18

[197] Wer diese Gedanken in sich aufgenommen hat, wird es verstehen, wie verhängnisvoll das in seiner starren Form erst ganz späten Kulturzuständen eigne und dann um so tyrannischer auf das Weltbild wirkende Kausalitätsprinzip für das Erleben echter Geschichte werden mußte. Kant hatte sehr vorsichtig die Kausalität als notwendige Form der Erkenntnis festgestellt, und es kann nicht oft genug betont werden, daß damit ausschließlich die verstandesmäßige Betrachtung der menschlichen Umwelt gemeint war. Das Wort Notwendigkeit hörte man gern, aber man überhörte die Einschränkung des Prinzips auf ein einzelnes Erkenntnisgebiet, die gerade das Schauen und Erfühlen lebendiger Geschichte ausschloß. Menschenkenntnis und Naturerkenntnis sind dem Wesen nach ganz unvergleichbar. Aber[197] das ganze 19. Jahrhundert war bemüht, die Grenze von Natur und Geschichte zugunsten der ersten zu verwischen. Je historischer man denken wollte, desto mehr vergaß man, wie hier nicht gedacht werden durfte. Indem man das starre Schema einer räumlichen und zeitfeindlichen Beziehung, Ursache und Wirkung, gewaltsam auf Lebendiges anwandte, trug man in das sinnliche Oberflächenbild des Geschehens die konstruktiven Linien des physikalischen Naturbildes ein, und niemand fühlte – inmitten später, städtischer, an kausalen Denkzwang gewöhnter Geister – die tiefe Absurdität einer Wissenschaft, welche ein organisches Werden durch methodisches Mißverstehen als den Mechanismus eines Gewordnen begreifen wollte. Aber der Tag ist nicht Ursache der Nacht, die Jugend nicht die des Alters, die Blüte nicht die der Frucht. Alles was wir geistig erfassen, hat eine Ursache; alles was wir als organisch mit innerer Gewißheit erleben, hat eine Vergangenheit. Jene kennzeichnet den »Fall«, der überall möglich ist und dessen innere Form feststeht, gleichviel wann, wie oft und ob er überhaupt eintritt; diese kennzeichnet das Ereignis, das einmal war und nie wiederkehrt. Und je nachdem wir etwas in unserer Umwelt kritisch bewußt oder physiognomisch und unwillkürlich erfassen, ziehen wir den Schluß aus technischer oder aus Lebenserfahrung, auf eine zeitlose Ursache im Räume also oder auf eine Richtung, die vom Gestern zum Heute und Morgen führt.

Aber der Geist unsrer großen Städte will so nicht schließen. Umgeben von einer Maschinentechnik, die er selbst geschaffen hat, indem er der Natur ihr gefährlichstes Geheimnis, das Gesetz, ablauschte, will er auch die Geschichte technisch erobern, theoretisch und praktisch. Zweckmäßigkeit war das große Wort, mit dem er sie sich ähnlich machte. In der materialistischen Geschichtsauffassung herrschen Gesetze kausaler Natur, und daraus folgte, daß man Nützlichkeitsideale wie Aufklärung, Humanität und Weltfrieden als Zwecke der Weltgeschichte ansetzen durfte, um sie durch den »Fortschrittsprozeß« zu erreichen. Das Gefühl vom Schicksal aber war erstorben in diesen greisenhaften Entwürfen, zugleich mit dem Jugend- und Wagemut, der zukunftsschwanger und selbstvergessen einer dunklen Entscheidung entgegendrängt.[198]

Denn nur die Jugend hat Zukunft und ist Zukunft. Dieser rätselvolle Wortklang aber ist gleichbedeutend mit Richtung der Zeit und Schicksal. Das Schicksal ist immer jung. Wer an seine Stelle eine Kette von Ursachen und Wirkungen setzt, der sieht auch in dem noch nicht Verwirklichten etwas gleichsam Altes und Vergangenes. Die Richtung fehlt. Wer aber in strömendem Überschwang einem Etwas entgegenlebt, der braucht nicht von Zweck und Nutzen zu wissen. Er fühlt sich selbst als Sinn dessen, was geschehen wird. Das war der Glaube an den Stern, der Cäsar und Napoleon nicht verließ und ebensowenig die großen Täter anderer Art, und das liegt zutiefst trotz aller Schwermut junger Jahre in jeder Kindheit, in allen jungen Geschlechtern, Völkern und Kulturen und über die gesamte Geschichte hin in allen Handelnden und Schauenden, die jung sind trotz ihrer weißen Haare und jünger als aller noch so frühe Hang zur – zeitlosen – Zweckmäßigkeit. Die gefühlte Bedeutung der jeweils augenblicklichen Umwelt erschließt sich denn auch in den ersten Tagen der Kindheit, für die nur Personen und Dinge der nächsten Umgebung wesenhaft sind, und erweitert sich in schweigender und unbewußter Erfahrung bis zu dem umfassenden Bilde, das der allgemeine Ausdruck der ganzen Kultur auf dieser Stufe ist und dessen Dolmetscher nur die großen Lebenskenner und Geschichtsforscher sind.

