2

[213] Symbole, als etwas Verwirklichtes, gehören zum Bereich des Ausgedehnten. Sie sind geworden, nichtwerdend – auch wenn sie ein Werden bezeichnen – mithin starr begrenzt und den Gesetzen des Raumes unterworfen. Es gibt nur sinnlich-räumliche Symbole. Schon das Wort Form bezeichnet etwas Ausgedehntes im Ausgedehnten, und davon machen auch, wie wir sehen werden, die inneren Formen der Musik keine Ausnahme. Ausdehnung aber ist das Merkmal der Tatsache »Wachsein«, die nur eine Seite des Einzeldaseins bildet und mit dessen Schicksalen innerlichst verbunden ist. Deshalb ist jeder Zug des tätigen – empfindenden oder verstehenden – Wachseins in dem Augenblick, wo wir ihn bemerken, bereits vergangen. Wir können über Eindrücke nur nachdenken, wie es mit bezeichnender Wendung heißt, aber was für das Sinnenleben der Tiere nur vergangen ist, ist für das wortgebundene Verstehen des Menschen vergänglich. Vergänglich ist nicht nur, was geschieht – denn kein Geschehnis läßt sich zurückrufen –, sondern auch jede Art von Bedeutung. Man verfolge das Schicksal der Säule, vom ägyptischen Grabtempel an, wo sie in Reihen den Wanderer geleitet, über den dorischen Peripteros, dessen Körper sie zusammenhält, und die früharabische Basilika, deren Innenraum sie stützt, bis zu den Fassaden der Renaissance, an welchen sie den aufstrebenden Zug zum Ausdruck bringt. Die Bedeutung von ehemals kehrt nie wieder. Was in das Reich des Ausgedehnten trat, hat mit dem Anfang auch ein Ende. Es besteht ein tiefer und früh gefühlter Zusammenhang zwischen Raum und Tod. Der Mensch ist das einzige Wesen, welches den Tod kennt. Alle andern werden älter, aber mit einer durchaus auf den Augenblick eingeschränkten Bewußtheit, die ihnen ewig erscheinen muß. Sie leben, aber sie wissen nichts vom Leben wie die Kinder in den frühesten Jahren, wo das Christentum sie noch als »unschuldig« betrachtet. Und sie sterben und sehen das Sterben, aber sie wissen nicht darum. Erst der ganz erwachte, der eigentliche Mensch, dessen Verstehen durch die Gewohnheit des Sprechens vom Sehen abgehoben ist, besitzt außer der Empfindung[214] auch einen Begriff des Vergehens, das heißt ein Gedächtnis für das Vergangene und eine Erfahrung von Unwiderruflichem. Wir sind die Zeit,1 aber wir besitzen auch ein Bild der Geschichte, und in diesem erscheint im Hinblick auf den Tod die Geburt als das andre Rätsel. Für alle übrigen Wesen verläuft das Leben ohne Ahnung seiner Grenzen, das heißt ohne ein Wissen um Aufgabe, Sinn, Dauer und Ziel. Mit tiefer und bedeutungsvoller Identität knüpft sich deshalb das Erwachen des Innenlebens in einem Kinde oft an den Tod eines Verwandten. Es begreift plötzlich den leblosen Leichnam, der ganz Stoff, ganz Raum geworden ist, und zugleich fühlt es sich als einzelnes Wesen in einer fremden, ausgedehnten Welt. »Vom fünfjährigen Knaben bis zu mir ist nur ein Schritt. Vom Neugeborenen bis zum fünfjährigen Kinde ist eine schreckliche Entfernung«, hat Tolstoi einmal gesagt. Hier, in diesem entscheidenden Punkt des Daseins, wo der Mensch erst zum Menschen wird und seine ungeheure Einsamkeit im All kennen lernt, enthüllt sich die Weltangst als die rein menschliche Angst vor dem Tode, der Grenze in der Welt des Lichts, dem starren Raum. Hier liegt der Ursprung des höheren Denkens, das zuerst ein Nachdenken über den Tod ist. Jede Religion, jede Naturforschung, jede Philosophie geht von hier aus. Jede große Symbolik heftet ihre Formensprache an den Totenkult, die Bestattungsform, den Schmuck des Grabes. Der ägyptische Stil beginnt mit den Totentempeln der Pharaonen, der antike mit dem geometrischen Schmuck der Graburnen, der arabische mit Katakomben und Sarkophagen, der abendländische mit dem Dom, in welchem sich der Opfertod Jesu unter den Händen des Priesters täglich wiederholt. Aus der frühen Angst entspringt auch alles historische Empfinden, in der Antike durch Klammern an die lebenerfüllte Gegenwart, in der arabischen Welt aus der Taufe, die das Leben neu gewinnt und den Tod überwindet, in der faustischen aus der Buße, die den Leib Jesu zu empfangen würdigt und damit die Unsterblichkeit. Erst aus der stets wachen Sorge um das Leben, das noch nicht vergangen ist, entsteht die Sorge um das Vergangne. Ein Tier hat nur Zukunft, der Mensch kennt auch die Vergangenheit.[215] Mit einer neuen »Weltanschauung«, das heißt einem plötzlichen Blick auf den Tod als dem Geheimnis der erschauten Welt, erwacht deshalb jede neue Kultur. Als um das Jahr 1000 der Gedanke an das Weltende sich im Abendland verbreitete, wurde die faustische Seele dieser Landschaft geboren.

