§ 27. Nutzen der Begriffe.

[116] Unsere Vernunft, oder das Denkvermögen, hat, wie in Obigem gezeigt worden, zu ihrem Grundwesen das Abstraktionsvermögen, oder die Fähigkeit, Begriffe zu bilden: die Gegenwart dieser im Bewußtseyn ist es also, welche so erstaunliche Resultate herbeiführt. Daß sie Dieses leisten könne, beruht, im Wesentlichen, auf Folgendem.

Eben dadurch, daß Begriffe weniger in sich enthalten, als die Vorstellungen daraus sie abstrahirt worden, sind sie leichter zu handhaben, als diese, und verhalten sich zu ihnen ungefähr wie[116] die Formeln in der höheren Arithmetik zu den Denkoperationen, aus denen solche hervorgegangen sind und die sie vertreten, oder wie der Logarithmus zu seiner Zahl. Sie enthalten von den vielen Vorstellungen, aus denen sie abgezogen sind, gerade nur den Theil, den man eben braucht; statt daß, wenn man jene Vorstellungen selbst, durch die Phantasie, vergegenwärtigen wollte, man gleichsam eine Last von Unwesentlichem mitschleppen müßte und dadurch verwirrt würde: jetzt aber, durch Anwendung von Begriffen, denkt man nur die Theile und Beziehungen aller dieser Vorstellungen, die der jedesmalige Zweck erfordert. Ihr Gebrauch ist demnach dem Abwerfen unnützen Gepäckes, oder auch dem Operiren mit Quintessenzen, statt mit den Pflanzenspecies selbst, mit der Chinine statt der China, zu vergleichen. Überhaupt ist es die Beschäftigung des Intellekts mit Begriffen, also die Gegenwart der jetzt von uns in Betrachtung genommenen Klasse von Vorstellungen im Bewußtsein, welche eigentlich und im engern Sinne Denken heißt. Sie auch wird durch das Wort Reflexion bezeichnet, welches, als ein optischer Tropus, zugleich das Abgeleitete und Sekundäre dieser Erkenntnißart ausdrückt. Dieses Denken, diese Reflexion ertheilt nun dem Menschen jene Besonnenheit, die dem Thiere abgeht. Denn, indem sie ihn befähigt, tausend Dinge durch Einen Begriff, in jedem aber immer nur das Wesentliche zu denken, kann er Unterschiede jeder Art, also auch die des Raumes und der Zeit, beliebig fallen lassen, wodurch er, in Gedanken, die Übersicht der Vergangenheit und Zukunft, wie auch des Abwesenden, erhält; während das Thier in jeder Hinsicht an die Gegenwart gebunden ist. Diese Besonnenheit nun wieder, also die Fähigkeit sich zu besinnen, zu sich zu kommen, ist eigentlich die Wurzel aller seiner theoretischen und praktischen Leistungen, durch welche der Mensch das Thier so sehr übertrifft; zunächst nämlich der Sorge für die Zukunft, unter Berücksichtigung der Vergangenheit, sodann des absichtlichen, planmäßigen, methodischen Verfahrens bei jedem Vorhaben, daher des Zusammenwirkens Vieler zu Einem Zweck, mithin der Ordnung, des Gesetzes, des Staats, u.s.w. – Ganz besonders aber sind die Begriffe das eigentliche Material der Wissenschaften, deren Zwecke sich zuletzt zurückführen lassen auf Erkenntniß des Besonderen durch das Allgemeine, welche[117] nur mittelst des dictum de omni et nullo und dieses wieder nur durch das Vorhandenseyn der Begriffe möglich ist. Daher sagt Aristoteles: aneu men gar tou katholou ouk estin epistêmên labein (absque universalibus enim non datur scientia). (Metaph. XII, c.9.) Die Begriffe sind eben jene Universalia, um deren Daseynsweise sich, im Mittelalter, der lange Streit der Realisten und Nominalisten drehte.

Quelle:
Arthur Schopenhauer. Zürcher Ausgabe. Werke in zehn Bänden. Band 5, Zürich 1977, S. 116-118.
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