§ 36. Satz vom Grunde des Seyns.

[147] Raum und Zeit haben die Beschaffenheit, daß alle ihre Theile in einem Verhältniß zu einander stehn, in Hinsicht auf welches jeder derselben durch einen andern bestimmt und bedingt ist. Im Raum heißt dies Verhältniß Lage, in der Zeit Folge. Diese Verhältnisse sind eigenthümliche, von allen andern möglichen Verhältnissen unserer Vorstellungen durchaus verschiedene, daher weder der Verstand, noch die Vernunft, mittelst bloßer Begriffe, sie zu fassen vermag; sondern einzig und allein vermöge der reinen Anschauung a priori sind sie uns verständlich: denn was oben und unten, rechts und links, hinten und vorn, was vor und nach sei, ist aus bloßen Begriffen nicht deutlich zu machen. Kam belegt Dies sehr richtig damit, daß der Unterschied zwischen dem rechten und linken Handschuh durchaus nicht anders, als mittelst der Anschauung verständlich zu machen ist. Das Gesetz nun, nach welchem die Theile des Raums und der Zeit, in Absicht auf jene Verhältnisse, einander bestimmen, nenne ich den Satz vom zureichenden Grunde des Seyns, principium rationis sufficientis essendi. Ein Beispiel von diesem Verhältniß ist schon im 15. Paragraph gegeben, an der Verbindung zwischen den Seiten und den Winkeln eines Dreiecks, und daselbst gezeigt, daß dieses Verhältniß sowohl von dem zwischen Ursache und Wirkung, als dem zwischen Erkenntnißgrund und Folge, ganz und gar verschieden sei, weshalb hier die Bedingung Grund des Seyns, ratio essendi genannt werden mag. Es versteht sich von selbst, daß die Einsicht in einen solchen Seynsgrund Erkenntnißgrund werden kann, eben wie auch die Einsicht in das Gesetz der Kausalität und seine Anwendung auf einen bestimmten Fall Erkenntnißgrund der Wirkung ist, wodurch aber keineswegs die gänzliche Verschiedenheit zwischen Grund des Seyns, des Werdens und des Erkennens aufgehoben wird. In vielen Fällen ist Das, was nach einer Gestaltung unsers Satzes Folge ist, nach der andern Grund: so ist sehr oft die Wirkung Erkenntnißgrund der Ursache. Z.B. das Steigen des Thermometers ist, nach dem Gesetze der Kausalität, Folge der vermehrten Wärme; nach dem Satze vom Grunde des Erkennens[148] aber ist es Grund, Erkenntnißgrund der vermehrten Wärme, wie auch des Unheils, welches diese aussagt.

Quelle:
Arthur Schopenhauer. Zürcher Ausgabe. Werke in zehn Bänden. Band 5, Zürich 1977, S. 147-149.
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