Der Urmensch, in tiefem Staunen über den Tod, suchte diese Welt des Ausgedehnten mit den unerbittlichen und stets gegenwärtigen Schranken ihrer Kausalität, voll von dunkler Allmacht, die ihn ständig mit dem Ende bedrohte, mit allen Kräften seines Geistes zu durchdringen und zu beschwören. Diese triebhafte Abwehr liegt tief im unbewußten Dasein, aber indem sie Seele und Welt erst eigentlich schuf, zerdehnte, gegeneinander stellte, bezeichnete sie die Schwelle persönlicher Lebensführung. Ichgefühl und Weltgefühl beginnen zu wirken, und alle Kultur, innere wie äußere, Haltung wie Leistung, ist nur die Steigerung dieses Menschseins überhaupt. Von hier an ist alles, was unsern Empfindungen widersteht, nicht mehr nur »Widerstand«, Sache, Eindruck wie bei Tieren und auch noch beim Kinde, sondern auch Ausdruck. Die Dinge sind nicht nur wirklich innerhalb der Umwelt, sondern sie haben, so wie sie »erscheinen«, innerhalb der Welt»anschauung« auch einen Sinn. Zuerst besaßen sie allein ein Verhältnis zum Menschen, jetzt besitzt der Mensch auch sein Verhältnis zu ihnen. Sie sind Sinnbilder seines Daseins geworden. So geht das Wesen aller echten – unbewußten und innerlich notwendigen – Symbolik aus dem Wissen des Todes hervor, in dem sich das Geheimnis des Raumes enthüllt. Alle Symbolik bedeutet eine Abwehr. Sie ist Ausdruck einer tiefen Scheu im alten Doppelsinn des Wortes: ihre Formensprache redet zugleich von Feindschaft und Ehrfurcht.

Alles Gewordne ist vergänglich. Vergänglich sind nicht nur Völker, Sprachen, Rassen, Kulturen. Es wird in wenigen Jahrhunderten keine westeuropäische Kultur, keinen Deutschen, Engländer, Franzosen mehr geben, wie es zur Zeit Justinians keinen Römer mehr gab. Nicht die Folge menschlicher Generationen war erloschen; die innere Form eines Volkes, die eine Anzahl von ihnen zu einheitlicher Gebärde zusammengefaßt hatte, war nicht mehr da.[216] Der civis Romanus, eines der mächtigsten Symbole antiken Seins, war gleichwohl als Form nur von der Dauer einiger Jahrhunderte. Aber das Urphänomen der großen Kultur überhaupt wird einmal wieder verschwunden sein, und mit ihm das Schauspiel der Weltgeschichte, und endlich der Mensch selbst und darüber hinaus die Erscheinung des pflanzlichen und tierischen Lebens an der Erdoberfläche, die Erde, die Sonne und die ganze Welt der Sonnensysteme. Alle Kunst ist sterblich, nicht nur die einzelnen Werke, sondern die Künste selbst. Es wird eines Tages das letzte Bildnis Rembrandts und der letzte Takt Mozartscher Musik aufgehört haben zu sein, obwohl eine bemalte Leinwand und ein Notenblatt vielleicht übrig sind, weil das letzte Auge und Ohr verschwand, das ihrer Formensprache zugänglich war. Vergänglich ist jeder Gedanke, jeder Glaube, jede Wissenschaft, sobald die Geister erloschen sind, in deren Welten ihre »ewigen Wahrheiten« mit Notwendigkeit als wahr empfunden wurden. Vergänglich sind sogar die Sternenwelten, welche den Astronomen am Nil und Euphrat »erscheinen«, als Welten für ein Auge, denn unser – ebenso vergängliches – Auge ist ein anderes. Wir wissen das. Ein Tier weiß es nicht, und was es nicht weiß, ist im Erlebnis seiner Umwelt nicht vorhanden. Mit dem Bilde der Vergangenheit aber schwindet auch die Sehnsucht, dem Vergänglichen einen tieferen Sinn zu geben. Und so läßt sich der Gedanke des rein menschlichen Makrokosmos wieder an das Wort knüpfen, dem die ganze fernere Darstellung gewidmet sein soll: Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis.

So führt diese Einsicht unvermerkt auf das Raumproblem, allerdings in einem neuen und überraschenden Sinne. Seine Lösung – oder bescheidener, seine Deutung – erscheint erst in diesem Zusammenhange möglich, so wie das Zeitproblem erst aus der Schicksalsidee faßlicher wurde. Das schicksalhaft gerichtete Leben erscheint, sobald wir erwachen, im Sinnenleben als empfundene Tiefe. Alles dehnt sich, aber es ist noch nicht »der Raum«, nichts in sich Verfestigtes, sondern ein beständiges Sich-dehnen vom bewegten Hier zum bewegten Dort. Das Welterlebnis knüpft sich ausschließlich an das Wesen der Tiefe – der Ferne oder Entfernung – deren Zug im abstrakten[217] System der Mathematik neben Länge und Breite als »dritte Dimension« bezeichnet wird. Diese Dreizahl gleichgeordneter Elemente ist von vornherein irreführend. Ohne Zweifel sind sie im räumlichen Welteindruck nicht gleichwertig, geschweige denn gleichartig. »Länge und Breite«, sicherlich als Erlebnis eine Einheit, keine Summe, sind, mit Vorsicht gesagt, bloße Form der Empfindung. Sie repräsentieren den rein sinnlichen Eindruck. Die Tiefe repräsentiert den Ausdruck, die Natur; mit ihr beginnt die »Welt«. Diese der Mathematik selbstverständlich ganz fremde Unterscheidung in der Bewertung der dritten Dimension gegenüber den sogenannten beiden andern liegt auch in der Gegenüberstellung der Begriffe Empfindung und Anschauung. Die Dehnung in die Tiefe verwandelt die erste in die letzte. Erst die Tiefe ist die eigentliche Dimension im wörtlichen Sinne, das Ausdehnende.2 In ihr ist das Wachsein aktiv, in den andern streng passiv. Es ist der symbolische Gehalt einer Ordnung, und zwar im Sinne einer einzelnen Kultur, der sich zutiefst in diesem ursprünglichen und nicht weiter analysierbaren Element ausspricht. Das Erlebnis der Tiefe ist – von dieser Einsicht hängt alles Weitere ab – ein ebenso vollkommen unwillkürlicher und notwendiger als vollkommen schöpferischer Akt, durch den das Ich seine Welt, ich möchte sagen zudiktiert erhält. Er schafft aus dem Strom von Empfindungen eine formvolle Einheit, ein bewegtes Bild, das nunmehr, sobald das Verstehen sich seiner bemächtigt, von Gesetzen beherrscht, dem Kausalprinzip unterworfen und mithin, als Abbild eines persönlichen Geistes, vergänglich ist.

Es besteht kein Zweifel, obwohl der Verstand sich dagegen auflehnt,[218] daß diese Dehnung unendlicher Verschiedenheit fähig ist, nicht nur anders beim Kinde und Manne, beim Naturmenschen und Städter, Chinesen und Römer, sondern in jedem einzelnen, je nachdem er nachdenklich oder aufmerksam, tätig oder ruhend seine Welt erlebt. Jeder Künstler hat noch »die« Natur durch Farbe und Linie wiedergegeben. Jeder Physiker, der griechische, arabische, deutsche hat »die« Natur in letzte Elemente zergliedert – warum fanden sie nicht alle dasselbe? Weil jeder seine eigene Natur hat, obwohl jeder sie mit einer Naivität, die seine Lebensanschauung rettet, die ihn rettet, mit allen andern gemein zu haben glaubt. »Natur« ist ein Besitz, der durch und durch mit persönlichstem Gehalt gesättigt ist. Natur ist eine Funktion der jeweiligen Kultur.

1

Vgl. Bd. I, S. 158 f.

2

Man sollte das Wort Dimension nur in der Einzahl gebrauchen. Es gibt Ausdehnung, aber nicht Ausdehnungen. Die Dreizahl der Richtungen ist schon eine Abstraktion und im unmittelbaren Dehnungsgefühl des Leibes (der »Seele«) nicht enthalten. Aus dem Wesen der Richtung stammt der geheimnisvolle tierhafte Unterschied von rechts und links, und dazu kommt der pflanzenhafte Zug von unten nach oben – Erde und Himmel. Dieses ist eine traumhaft gefühlte Tatsache, jenes eine zu erlernende Wahrheit des Wachseins, die deshalb der Verwechslung unterliegen kann. Beides findet seinen Ausdruck in der Baukunst, nämlich in der Symmetrie des Grundrisses und der Energie des Aufrisses, und nur deshalb empfinden wir in der »Architektur« des uns umgebenden Raumes den Winkel von 90° als ausgezeichnet und nicht etwa den von 60°, der eine ganz andere Zahl von »Dimensionen« ergeben würde.

Quelle:
Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. München 1963, S. 213-219.
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