§ 15. Fälle, die unter den bisher aufgestellten Bedeutungen des Satzes nicht begriffen sind.

[39] Aus der im vorigen Kapitel gegebenen Übersicht ergiebt sich als allgemeines Resultat, daß man, obwohl erst allmälig und auffallend spät, auch nicht ohne öfter von Neuem in Verwechselungen und Fehlgriffe zu gerathen, zwei Anwendungen des Satzes vom zureichenden Grunde unterschieden hat: die eine auf Urtheile, die, um wahr zu seyn, immer einen Grund, die andere auf Veränderung realer Objekte, die immer eine Ursache haben müssen. Wir sehn, daß in beiden Fällen der Satz vom zureichenden Grund zur Frage Warum berechtigt, welche Eigenschaft ihm wesentlich ist. Allein sind unter jenen beiden Verhältnissen alle Fälle begriffen, in denen wir Warum zu fragen berechtigt sind? Wenn ich frage: Warum sind in diesem Triangel die drei Seiten gleich? So ist die Antwort: weil die drei Winkel gleich sind. Ist nun die Gleichheit der Winkel Ursache der Gleichheit der Seiten? Nein, denn hier ist von keiner Veränderung, also von keiner Wirkung, die eine Ursache haben müßte, die Rede. – Ist sie bloß Erkenntnißgrund? Nein, denn die Gleichheit der Winkel ist nicht bloß Beweis der Gleichheit der Seiten, nicht bloß Grund eines Unheils: aus bloßen Begriffen ist ja nimmermehr einzusehn, daß, weil die Winkel gleich sind, auch die Seiten gleich seyn müssen: denn im Begriff von Gleichheit der Winkel liegt nicht der von Gleichheit der Seiten. Es ist hier also keine Verbindung zwischen Begriffen, oder Urtheilen, sondern zwischen Seiten und Winkeln. Die Gleichheit der Winkel ist nicht unmittelbar Grund zur Erkenntniß[39] der Gleichheit der Seiten, sondern nur mittelbar, indem sie Grund des So-seyns, hier des Gleichseyns der Seiten ist: darum daß die Winkel gleich sind, müssen die Seiten gleich seyn. Es findet sich hier eine nothwendige Verbindung zwischen Winkeln und Seiten, nicht unmittelbar eine nothwendige Verbindung zweier Urtheile. – Oder wiederum, wenn ich frage, warum zwar infecta facta, aber nimmermehr facta infecta fieri possunt; also warum denn eigentlich die Vergangenheit schlechthin unwiederbringlich, die Zukunft unausbleiblich sei; so läßt sich Dies auch nicht rein logisch, mittelst bloßer Begriffe, darthun. Und eben so wenig ist es Sache der Kausalität; da diese nur die Begebenheiten in der Zeit, nicht diese selbst beherrscht. Aber nicht durch Kausalität, sondern unmittelbar durch ihr bloßes Daseyn selbst, dessen Eintritt jedoch unausbleiblich war, hat die jetzige Stunde die verflossene in den bodenlosen Abgrund der Vergangenheit gestürzt und auf ewig zu nichts gemacht. Dies läßt sich aus bloßen Begriffen nicht verstehn, noch durch sie verdeutlichen; sondern wir erkennen es ganz unmittelbar und intuitiv, eben wie den Unterschied zwischen Rechts und Links und was von diesem abhängt, z.B. daß der linke Handschuh nicht zur rechten Hand paßt.

Da nun also nicht alle Fälle, in denen der Satz vom zureichenden Grunde Anwendung findet, sich zurückführen lassen auf logischen Grund und Folge und Ursache und Wirkung; so muß bei dieser Eintheilung dem Gesetz der Specifikation kein Genüge geschehn seyn. Das Gesetz der Homogeneität nöthigt uns jedoch vorauszusetzen, daß jene Fälle nicht ins Unendliche verschieden seyn, sondern auf gewisse Gattungen müssen zurückgeführt werden können. Ehe ich nun diese Eintheilung versuche, ist es nöthig zu bestimmen, was dem Satz vom zureichenden Grunde, als sein eigenthümlicher Charakter, in allen Fällen eigen sei; weil der Geschlechtsbegriff vor den Gattungsbegriffen festgestellt werden muß.[40]


Quelle:
Arthur Schopenhauer. Zürcher Ausgabe. Werke in zehn Bänden. Band 5, Zürich 1977, S. 39-41.
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Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde /Über den Willen der Natur