wären, häufig wiederholt würden, und daß die Worte, die sie bezeichnen, sich nur auf sichtbare Gegenstände bezögen, welche man sogleich dem Kinde zeigen könnte. Die nicht genug zu beklagende Leichtfertigkeit, uns mit leidigen Worten abzuspeisen, die uns doch unverständlich bleiben, beginnt früher, als man denkt. Der Schüler hört in der Klasse das Geschwätz seines Schulmonarchen an, wie er in den Windeln das Geplauder seiner Amme anhörte. Mir kommt es so vor, als ob es sehr weislich sein würde, ihn so zu erziehen, daß er für dergleichen gar kein Verständnis hätte.

Unwillkürlich werden sich uns vielfach Betrachtungen aufdrängen, wenn wir uns mit der Entstehung der Sprache und ersten Gespräche der Kinder beschäftigen. Wie man es auch immer anstellen möge, sie werden stets auf die nämliche Weise sprechen lernen, und alle philosophischen Spekulationen sind völlig überflüssig.

Von Anfang an haben sie gleichsam eine besondere Grammatik für ihr Alter, deren Syntax weit allgemeinere Regeln hat als die unsrige, und wenn man seine Aufmerksamkeit darauf richten wollte, würde man sich über die Genauigkeit wundern, mit der sie sich nach gewissen Analogien richte, allerdings sehr fehlerhaften, wenn man will, die aber trotzdem sehr regelrecht sind und uns nur wegen ihrer Härte oder weil sie gegen den Sprachgebrauch verstoßen, mißfallen. Neulich hörte ich, wie ein armes Kind von seinem Vater ausgescholten wurde, weil es zu ihm gesagt hatte: Mein Vater, soll ich gehen hin? (Mon pére, irai je-t-y?) Nun kann man aber gerade daraus ersehen,[89] das dieses Kind der Analogie weit besser folgte als unsere Grammatiker; denn da man zu ihm sagte: »Gehe hin!« (vas-y!) warum sollte es nun nicht auch sagen: »Soll ich gehen hin?« Dabei lasse man nicht außer acht, mit welcher Geschicklichkeit es den Hiatus von irai-je-y? oder y irai – je? zu vermeiden wußte. Ist es nun etwa die Schuld des armen Kindes, daß wir ganz unnötigerweise das bestimmende Adverbium »hin« aus dieser Phrase fortgelassen habe, weil wir damit nichts anzufangen wußten? Es ist eine unausstehliche Pedanterie und völlig überflüssige Mühe, sich darauf zu steifen, bei den Kindern unaufhörlich alle die kleinen Sprachschnitzer zu verbessern, die sie mit der Zeit unfehlbar schon selbst verbessern werden. Sprecht in ihrer Gegenwart nur immer selbst richtig, sorgt dafür, daß sie sich bei euch am wohlsten fühlen, und ihr könnt dann sicher sein, daß sich ihre Sprache nach eurem Vorbild allmählich reinigen wird, ohne daß ihr je ihre Fehler zu rügen brauchen.

Allein ein Mißbrauch von ungleich größerer Wichtigkeit und dem sich ebenso leicht vorbeugen läßt, besteht darin, daß man die Kinder zu früh zum Sprechen bringen will, als ob man besorgte, sie würden es nicht von selbst lernen. Dieser rücksichtslose Eifer bringt gerade die entgegengesetzte Wirkung hervor. Sie sprechen infolgedessen später und unzusammenhängender. Die übertriebene Aufmerksamkeit, die man allem schenkt, was sie sagen, überhebt sie der Mühe, gut zu artikulieren, und da sie sich kaum dazu bequemen, den Mund zu öffnen, so behalten viele lebenslänglich eine fehlerhafte Aussprache und eine unzusammenhängende Redeweise, die sie fast unverständlich macht.

Ich habe viel unter den Bauern gelebt und nie jemand, weder Mann noch Frau, weder Knaben noch Mädchen mit der Zunge anstoßen hören. Woher kommt das? Sind die Organe der Landleute anders gebildet als die unsrigen? Nein, aber sie sind anders geübt. Gerade meinem Fenster gegenüber liegt ein Hügel, auf welchem sich die Kinder des[90] Orts zum spielen zusammenfinden pflegen. Obgleich die Entfernung nicht unbedeutend ist, unterscheide ich doch alles, was sie sagen, auf das genaueste, und verdanke ihnen für dieses Werk manche schätzenswerten Fingerzeige. Täglich täuscht mich mein Ohr über ihr Alter; ich glaube, die Stimmen zehnjähriger Kinder zu vernehmen, und blicke ich auf, so sehe ich der Größe und den Zügen nach nur drei bis vierjährige vor mir. Aber dieser Täuschung bin ich nicht etwa allein unterworfen; die Städter, welche mich besuchen und die ich darüber zu Rate ziehe, verfallen alle in den nämlichen Irrtum.

