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[171] Die Fähigkeit, gegenwärtige Geschichte zu erleben, und die Art, wie sie, wie vor allem auch das eigne Werden durchlebt wird, ist bei den einzelnen Menschen sehr verschieden.

Jede Kultur besitzt schon eine durchaus individuelle Art, die Welt als Natur zu sehen, zu erkennen oder, was dasselbe ist, sie hat ihre eigne und eigentümliche Natur, die keine andere Art Mensch in genau derselben Gestalt besitzen kann. Aber in noch viel höherem Maß hat jede Kultur und in ihr, mit Unterschieden geringeren Grades, jeder Einzelne eine durchaus eigne Art von Geschichte, in deren Bilde, in deren Stil er das allgemeine und das persönliche, das innere und äußere, das welthistorische und das biographische Werden unmittelbar anschaut, fühlt und erlebt. So ist der autobiographische Hang der abendländischen Menschheit, wie er im Symbol der Ohrenbeichte schon in gotischer Zeit ergreifend hervortritt,30 der antiken völlig fremd. Der äußersten Bewußtheit der Geschichte Westeuropas steht die beinahe traumhafte Unbewußtheit der indischen gegenüber. Und was war es, das magische Menschen von den Urchristen bis zu den Denkern des Islam vor sich sahen, wenn[171] sie das Wort Weltgeschichte aussprachen? Aber wenn es schon sehr schwierig ist, sich von der Natur, der kausal geordneten Umwelt andrer eine genaue Vorstellung zu machen, obwohl in ihr das spezifisch Erkennbare zum mitteilbaren System vereinheitlicht ist, so ist es völlig unmöglich, den historischen Weltaspekt fremder Kulturen, das aus ganz anders angelegten Seelen gestaltete Bild des Werdens mit den Kräften der eignen Seele vollkommen zu durchdringen. Hier wird immer ein unzugänglicher Rest bleiben, um so größer, je geringer der eigne historische Instinkt, der physiognomische Takt, die eigne Menschenkenntnis ist. Trotzdem ist die Lösung dieser Aufgabe eine Voraussetzung allen tieferen Weltverständnisses. Die historische Umwelt der andern ist ein Teil ihres Wesens, und man versteht niemand, wenn man sein Zeitgefühl, seine Idee vom Schicksal, den Stil und Bewußtseinsgrad seines Innenlebens nicht kennt. Was hier sich nicht unmittelbar in Bekenntnissen auffinden läßt, müssen wir also der Symbolik der äußern Kultur entnehmen. So erst wird das an sich Unbegreifliche zugänglich, und dies gibt dem historischen Stil einer Kultur und den dazu gehörigen großen Zeitsymbolen ihren unermeßlichen Wert.

