§ 51. Jede Wissenschaft hat eine der Gestaltungen des Satzes vom Grunde vor den andern zum Leitfaden.

[174] Weil die Frage Warum immer einen zureichenden Grund will und die Verbindung der Erkenntnisse nach dem Satz vom zureichenden Grunde die Wissenschaft vom bloßen Aggregat von Erkenntnissen unterscheidet, ist § 4 gesagt worden, daß das Warum die Mutter der Wissenschaften sei. Auch findet sich, daß in jeder derselben Eine der Gestaltungen unsers Satzes, vor den übrigen, der Leitfaden ist; obgleich in derselben auch die andern, nur mehr untergeordnet, Anwendung finden. So ist in der reinen Mathematik der Seynsgrund Hauptleitfaden (obgleich die Darstellung in den Beweisen nur am Erkenntnißgrunde fortschreitet); in der angewandten tritt zugleich das Gesetz der Kausalität auf; und dieses gewinnt ganz die Oberherrschaft in der Physik, Chemie, Geologie u.a.m. Der Satz vom Grunde des Erkennens findet durchaus in allen Wissenschaften starke Anwendung, da in allen das Besondere aus dem Allgemeinen erkannt wird. Hauptleitfaden und fast allein herrschend aber ist er in der Botanik, Zoologie, Mineralogie und andern klassificirenden Wissenschaften. Das Gesetz der Motivation ist, wenn man alle Motive und Maximen, welche sie auch seien, als Gegebenes betrachtet, aus dem man das Handeln erklärt, Hauptleitfaden der Geschichte, Politik, pragmatischen Psychologie u. a. – wenn man aber die Motive und Maximen selbst, ihrem Werth und Ursprung nach, zum Gegenstand der Untersuchung macht, Leitfaden der Ethik. Im 2. Bande meines Hauptwerks findet man, Kap. 12, S. 126, die oberste Eintheilung der Wissenschaften nach diesem Princip ausgeführt.[174]

Quelle:
Arthur Schopenhauer. Zürcher Ausgabe. Werke in zehn Bänden. Band 5, Zürich 1977, S. 174-175.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde
Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde /Über den Willen der Natur