§ 48. Reciprokation der Gründe.

[169] Der Satz vom zureichenden Grunde kann in jeder seiner Bedeutungen ein hypothetisches Urtheil begründen, wie denn auch jedes hypothetische Urtheil zuletzt auf ihm beruht, und immer bleiben dabei die Gesetze der hypothetischen Schlüsse gültig, nämlich: vom Daseyn des Grundes auf das Daseyn der Folge, und vom Nichtseyn der Folge auf das Nichtseyn des Grundes, ist der Schluß richtig: aber vom Nichtseyn des Grundes auf das Nichtseyn der Folge, und vom Daseyn der Folge auf das Daseyn des Grundes ist der Schluß unrichtig. Nun ist es merkwürdig, daß dennoch in der Geometrie fast überall auch vom Daseyn der Folge auf das Daseyn des Grundes und vom Nichtseyn des Grundes auf das Nichtseyn der Folge geschlossen werden kann. Dies kommt daher, daß, wie § 37 gezeigt ist, jede Linie die Lage der andern bestimmt und es dabei einerlei ist, von welcher man anfangen, d.h. welche man als Grund und welche als Folge betrachten will. Man kann hievon sich überzeugen, indem man sämmtliche geometrische Lehrsätze durchgeht. Nur da, wo nicht bloß von Figur, d.h. von Lage der Linien, sondern von Flächeninhalt, abgesehn von der Figur, die Rede ist, kann man meistens[169] nicht vom Daseyn der Folge auf das Daseyn des Grundes schließen, oder vielmehr die Sätze reciprociren und das Bedingte zur Bedingung machen. Ein Beispiel hievon giebt der Satz: Wenn Dreiecke gleiche Grundlinien und gleiche Höhen haben, sind sie an Flächeninhalt gleich. Er läßt sich nicht also umkehren: Wenn Dreiecke gleichen Flächeninhalt haben, sind auch ihre Grundlinien und Höhen gleich. Denn die Höhen können sich auch umgekehrt wie die Grundlinien verhalten.

Daß das Gesetz der Kausalität keine Reciprokation zulasse, indem die Wirkung nie die Ursache ihrer Ursache seyn könne, und daher der Begriff der Wechselwirkung, seinem eigentlichen Sinne nach, nicht zulässig sei, ist schon oben, § 20, zur Sprache gekommen. – Eine Reciprokation nach dem Satz vom Grunde des Erkennens könnte nur bei Wechselbegriffen Statt finden; indem nur die Sphären dieser sich gegenseitig decken. Außerdem giebt sie den circulus vitiosus.

Quelle:
Arthur Schopenhauer. Zürcher Ausgabe. Werke in zehn Bänden. Band 5, Zürich 1977, S. 169-170.
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