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[103] Antikisierende Vorurteile haben uns gehindert, die eigentlich abendländische Zahl als solche in neuer Weise zu bezeichnen. Die gegenwärtige Zeichensprache der Mathematik fälscht den Tatbestand, und ihr ist es vor allem zuzuschreiben, daß noch heute auch unter Mathematikern der Glaube herrscht, Zahlen seien Größen – denn auf dieser Voraussetzung ruht allerdings unsre schriftliche Bezeichnungsweise.

Aber nicht die zum Ausdruck der Funktion dienenden einzelnen Zeichen (x, π, 5), die Funktion selbst als Einheit, als Element, die variable, in optische Grenzen nicht mehr einzuschließende Beziehung ist die neue Zahl. Für sie wäre eine neue, in ihrer Struktur nicht von antiken Anschauungen beeinflußte Formelsprache nötig gewesen.

Man vergegenwärtige sich den Unterschied zweier Gleichungen – selbst dies Wort sollte nicht so verschiedenartige Dinge zusammenfassen – wie 3x + 4x = 5x und xn + yn = zn (die Gleichung des Fermat'schen[103] Satzes). Die erste besteht aus mehreren »antiken Zahlen« (Größen), die zweite ist eine Zahl von einer andern Art, was durch die identische Schreibweise, die sich unter dem Eindruck euklidisch-archimedischer Vorstellungen entwickelt hat, verdeckt wird. Im ersten Fall ist das Gleichheitszeichen die Feststellung einer starren Verknüpfung bestimmter, greifbarer Größen; im zweiten stellt es eine Beziehung dar, die innerhalb einer Gruppe variabler Gebilde besteht, derart, daß gewisse Veränderungen gewisse andere notwendig zur Folge haben. Die erste Gleichung bezweckt die Bestimmung (Messung) einer konkreten Größe, des »Resultates«; die zweite hat überhaupt kein Resultat, sondern ist nur Abbild und Zeichen einer Beziehung, die für n > 2 – das ist das berühmte Fermatproblem – wahrscheinlich nachweisbar ganzzahlige Werte ausschließt. Ein griechischer Mathematiker würde nicht verstanden haben, was man mit Operationen dieser Art, deren Endzweck kein »Ausrechnen« ist, eigentlich wollte.

Der Begriff der Unbekannten führt vollständig irre, wenn man ihn auf die Buchstaben der Fermatschen Gleichung anwendet. In der ersten, der »antiken«, ist x eine Größe, eine bestimmte und meßbare, die man zu ermitteln hat. In der zweiten hat für x, y, z, n das Wort »bestimmen« gar keinen Sinn, folglich will man den »Wert« dieser Symbole nicht ermitteln, folglich sind sie überhaupt keine Zahlen im plastischen Sinne, sondern Zeichen für einen Zusammenhang, dem die Merkmale der Größe, Gestalt und Eindeutigkeit fehlen, für eine Unendlichkeit möglicher Lagen von gleichem Charakter, die als Einheit begriffen erst die Zahl sind. Die ganze Gleichung ist, in einer Zeichenschrift, die leider viele und irreführende Zeichen verwendet, tatsächlich eine einzige Zahl, und x, y, z sind es so wenig, als + und = Zahlen sind.