Die einfache Erklärung liegt darin, daß die Stadtkinder, welche bis zu ihrem fünften oder sechsten Lebensjahr im Zimmer und unter den Flügeln einer Wärterin erzogen werden, nur einige abgerissene Töne hervorzustoßen brauchen, um sich sofort verständlich zu machen; sobald sie nur den Mund öffnen, bemüht man sich, ihnen die Worte von den Lippen abzulesen; man spricht ihnen Worte vor, welche sie schlecht nachsprechen, und nur wegen ihrer steten Aufmerksamkeit vermögen diese nämlichen Leute, die ja fortwährend um sie sind, mehr zu erraten, was sie haben sagen wollen, als was sie wirklich gesagt haben.

Auf dem Lande verhält sich die Sache ganz anders. Eine Bäuerin ist nicht beständig um ihr Kind; es ist daher gezwungen, das, was es ihr verständlich machen will, sehr deutlich und sehr laut sprechen zu lernen. Wenn die Kinder, vom Vater, von der Mutter und den übrigen Kindern entfernt, sich allein auf dem Felde befinden, üben sie sich darin, sich schon in einiger Entfernung vernehmbar zu machen und die Kraft der Stimme nach dem Abstand abzumessen, der sie von denen trennt, welchen sie sich hörbar machen wollen. Das ist die rechte Weise, wie man deutlich sprechen lernt; aber dadurch, daß man einer achtsamen Wärterin einige Laute ins Ohr lallt, wird man es gewiß nicht dahin bringen. Es kann zwar vorkommen,[91] das ein Dorfkind zu schüchtern ist, auf eine Frage zu antworten, was es aber sagt, sagt es gewiß laut und vernehmlich; statt dessen muß bei dem Stadtkind die Bonne die Dolmetscherin spielen, sonst vermag niemand zu verstehen, was es vor sich hinbrummt.32

Wenn die Kinder heranwachsen, sollten die Knaben diesen Fehler eigentlich in den Instituten und die Mädchen in den Klöstern ablegen, und in der Tat sprechen diese wie jene auch gewöhnlich weit deutlicher als solche, welche ihre Erziehung allein im väterlichen Hause empfangen haben. Die Schuld, daß sie sich trotzdem nie eine so verständliche Aussprache wie die Landkinder aneignen, liegt darin, daß sie gezwungen werden, so vielerlei auswendig zu lernen und das Gelernte ganz laut aufzusagen. Beim Lernen gewöhnen sie sich nämlich an ein eintöniges Geschnatter, und beim Aufsagen geht es noch schlimmer zu, sie suchen förmlich die Worte mühselig zusammen und ziehen und dehnen die einzelnen Silben. Kein Wunder deshalb, daß, wenn das Gedächtnis im Stich läßt, die Sprache ins Stammeln gerät. Auf diese Weise wird eine fehlerhafte Aussprache angewöhnt und erhalten. Weiter unten wird man sehen, daß mein Emil an dergleichen Fehlern nicht zu leiden hat oder daß sie wenigstens nicht von denselben Ursachen hervorgerufen sind.

Ich gebe zu, daß das niedere Volk und die Landleute in den entgegengesetzten Fehler verfallen. Sie sprechen fast[92] immer lauter als nötig ist, ihre Sprache klingt infolge ihrer zu übertriebenen Artikulation hart und barsch, sie betonen zuviel Wörter, sind in der Wahl derselben nicht sehr glücklich usw.

Aber zunächst erscheint mir dieser Fehler verzeihlicher als der andere, da wenn das erste Gesetz jeder rede ihre allgemeine Verständlichkeit ist, jedenfalls der größte Fehler, den man begehen kann, darin besteht, unverständlich zu reden. Wer darauf ausgeht, ohne alle Betonung zu sprechen, geht damit zugleich darauf aus, die Rede ihrer Anmut und ihrer Kraft zu entkleiden. Der Ton ist die Seele der Rede, er gibt ihr das Gefühl und die Wahrheit. Der Ton lügt weniger als das Wort; ebendeshalb scheuen ihn vielleicht die Leute von sogenannter guter Erziehung in so hohem Grade. Aus dieser Gewohnheit, alles in gleichem Ton zu sagen, ist die Unsitte hervorgegangen, sich über die Leute, ohne daß sie es merken, lustig zu machen. An Stelle der verschmähten Betonung treten allerlei völlig lächerliche, gezierte und der Mode unterworfene Manieren der Aussprache, wie man sie besonders bei den jungen Hofleuten wahrnehmen kann. Gerade dieses gezierte Wesen in Worten und in der Haltung macht uns Franzosen anfangs den fremden Völkern so unleidlich und unangenehm. Den wahren Sinn unserer Worte verrät leichter unser Mienenspiel als unsere Rede. Das ist nicht das Mittel, eine günstige Meinung für sich hervorzurufen.

