3

[130] So treten die Prinzipien der Gestalt und des Gesetzes vor uns hin als die beiden Grundelemente aller Weltbildung. Je entschiedener ein Weltbild die Züge der Natur trägt, desto unumschränkter gilt in ihm das Gesetz und die Zahl. Je reiner eine Welt als ein ewig Werdendes angeschaut wird, desto zahlenfremder ist die ungreifbare Fülle ihrer Gestaltung. »Die Gestalt ist ein Bewegliches, ein Werdendes, ein Vergehendes. Gestaltenlehre ist Verwandlungslehre. Die[130] Lehre von der Metamorphose ist der Schlüssel zu allen Zeichen der Natur«, heißt es in einer Notiz aus Goethes Nachlaß. So unterscheidet sich schon hinsichtlich der Methode Goethes vielberufene »exakte sinnliche Phantasie«, die das Lebendige unberührt auf sich wirken läßt,3 von dem exakten, tötenden Verfahren der modernen Physik. Der Rest des anderen Elements, den man immer finden wird, erscheint in der strengen Naturwissenschaft in Gestalt der nie zu vermeidenden Theorien und Hypothesen, deren anschaulicher Gehalt alles starr Zahlenmäßige und Formelhafte füllt und trägt, in der Geschichtsforschung als Chronologie, das heißt, als jenes dem Werden innerlich ganz fremde und hier doch nie als fremdartig empfundene Zahlennetz, das als Gerüst von Jahreszahlen oder als Statistik die historische Gestaltenwelt umspinnt und durchdringt, ohne daß von Mathematik die Rede sein könnte. Die chronologische Zahl bezeichnet das einmalig Wirkliche, die mathematische das beständig Mögliche. Die eine umschreibt Gestalten und arbeitet für das verstehende Auge die Umrisse von Zeitaltern und Tatsachen heraus; sie dient der Geschichte. Die andere ist selbst das Gesetz, das sie feststellen soll, das Ende und Ziel der Forschung. Die chronologische Zahl ist als Mittel einer Vorwissenschaft der eigentlichsten Wissenschaft entlehnt, der Mathematik. In ihrem Gebrauch wird von dieser Eigenschaft aber abgesehen. Man fühle sich in den Unterschied der beiden Symbole hinein: 12 x 8 = 96 und 18. Oktober 1813. Der Zahlengebrauch unterscheidet sich hier ganz wie der Wortgebrauch in Prosa und Poesie.

Noch etwas andres ist hier zu bemerken. Da ein Werden immer dem Gewordnen zugrunde liegt und Geschichte eine Ordnung des Weltbildes im Sinne des Werdens darstellt, so ist Geschichte die ursprüngliche und Natur im Sinne eines durchgebildeten Weltmechanismus eine späte, erst dem Menschen reifer Kulturen wirklich vollziehbare Weltform. In der Tat ist die dunkle, urseelenhafte Umwelt4 der frühesten Menschheit, wovon heute noch ihre religiösen Gebräuche[131] und Mythen zeugen, jene durch und durch organische Welt voller Willkür, feindlicher Dämonen und launischer Mächte, durchaus ein lebendiges, ungreifbares, rätselhaft wogendes und unberechenbares Ganze. Mag man sie Natur nennen, so ist sie doch nicht unsre Natur, nicht der starre Reflex eines wissenden Geistes. Diese Urwelt klingt als ein Stück längst vergangenen Menschentums nur in der Kinderseele und in den großen Künstlern noch manchmal an, inmitten einer strengen »Natur«, welche der städtische Geist reifer Kulturen mit tyrannischer Nachdrücklichkeit um den einzelnen aufbaut. Hierin hegt der Grund für die gereizte Spannung zwischen wissenschaftlicher (»moderner«) und künstlerischer (»unpraktischer«) Weltanschauung, die jede Spätzeit kennt. Der Tatsachenmensch und der Dichter werden einander nie verstehen. Hier ist auch der Grund zu suchen, weshalb jede als Wissenschaft angestrebte Geschichtsforschung, die immer etwas von Kindheit und Traum, etwas Goethesches in sich tragen müßte, an der Gefahr vorüberstreift, eine bloße Physik des öffentlichen Lebens zu werden, »materialistisch«, wie sie sich selbst ahnungslos genannt hat.

»Natur« im exakten Sinne ist die seltenere, auf den Menschen der großen Städte später Kulturen beschränkte, männliche, vielleicht schon greisenhafte Art, Wirklichkeit zu besitzen, Geschichte die naive und jugendliche, auch die unbewußtere, die der ganzen Menschheit eigen ist. So wenigstens steht die zahlenmäßige, geheimnislose, zerlegte und zerlegbare Natur des Aristoteles und Kant, der Sophisten und Darwinisten, der modernen Physik und Chemie, jener erlebten, grenzenlosen, gefühlten Natur Homers und der Edda, des dorischen und gotischen Menschen gegenüber. Es heißt das Wesen aller Geschichtsbetrachtung verkennen, wenn man dies übersieht. Sie ist die eigentlich natürliche, die exakte, mechanisch geordnete Natur die künstliche Fassung der Seele ihrer Welt gegenüber. Trotzdem oder gerade deshalb ist dem modernen Menschen die Naturwissenschaft leicht, die Geschichtsbetrachtung schwer.

Regungen eines mechanistischen Denkens über die Welt, das ganz und gar auf mathematische Begrenzung, logische Unterscheidung, auf Gesetz und Kausalität hinausgeht, tauchen sehr früh auf. Man[132] findet sie in den ersten Jahrhunderten aller Kulturen, noch schwach, vereinzelt, noch in der Fülle des religiösen Weltbewußtseins verschwindend. Ich nenne den Namen Roger Bacons. Sie nehmen bald einen strengeren Charakter an; es fehlt ihnen, wie allem geistig Erkämpften und von der menschlichen Natur ständig Bedrohten, das Herrische und Ausschließende nicht. Unvermerkt durchdringt das Reich des Räumlich-Begrifflichen – denn die Begriffe sind ihrem Wesen nach Zahlen, von rein quantitativer Beschaffenheit – die Außenwelt des Einzelnen, bewirkt in, mit und unter den schlichten Eindrücken des Sinnenlebens einen mechanischen Zusammenhang kausaler und zahlengesetzlicher Art und unterwirft zu guter Letzt das wache Bewußtsein des großstädtischen Kulturmenschen – sei es im ägyptischen Theben oder in Babylon, in Benares, Alexandria oder in westeuropäischen Weltstädten – einem so anhaltenden Zwange des naturgesetzlichen Denkens, daß das Vorurteil aller Philosophie und Wissenschaft – denn es ist ein Vorurteil – kaum Widerspruch findet, dieser Zustand sei der menschliche Geist und sein Gegenüber, das mechanische Bild der Umwelt, sei die Welt. Logiker wie Aristoteles und Kant haben diese Ansicht zur herrschenden gemacht, aber Plato und Goethe widerlegen sie.

3

»Es gibt Urphänomene, die wir in ihrer göttlichen Einfalt nicht stören und beeinträchtigen sollen« (Goethe).

4

Vgl. Bd. II, S. 884 f.

Quelle:
Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. München 1963, S. 130-133.
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Der Untergang des Abendlandes
Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte
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Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte
Der Untergang des Abendlandes, II.