Denn schon mit dem Begriff der irrationalen, der ganz eigentlich antihellenischen Zahlen ist im tiefsten Grunde der Begriff der konkreten, bestimmten Zahl aufgelöst worden. Von nun an bilden diese Zahlen nicht mehr eine übersehbare Reihe ansteigender, diskreter, plastischer Größen, sondern ein zunächst eindimensionales Kontinuum, in welchem jeder Schnitt (im Sinne Dedekinds) eine »Zahl«[104] repräsentiert, die kaum die alte Bezeichnung führen sollte. Für den antiken Geist gibt es zwischen 1 und 3 nur eine Zahl, für den abendländischen eine unendliche Menge. Mit der Einführung der imaginären (√–1 = i) und komplexen Zahlen (von der allgemeinen Form a + bi) endlich, welche das lineare Kontinuum zu dem höchst transzendenten Gebilde eines Zahlkörpers (des Inbegriffs einer Menge gleichartiger Elemente) erweitern, in dem nun jeder Schnitt eine Zahlebene – eine unendliche Menge von geringerer »Mächtigkeit«, etwa den Inbegriff aller reellen Zahlen – repräsentiert, ist jeder Rest antik-populärer Greifbarkeit zerstört worden. Diese Zahlenebenen, die in der Funktionentheorie seit Cauchy und Gauß eine wichtige Rolle spielen, sind reine Gedankengebilde. Selbst die positive irrationale Zahl wie √2 konnte aus dem antiken Zahlendenken gewissermaßen wenigstens negativ konzipiert werden, indem man sie als Zahl ausschloß – als ἄῤῥητος und ἄλογος; Ausdrücke von der Form x + yi liegen aber jenseits aller Möglichkeiten des antiken Denkens. Auf der Ausdehnung der arithmetischen Gesetze über das ganze Gebiet des Komplexen, innerhalb dessen sie ständig anwendbar bleiben, beruht die Funktionentheorie, welche nun endlich die abendländische Mathematik in ihrer Reinheit darstellt, indem sie alle Einzelgebiete in sich begreift und auflöst. Erst damit wird diese Mathematik auf das Bild der gleichzeitig sich entwickelnden dynamischen Physik des Abendlandes vollkommen anwendbar, während die antike Mathematik das genaue Seitenstück jener Welt plastischer Einzeldinge darstellt, welche die statische Physik von Leukippos bis auf Archimedes theoretisch und mechanisch behandelt.

Das klassische Jahrhundert dieser Barockmathematik – im Gegensatz zu der ionischen Stils – ist das 18., das von den entscheidenden Entdeckungen Newtons und Leibnizens über Euler, Lagrange, Laplace, d'Alembert zu Gauß führt. Der Aufstieg dieser mächtigen geistigen Schöpfung geschah wie ein Wunder. Man wagte kaum zu glauben, was man sah. Man fand Wahrheiten über Wahrheiten, die den feinen Köpfen eines skeptisch gestimmten Zeitalters unmöglich erschienen. Das Wort d'Alemberts gehört hierher: Allez en avant et la foi vous viendra. Es bezog sich auf die Theorie des Differentialquotienten.[105] Die Logik selbst schien Einspruch zu erheben, alle Annahmen auf Fehlern zu beruhen, und man kam doch zum Ziel.

Dies Jahrhundert eines sublimen Rausches in völlig abstrakten, dem leiblichen Auge entrückten Formen – denn neben jenen Meistern der Analysis stehen Bach, Gluck, Haydn, Mozart –, in dem ein kleiner Kreis gewählter und tiefer Geister in den köstlichsten Entdeckungen und Wagnissen schwelgte, von denen Goethe und Kant ausgeschlossen blieben, entspricht seinem Gehalte nach genau dem reifsten Jahrhundert der Ionik, dem des Eudoxos und Archytas (440–350) – man muß wieder hinzufügen des Phidias, Polyklet, Alkamenes und der Akropolisbauten –, in welchem die Formenwelt der antiken Mathematik und Plastik in der ganzen Fülle ihrer Möglichkeiten aufblühte und zu Ende kam.

Jetzt erst läßt sich der elementare Gegensatz des antiken und abendländischen Seelentums ganz übersehen. Es gibt innerhalb des Gesamtbildes der Geschichte höheren Menschentums bei einer solchen Menge und Stärke historischer Beziehungen nichts innerlich Fremderes. Und eben deshalb, weil Gegensätze sich berühren, weil sie auf ein vielleicht Gemeinsames in der letzten Tiefe des Daseins verweisen, finden wir in der abendländischen, faustischen Seele jenes sehnsüchtige Suchen nach dem Ideal der apollinischen, die sie allein von allen andern geliebt und um die Kraft ihrer Hingabe an die sinnlich-reine Gegenwart beneidet hat.

Quelle:
Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. München 1963, S. 103-106.
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Der Untergang des Abendlandes, II.