Alle diese kleinen Sprachmängel, die man von den Kindern so ängstlich fernzuhalten sucht, sind unwesentlich; man beugt ihnen mit der größten Leichtigkeit vor oder stellt sie ebenso leicht wieder ab; allein diejenigen, an deren Angewöhnung man selber die Schuld trägt, weil man ihnen leise, undeutlich und mit ängstlicher Stimme zu reden gestattete, ihren Ton unaufhörlich bekrittelte und an allen ihren Worten etwas auszusetzen hatte, vermag man nie wieder abzulegen. Wer nur im Umgang mit Damen sprechen[93] gelernt hat, wird vor der Front eines Bataillons kein kräftiges Kommandowort erschallen lassen können, und dem Pöbel bei einem Aufruhr keine besondere Scheu und Furcht einzuflößen vermöge. Lehrt die Kinder zuerst mit Männern reden, dann werden sie, wenn es sich einmal nötig macht, auch schon mit Frauen zu reden wissen.

Auf dem Lande in bäuerlicher Einfachheit erzogen, werden eure Kinder eine klangvollere Stimme bekommen; sie werden sich ebensowenig das unverständliche Geschnatter der Stadtkinder wie die ländliche Ausdrucksweise und den bäuerlichen Ton angewöhnen, oder werden wenigstens diese Untugenden leicht wieder ablegen, da der Lehrer, der von ihrer Geburt an mit ihnen zusammenlebt und von Tag zu Tage immer ausschließlicher nur für sie lebt, durch seine eigene korrekte Sprache den Einwirkungen der ländlichen Sprache vorbeugen oder sie verwischen wird. Emil wird ein ebenso reines Französisch sprechen wie ich, aber er wird es deutlicher sprechen und es bedeutend besser artikulieren als ich.

Das Kind, welches zu sprechen beginnt, darf nur solche Worte hören, welche es verstehen kann, und nur solche nachsprechen, die es zu artikulieren im stande ist. Die Mühe, welche es sich dabei gibt, bringt es unwillkürlich dazu, die Silben zu wiederholen, als ob es sich darin üben wollte, sie deutlicher auszusprechen. Wenn es zu stammeln beginnt, so zerbrecht euch nicht den Kopf damit, zu erraten, was es sagen will. Wer beansprucht, daß man auf alle seine Worte lausche, maßt sich dadurch eine Art Herrschaft an, und das Kind darf keine ausüben. Es genüge euch, für das Notwendige mit aller Achtsamkeit zu sorgen. Es ist seine Sache, euch mit dem, was ihm nicht notwendig ist, bekanntzumachen. Noch weit weniger darf man es zu früh zum Sprechen anhalten; je mehr es den Nutzen davon einsieht, desto mehr Mühe wird es sich geben, von selbst sprechen zu lernen.

Man hat die allerdings richtige Bemerkung gemacht, daß diejenigen, welche zu spät zu sprechen beginnen niemals[94] so deutlich wie andere sprechen; allein nicht ihr spätes Sprechen trägt die Schuld an dem Fehler des Organs, sondern eben des angeborenen fehlerhaften Organs wegen beginnen sie so spät zu sprechen, denn warum sollten sie sonst später als die übrigen sprechen lernen? Haben sie etwa weniger Gelegenheit zum Sprechen, und regt man sie weniger dazu an? Im Gegenteil, gerade wegen der Besorgnis, welche jene Verspätung, sobald man sie bemerkt, hervorruft, müht man sich bei ihnen weit mehr ab als bei solchen, die schon früh deutliche Laute hervorgebracht haben, sie zu Sprechversuchen zu bewegen, und dieser übel angewandte Eifer kann freilich viel dazu beitragen, ihr Sprechen unverständlich zu machen; bei weniger Unterstützung würden sie hinreichend Zeit gefunden haben, es zu vervollkommen.