Als eines dieser kaum je begriffenen Zeichen war schon die Uhr genannt worden, eine Schöpfung hochentwickelter Kulturen, die immer geheimnisvoller wird, je mehr man darüber nachdenkt. Die antike Menschheit verstand sie zu entbehren – nicht ohne Absichtlichkeit; sie hat weit über Augustus hinaus die Tageszeit nach der Schattenlänge des eignen Körpers abgeschätzt,31 obwohl Sonnen- und Wasseruhren in den beiden älteren Welten der ägyptischen und babylonischen Seele im Zusammenhang mit einer strengen Zeitrechnung und mit einem tiefen Blick auf Vergangenheit und Zukunft ständig in Gebrauch waren.32 Aber das antike Dasein, euklidisch, beziehungslos, punktförmig, war im gegenwärtigen Moment völlig[172] beschlossen. Nichts sollte an Vergangenes und Künftiges mahnen. Die Archäologie fehlt der echten Antike ebenso wie deren seelische Umkehrung, die Astrologie. Die antiken Orakel und Sibyllen wollen ebensowenig wie die etruskisch-römischen Haruspices und Auguren die ferne Zukunft erkunden, sondern für den einzelnen, unmittelbar bevorstehenden Fall eine Weisung geben. Und ebensowenig gab es eine in das Alltagsbewußtsein gedrungene Zeitrechnung, denn die Olympiadenrechnung war lediglich ein literarischer Notbehelf. Es kommt nicht darauf an, ob ein Kalender gut oder schlecht ist, sondern für wen er im Gebrauch ist, ob das Leben der Nation danach läuft. In antiken Städten erinnert nichts an die Dauer, an die Vorzeit, an das Bevorstehende, keine pietätvoll gepflegte Ruine, kein für noch ungeborne Geschlechter vorgedachtes Werk, kein trotz technischer Schwierigkeiten mit Bedeutung gewähltes Material. Der dorische Grieche hat die mykenische Steintechnik unbeachtet gelassen und baute wieder in Holz und Lehm, trotz des mykenischen und ägyptischen Vorbildes und trotz des Reichtums seiner Landschaft an den besten Gesteinen. Der dorische Stil ist ein Holzstil. Noch zur Zeit des Pausanias sah man am Heraion in Olympia die letzte nicht ausgewechselte Holzsäule. In einer antiken Seele ist das eigentliche Organ für Geschichte, das Gedächtnis in dem hier stets vorausgesetzten Sinne, welches das Bild der persönlichen und dahinter das der nationalen und weltgeschichtlichen Vergangenheit33 und den Gang des eignen und nicht nur eignen Innenlebens immer gegenwärtig erhält, nicht vorhanden. Es gibt keine »Zeit«. Für den Geschichtsbetrachter erhebt sich gleich hinter der eignen Gegenwart ein zeitlich und also innergeschichtlich nicht mehr geordneter Hintergrund, dem für Thukydides schon die Perserkriege, für Tacitus schon die gracchischen Unruhen angehören,34 und dasselbe gilt von[173] den großen Geschlechtern Roms, deren Tradition nichts als ein Roman war – man denke an den Cäsarmörder Brutus und dessen festen Glauben an seinen berühmten Ahnherrn. Daß Cäsar den Kalender reformierte, darf man beinahe als einen Akt der Emanzipation vom antiken Lebensgefühl bezeichnen: aber Cäsar dachte auch an den Verzicht auf Rom und an die Verwandlung des Stadtstaates in ein dynastisches, also dem Symbol der Dauer unterstelltes Reich mit dem Schwerpunkt in Alexandria, von wo sein Kalender stammt. Seine Ermordung wirkt wie eine letzte Auflehnung eben dieses, in der Polis, der Urbs Roma verkörperten, der Dauer feindlichen Lebensgefühls.

Man erlebte selbst damals noch jede Stunde, jeden Tag für sich. Das gilt vom einzelnen Hellenen und Römer, von der Stadt, der Nation, der ganzen Kultur. Die von Kraft und Blut strömenden Prachtaufzüge, Palastorgien und Zirkuskämpfe unter Nero und Caligula, die Tacitus, ein echter Römer, allein beschreibt, während er für das leise Vorwärtsschreiten im Leben der weiten Landschaft der Provinzen kein Auge und keine Worte hat, sind der letzte prachtvolle Ausdruck dieses euklidischen, den Leib, die Gegenwart vergötternden Weltgefühls. Die Inder, deren Nirwana auch durch den Mangel an irgendwelcher Zeitrechnung ausgedrückt ist, besaßen ebenfalls keine Uhren und also keine Geschichte, keine Lebenserinnerungen, keine Sorge. Was wir, eminent historisch angelegte Menschen, indische Geschichte nennen, ist ohne das geringste Bewußtsein seiner selbst verwirklicht worden. Das Jahrtausend der indischen Kultur von den Veden bis auf den Buddha herab wirkt auf uns wie die Regungen eines Schlafenden. Hier war das Leben wirklich ein Traum. Nichts steht diesem Indertum ferner als das Jahrtausend der abendländischen Kultur. Niemals, selbst im »gleichzeitigen« China der Dschouzeit nicht mit seinem hochentwickelten Sinn für Zeitalter und Epochen,35 war man wacher, bewußter; niemals ist die Zeit tiefer gefühlt und mit dem vollen Bewußtsein ihrer Richtung und schicksalsschweren Bewegtheit erlebt worden. Die Geschichte Westeuropas ist gewolltes, die indische ist widerfahrenes Schicksal. Im antiken[174] Dasein spielen Jahre keine Rolle, im indischen kaum Jahrzehnte; für uns ist die Stunde, die Minute, zuletzt die Sekunde von Bedeutung. Von der tragischen Spannung historischer Krisen, wo der Augenblick schon erdrückend wirkt wie in den Augusttagen 1914, hätte weder ein Grieche noch ein Inder eine Vorstellung haben können. Aber solche Krisen können tiefe Menschen des Abendlandes auch in sich erleben, der echte Hellene nie. Über unsrer Landschaft hallen Tag und Nacht von Tausenden von Türmen die Glockenschläge, die ständig Zukunft an Vergangnes knüpfen und den flüchtigen Moment der »antiken Gegenwart« in einer ungeheuren Beziehung auflösen. Die Epoche, welche die Geburt dieser Kultur bezeichnet, die Zeit der Sachsenkaiser, sah auch schon die Erfindung der Räderuhren.36 Ohne peinlichste Zeitmessung – eine Chronologie des Geschehenden, die durchaus unserm ungeheuren Bedürfnis nach Archäologie, das heißt Erhaltung, Ausgrabung, Sammlung alles Geschehenen entspricht – ist der abendländische Mensch nicht denkbar. Die Barockzeit steigerte das gotische Symbol der Turmuhr noch weiter zu dem grotesken der Taschenuhr, die den einzelnen ständig begleitet.37

Und neben dem Symbol der Uhren steht das andre, ebenso tiefe, ebenso unverstandne bedeutsamer Bestattungsformen, wie sie alle großen Kulturen durch Kult und Kunst geheiligt haben. Der große Stil Indiens beginnt mit Grabtempeln, der antike mit Grabvasen, der ägyptische mit Pyramiden, der altchristliche mit Katakomben und Sarkophagen. In der Urzeit gehen die zahllosen möglichen Formen noch chaotisch durcheinander, abhängig von Stammessitte und äußerer Notdurft oder Zweckmäßigkeit. Jede Kultur aber erhebt alsbald eine von ihnen zum höchsten symbolischen Range. Hier wählte der antike Mensch aus tiefstem, unbewußtem Lebensgefühl[175] heraus die Totenverbrennung, einen Akt der Vernichtung, durch den er sein an das Jetzt und Hier gebundenes euklidisches Dasein zu gewaltigem Ausdruck brachte. Er wollte keine Geschichte, keine Dauer, weder Vergangenheit noch Zukunft, weder Sorge noch Auflösung, und er zerstörte deshalb, was keine Gegenwart mehr besaß, den Leib eines Perikles und Cäsar, Sophokles und Phidias. Die Seele aber trat in die formlose Schar ein, welcher die schon früh vernachlässigten Ahnenkulte und Seelenfeste der lebenden Glieder eines Geschlechts galten und welche den stärksten Gegensatz zur Ahnenreihe, zum Stammbaum bildet, der mit allen Zeichen geschichtlicher Ordnung in den Familiengrüften abendländischer Geschlechter verewigt ist. Keine zweite Kultur steht der antiken darin zur Seite38 – mit einer bezeichnenden Ausnahme, der vedischen Frühzeit Indiens. Und man bemerke wohl: die dorisch-homerische Frühzeit umgab diesen Akt mit dem ganzen Pathos eines eben geschaffenen Symbols, die Ilias vor allem, während in den Gräbern von Mykene, Tiryns, Orchomenos die Toten, deren Kämpfe vielleicht gerade den Keim zu jenem Epos gelegt hatten, nach beinahe ägyptischer Art bestattet worden waren. Als in der Kaiserzeit neben die Aschenurne der Sarkophag, der »Fleischverschlinger«39 trat – bei Christen, Juden und Heiden –, war ein neues Zeitgefühl erwacht, genau wie damals, als auf die mykenischen Schachtgräber die homerische Urne folgte.

Und die Ägypter, welche ihre Vergangenheit so gewissenhaft im Gedächtnis, in Stein und Hieroglyphen aufbewahrten, daß wir heute noch, nach vier Jahrtausenden, die Regierungszahlen ihrer Könige bestimmen können, verewigten auch deren Leib, so daß die großen Pharaonen – ein Symbol von schauerlicher Erhabenheit – mit jetzt noch erkennbaren Gesichtszügen in unsern Museen liegen, während[176] von den Königen der dorischen Zeit nicht einmal die Namen übrig geblieben sind. Wir kennen Geburts- und Todestag fast aller großen Menschen seit Dante genau. Das scheint uns selbstverständlich. Aber zur Zeit des Aristoteles, auf der Höhe antiker Bildung, wußte man nicht mehr sicher, ob Leukippos, der Begründer des Atomismus und Zeitgenosse des Perikles – kaum ein Jahrhundert vorher – überhaupt gelebt habe. Dem würde es entsprechen, wenn wir der Existenz Giordano Brunos nicht gewiß wären und die Renaissance bereits völlig im Reich der Sage läge.

Und diese Museen selbst, in denen wir die ganze Summe der sinnlich-körperlich gewordenen und gebliebenen Vergangenheit zusammentragen! Sind sie nicht auch ein Symbol vom höchsten Range? Sollen sie nicht den »Leib« der gesamten Kulturentwicklung mumienhaft konservieren? Sammeln wir nicht, wie die unzähligen Daten in Milliarden gedruckter Bücher, so alle Werke aller toten Kulturen in diesen hunderttausend Sälen westeuropäischer Städte, wo in der Masse des Vereinigten jedes einzelne Stück dem flüchtigen Augenblick seines wirklichen Zweckes – der einer antiken Seele allein heilig gewesen wäre – entwendet und in einer unendlichen Bewegtheit der Zeit gleichsam aufgelöst wird? Man bedenke, was die Hellenen »Museion« nannten und welch tiefer Sinn in diesem Wandel des Wortgebrauchs liegt.

30

Vgl. Bd. II, S. 918 f.

31

Diels, Antike Technik (1920), S. 159.

32

Gelehrte Kreise in Attika und Ionien haben etwa seit 400 kunstlose Sonnenuhren konstruiert; seit Plato kommt daneben eine noch primitivere Klepsydra in Aufnahme, aber beide Formen in Nachahmung weit überlegener Muster des alten Ostens und ohne das antike Lebensgefühl irgendwie zu berühren; vgl. Diels, S. 160 ff.

33

Für uns durch die christliche Zeitrechnung und das Schema Altertum – Mittelalter – Neuzeit geordnet; auf dieser Grundlage haben sich seit den Frühtagen der Gotik auch Bilder der Religions- und Kunstgeschichte entwickelt, in denen eine große Zahl abendländischer Menschen beständig lebt. Das gleiche für Plato oder Phidias vorauszusetzen – während es schon für Renaissancekünstler im höchsten Grade gilt und ihre Werturteile vollständig beherrscht hat – ist ganz unmöglich.

34

Vgl. Bd. I, S. 12 ff.

35

Vgl. Bd. II, S. 1041 f., 1081 f.

36

Darf die Vermutung gewagt werden, daß »gleichzeitig«, also an der Schwelle des 3. vorchristlichen Jahrtausends, die babylonischen Sonnen- und die ägyptischen Wasseruhren entstanden sind? Die Geschichte der Uhren ist von der des Kalenders innerlich nicht zu trennen, und deshalb muß auch für die chinesische und mexikanische Kultur mit ihrem tiefen Sinn für Geschichte die sehr frühe Erfindung und Einbürgerung zeitmessender Verfahren angenommen werden.

37

Man muß sich in die Gefühle eines Griechen versetzen, der diese Sitte plötzlich kennenlernt.

38

Auch der chinesische Ahnendienst hat die genealogische Ordnung mit einem strengen Zeremoniell umgeben. Aber während er allmählich zum Mittelpunkt der gesamten Frömmigkeit wird, tritt der antike vor den Kulten der gegenwärtigen Götter ganz in den Hintergrund und ist in Rom kaum noch vorhanden gewesen.

39

Mit deutlichem Hinweis auf die »Auferstehung des Fleisches« (ἐκ νεκρῶν). Die tiefe, heute noch kaum begriffene Wandlung in der Bedeutung dieses Wortes um das Jahr 1000 kommt mehr und mehr in dem Worte »Unsterblichkeit« zum Ausdruck. Mit der todüberwindenden Auferstehung beginnt die Zeit im Weltraum gleichsam von neuem. Mit der Unsterblichkeit überwindet sie den Raum.

Quelle:
Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. München 1963, S. 171-177.
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