Hier unterscheidet sich der unmittelbare Eindruck des Gegenwärtigen vom Bilde des Vergangenen, das nur im Geiste vergegenwärtigt wird, also die Welt als Geschehen von der Welt als Geschichte. Auf jene richtet sich der Kennerblick des tätigen Menschen, des Staatsmannes und Feldherrn, auf diese der schauende des Historikers und Dichters. In jene greift man praktisch ein, leidend oder handelnd; diese ist der Chronologie als dem großen Symbol des unwiderruflich Vergangenen verfallen.53 Wir blicken rückwärts und leben vorwärts,[199] dem Unvorhergesehenen entgegen, aber in das Bild des einmaligen Geschehens dringen nun, von der technischen Erfahrung schon der Kinderzeit her, die Züge des Vorherzusehenden ein, das Bild einer gesetzmäßigen Natur, die nicht dem physiognomischen Takt, sondern der Berechnung unterliegt. Wir erfassen ein Stück Wild als beseeltes Wesen und gleich darauf als Nahrungsmittel; wir sehen in einem Blitz eine Gefahr oder eine elektrische Entladung. Und dieses zweite, spätere, versteinernde Bild der Welt überwältigt in den großen Städten mehr und mehr das erste: das Bild der Vergangenheit wird mechanisiert, materialisiert, und aus ihm für Gegenwart und Zukunft eine Summe kausaler Regeln gezogen. Man glaubt an geschichtliche Gesetze und eine verstandesmäßige Erfahrung von ihnen.

Aber Wissenschaft ist immer Naturwissenschaft. Kausales Wissen, technische Erfahrung gibt es nur von Gewordenem, Ausgedehntem, Erkanntem. Wie Leben zur Geschichte, so gehört Wissen zur Natur – zu der als Element begriffenen, im Räume betrachteten, nach dem Gesetz von Ursache und Wirkung gestalteten Sinnenwelt. Gibt es also überhaupt eine Wissenschaft der Geschichte? Erinnern wir uns, wie in jedem persönlichen Weltbilde, das dem idealen Bild nur mehr oder weniger nahekommt, etwas von beidem erscheint, keine »Natur« ohne lebendige, keine »Geschichte« ohne kausale Einklänge ist. Denn innerhalb der Natur haben zwar gleichartige Versuche das gleiche gesetzmäßige Ergebnis, aber jeder einzelne ist ein geschichtliches Ereignis, das ein Datum besitzt und nie wiederkehrt. Und innerhalb der Geschichte bilden die Daten des Vergangenen – chronologische, statistische, Namen, Gestalten54 – ein starres Gewebe. Tatsachen »stehen fest«, auch wenn wir sie nicht kennen. Alles andre ist Bild, theoria, dort wie hier, aber Geschichte ist das »Im-Bilde-sein« selbst, dem das Tatsachenmaterial nur dient; in der Natur dient die Theorie der Gewinnung dieses Materials als dem eigentlichen Zweck.[200]

Es gibt also keine Wissenschaft der Geschichte, aber eine Vorwissenschaft für sie, welche das Dagewesene ermittelt. Für den geschichtlichen Blick selbst sind die Daten stets Symbole. Die Naturforschung aber ist nur Wissenschaft. Sie will, weil technischen Ursprungs und Ziels, nur Daten finden, Gesetze kausaler Art, und sobald sie den Blick auf etwas anderes richtet, ist sie schon Metaphysik, geworden, etwas jenseits der Natur. Aber deshalb sind geschichtliche und naturwissenschaftliche Daten zweierlei. Diese kehren immer wieder, jene nie. Diese sind Wahrheiten, jene Tatsachen. Mögen also »Zufälle« und »Ursachen« im Alltagsbilde noch so verwandt erscheinen, in der Tiefe gehören sie verschiedenen Welten an. Sicherlich ist das Geschichtsbild eines Menschen – und damit der Mensch selbst – um so flacher, je entschiedener der handgreifliche Zufall in ihm regiert, und sicherlich ist mithin eine Geschichtsschreibung um so leerer, je mehr sie ihr Objekt durch Feststellung rein tatsächlicher Beziehungen erschöpft. Je tiefer jemand Geschichte erlebt, desto seltener wird er »kausale« Eindrücke haben und desto gewisser wird er sie als gänzlich bedeutungslos empfinden. Man prüfe Goethes naturwissenschaftliche Schriften, und man wird erstaunt sein, die Darstellung einer lebendigen Natur ohne Formeln, ohne Gesetze, fast ohne eine Spur von Kausalem zu finden. Zeit ist für ihn keine Distanz, sondern ein Gefühl. Der bloße Gelehrte, der lediglich kritisch zerlegt und ordnet, nicht schaut und fühlt, besitzt kaum die Gabe, hier das Letzte und Tiefste zu erleben. Die Geschichte fordert sie aber; und so besteht das Paradoxon zu Recht, daß ein Geschichtsforscher um so bedeutender ist, je weniger er der eigentlichen Wissenschaft angehört.

Das Schema auf der folgenden Seite möge das Gesagte zusammenfassen:


18.
53

[201] Die sich eben deshalb, weil der Zeit entrückt, mathematischer Zeichen bedienen kann. Diese starren Zahlen bedeuten für unser Auge das Schicksal von ehemals. Aber ihr Sinn ist ein anderer als der mathematische – Vergangenheit ist keine Ursache, ein Verhängnis keine Formel –, und wer sie mathematisch behandelt wie der historische Materialist, der hat aufgehört, Vergangenes, das einmal und nur einmal gelebt hat, als solches wirklich zu sehen.

54

Nicht nur Friedensschlüsse und Todestage, sondern auch der Renaissancestil, die Polis, die mexikanische Kultur sind Daten, Tatsachen, die dagewesen sind, auch wenn wir keine Vorstellung von ihnen besitzen.

Quelle:
Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. München 1963, S. 197-202.
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