Solche Kinder, die zu früh zum Sprechen angehalten werden, haben weder Zeit, das, was sie sagen sollen, richtig aussprechen noch auffassen und verstehen zu lernen. Ueberläßt man sie aber hierbei sich selbst, so schlagen sie den naturgemäßen Weg ein, üben sich zunächst in der Aussprache der leichtesten Silben, und geben euch dann, indem sie allmählich einen Sinn damit verknüpfen, den man freilich erst aus ihren Gebärden erraten muß, ihre eigenen Worte, ehe sie von euch die eurigen lernen. Deshalb lernen und eignen sie sich dieselben auch erst an, nachdem sie sie verstanden haben. Da sie nicht fortwährend aufgefordert werden, sie sogleich anzuwenden, so werden sie erst genau aufmerken, welchen Sinn ihr damit verbindet, und erst, wenn sie dessen sicher sind, sie sich aneignen.

Der größte Uebelstand der Ueberstürzung, mit welcher man die Kinder, ehe sie noch das erforderliche Alter erreicht haben, zum Sprechen anhält, liegt nicht darin, daß die ersten Gespräche, die man mit ihnen hält, und die ersten Worte, welche sie sprechen, keinen Sinn für sie haben, sondern daß sie einen andern Sinn als wir hineinlegen, ohne daß wir es zu merken vermögen, so daß, während sie uns[95] völlig genau zu antworten scheinen, wir uns in Wirklichkeit gegenseitig nicht verstehen. Aus diesem Umstand, daß jeder demselben Wort einen anderen Sinn unterlegt, schreibt sich gewöhnlich die Ueberraschung her, in die uns nicht selten die Aeußerungen der Kinder versetzen, aus denen wir Vorstellungen herauslesen, die sie durchaus nicht damit verbunden haben. Ich halte diese unsere geringe Achtsamkeit auf den wahren Sinn, den die Worte für die Kinder haben, für die Ursache ihrer ersten Irrtümer, und diese Irrtümer üben sich selbst dann, wenn die Kinder sie schon als solche erkannt haben, immer noch einen bestimmenden Einfluß auf die Richtung des Geistes ihr ganzes Leben lang aus.

Beschränkt deshalb soviel als möglich den Wörterschatz des Kindes. Es kann ihm nur zum großen Nachteil gereichen, wenn es mehr Wörter als Begriffe hat und wenn es mehr Dinge mit Namen nennen, als Begriffe mit ihnen zu verbinden vermag. Ich bin überzeugt, daß einer der Hauptgründe, weshalb die Bauern mehr Mutterwitz besitzen und geweckter als die Städter sind, in dem geringeren Reichtum ihres Wortvorrats beruht. Sie haben zwar nur wenig Begriffe, aber diese stehen im Einklang miteinander.

Die ersten Entwicklungen der Kindheit geschehen fast alle gleichzeitig. Das Kind lernt beinahe in derselben Zeit sprechen, essen und gehen. Diese Entwicklungsperiode bildet so recht eigentlich die erste Epoche seines Lebens. Vor derselben ist es nichts mehr und nichts weniger, als was es im Mutterschoße war; es hat kein Gefühl, keine Vorstellung ja kaum Empfindungen kann man ihm zuschreiben: es fühlt nicht einmal sein eigenes Dasein.

Vivit, et est vitae nescius ipse suae.

Ovid, Trist., lib. I.[96]

Quelle:
Jean-Jacques Rousseau: Emil oder Über die Erziehung. Band 1, Leipzig [o.J.], S. 13-97.
Lizenz:

Buchempfehlung

Musset, Alfred de

Gamiani oder zwei tolle Nächte / Rolla

Gamiani oder zwei tolle Nächte / Rolla

»Fanni war noch jung und unschuldigen Herzens. Ich glaubte daher, sie würde an Gamiani nur mit Entsetzen und Abscheu zurückdenken. Ich überhäufte sie mit Liebe und Zärtlichkeit und erwies ihr verschwenderisch die süßesten und berauschendsten Liebkosungen. Zuweilen tötete ich sie fast in wollüstigen Entzückungen, in der Hoffnung, sie würde fortan von keiner anderen Leidenschaft mehr wissen wollen, als von jener natürlichen, die die beiden Geschlechter in den Wonnen der Sinne und der Seele vereint. Aber ach! ich täuschte mich. Fannis Phantasie war geweckt worden – und zur Höhe dieser Phantasie vermochten alle unsere Liebesfreuden sich nicht zu erheben. Nichts kam in Fannis Augen den Verzückungen ihrer Freundin gleich. Unsere glorreichsten Liebestaten schienen ihr kalte Liebkosungen im Vergleich mit den wilden Rasereien, die sie in jener verhängnisvollen Nacht kennen gelernt hatte.«

72 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.

442 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon