§ 6.

[28] Das vollendete System der Wissenschaft geht vom absoluten, alles Entgegengesetzte ausschließenden Ich aus. Dieses als das Eine Unbedingbare bedingt die ganze Kette des Wissens, beschreibt die Sphäre alles Denkbaren, und herrscht durch das ganze System unsers Wissens als die absolute alles begreifende Realität. Nur durch ein absolutes Ich, nur dadurch, daß dieses selbst schlechthin gesetzt ist, wird es möglich, daß ein Nicht-Ich ihm entgegengesetzt, ja daß Philosophie selbst möglich werde; denn das ganze Geschäft der theoretischen und praktischen Philosophie ist nichts als Lösung des Widerstreits zwischen dem reinen und empirisch-bedingten Ich8. Jene nämlich geht, um diesen Widerstreit zu lösen, von Synthesis zu Synthesis fort, bis zu der höchstmöglichen, in der Ich und Nicht-Ich gleich gesetzt wird (Gott), wo dann da die theoretische Vernunft sich in lauter Widersprüchen endet, die praktische eintritt, um den Knoten zwar nicht zu lösen, aber durch absolute Forderungen zu zerhauen.

Sollte demnach das Prinzip aller Philosophie das empirisch-bedingte Ich sein (worin im Grunde der Dogmatismus und der unvollendete Kritizismus übereinkommen), so wäre alle Spontaneität des Ichs, theoretische und praktische, ganz unerklärbar. Das theoretische Ich nämlich strebt, Ich und Nicht-Ich gleichzusetzen,[28] also das Nicht-Ich selbst zur Form des Ichs zu erheben; das praktische strebt nach reiner Einheit, mit Ausschließung alles Nicht-Ichs – beide nur insofern, als das absolute Ich absolute Kausalität und reine Identität hat. Das letzte Prinzip der Philosophie kann also schlechterdings nichts außer dem absoluten Ich liegendes, es kann weder Erscheinung noch Ding an sich sein.

Das absolute Ich ist keine Erscheinung; denn dem widerspricht schon der Begriff des Absoluten; es ist aber weder Erscheinung noch Ding an sich, weil es überhaupt kein Ding, sondern schlechthin Ich, und bloßes Ich ist, das alles Nicht-Ich ausschließt.

Der letzte Punkt, an dem unser ganzes Wissen und die ganze Reihe des Bedingten hängt, muß schlechterdings durch nichts weiter bedingt sein. Das Ganze unsers Wissens hat keine Haltung, wenn es nicht durch irgend etwas gehalten wird, das sich durch eigene Kraft trägt, und dies ist nichts, als das durch Freiheit Wirkliche. Der Anfang und das Ende aller Philosophie ist – Freiheit!

Quelle:
Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling: Werke. Band 1, Leipzig 1907, S. 28-29.
Lizenz:
Kategorien: