7

[241] Was die Seele des Abendlandes durch einen außergewöhnlichen Reichtum an Ausdrucksmitteln, in Worten, Tönen, Farben, malerischen Perspektiven, philosophischen Systemen, Legenden und nicht zum wenigsten in den Räumen gotischer Dome und den Formeln der Funktionentheorie aussprach, ihr Weltgefühl nämlich, das hat die ägyptische Seele, fernab von allem theoretischen und literarischen Ehrgeiz fast allein durch die unmittelbare Sprache des Steins ausgedrückt. Statt sich über ihre Form des Ausgedehnten, ihren »Raum« und ihre »Zeit«, in Wortspielen zu ergehen, statt Hypothesen, Zahlensysteme und Dogmen zu bilden, stellte sie schweigend ihre ungeheuren Symbole in die Landschaft am Nil. Der Stein ist das große Sinnbild des Zeitlos-gewordnen. Raum und Tod scheinen in ihm verbunden. »Für die Toten«, sagt Bachofen in einer Selbstbiographie, »hat man eher gebaut als für die Lebenden, und wenn für die Spanne Zeit, die diesen gegeben ist, vergängliches Holzwerk[241] genügt, so verlangt die Ewigkeit jener Behausung den festen Stein der Erde. An den Stein, der die Grabstätte bezeichnet, knüpft sich der älteste Kult, an das Grabgebäude der älteste Tempelbau, an den Grabschmuck der Ursprung der Kunst und der Ornamentik. In den Gräbern hat sich das Symbol gebildet. Was am Grabe gedacht, empfunden, still gebetet wird, das kann kein Wort aussprechen, sondern nur das in ewig gleichem Ernste ruhende Symbol ahnungsreich andeuten.« Der Tote strebt nicht mehr. Er ist nicht mehr Zeit, sondern nur noch Raum, etwas das verweilt oder auch verschwunden ist, keinesfalls aber einer Zukunft entgegenreift; und deshalb das Verweilende im strengsten Sinne, der Stein als Ausdruck davon, wie sich Totes im Wachsein der Lebenden spiegelt. Die faustische Seele erwartete eine Unsterblichkeit nach dem leiblichen Ende, gleichsam eine Vermählung mit dem unendlichen Raum, und sie entkörperte den Stein im gotischen Strebesystem – gleichzeitig mit den Parallelfolgen des Kirchengesangs – bis er nur noch den inbrünstigen Tiefen- und Höhendrang dieses Sichausdehnens vor Augen stellte. Die apollinische Seele wollte den Toten verbrannt, vernichtet sehen und sie vermied eben deshalb die ganze Frühzeit hindurch das Bauen in Stein. Die ägyptische Seele sah sich wandernd auf einem engen und unerbittlich vorgeschriebenen Lebenspfad, über den sie einst den Totenrichtern Rechenschaft abzulegen hatte (125. Kap. des Totenbuchs). Das war ihre Schicksalsidee. Das ägyptische Dasein ist das eines Wanderers in einer und immer der gleichen Richtung; die gesamte Formensprache seiner Kultur dient der Versinnlichung dieses einen Motivs. Sein Ursymbol läßt sich, neben dem unendlichen Raum des Nordens und dem Körper der Antike, durch das Wort Weg am ehesten faßlich machen. Es ist dies eine sehr fremdartige und dem abendländischen Denken schwer zugängliche Art, im Wesen der Ausdehnung die Tiefenrichtung allein zu betonen. Die Grabtempel des Alten Reiches, vor allem die gewaltigen Pyramidentempel der 4. Dynastie stellen nicht wie Moschee und Dom einen sinnvoll gegliederten Raum dar, sondern eine rhythmisch gegliederte Folge von Räumen. Der heilige Weg führt vom Torbau am Nil durch Gänge, Hallen, Arkadenhöfe und Pfeilersäle[242] sich stets verengend bis zur Totenkammer,20 und ebenso sind die Sonnentempel der 5. Dynastie kein »Gebäude«, sondern ein von mächtigem Gestein eingefaßter Weg.21 Die Reliefs und Gemälde erscheinen stets in Reihen, die mit eindringlichem Zwang den Betrachter in einer bestimmten Richtung geleiten; die Widder- und Sphinxalleen des Neuen Reiches wollen dasselbe. Für den Ägypter war das über seine Weltform entscheidende Tiefenerlebnis so streng hinsichtlich der Richtung betont, daß der Raum gewissermaßen in steter Verwirklichung begriffen blieb. Diese Ferne ist nicht erstarrt. Nur indem der Mensch sich vorwärts bewegt und damit selbst zum Symbol des Lebens wird, tritt er in Beziehung zu dem steinernen Teil dieser Symbolik. »Weg« bedeutet zugleich Schicksal und dritte Dimension. Die mächtigen Wandflächen, Reliefs, Säulenreihen, an denen er vorüberführt, sind »Länge und Breite«, d.h. die bloße Empfindung der Sinne, die das vorwärtsdringende Leben erst zur Welt dehnt. So erlebt der im Prozessionszuge schreitende Ägypter den Raum gewissermaßen in seinen noch unvereinigten Elementen, während ihn der vor dem Tempel opfernde Grieche nicht empfand und er den im Dom betenden Menschen der gotischen Jahrhunderte in ruhender Unendlichkeit umgibt. Deshalb will diese Kunst Flächenwirkung und nichts anderes, auch dort, wo sie sich körperhafter Mittel bedient. Für den Ägypter war die Pyramide über dem Königsgrab ein Dreieck, eine ungeheure, den Weg abschließende, die Landschaft beherrschende Fläche von stärkster Kraft des Ausdrucks, von wo aus er auch sich ihr näherte; die Säulen der inneren Gänge und Höfe, auf dunklem Hintergrunde, von dichtester Aufstellung und mit Schmuck überdeckt, wirkten durchaus als vertikale Flächenstreifen, die den Zug der Priester rhythmisch begleiteten; das Relief ist peinlich – und sehr im Gegensatz zum antiken – in eine Fläche gebannt; in der Entwicklung von der 3. zur 5. Dynastie nimmt es von Fingerstärke bis zur Papierdünne ab und wird zuletzt[243] in die Fläche versenkt.22 Die Herrschaft der Horizontale, der Vertikale und des rechten Winkels, das Vermeiden jeder Verkürzung unterstützen das zweidimensionale Prinzip und isolieren das Erlebnis der Raumtiefe, die mit der Wegrichtung und dem Ziel – dem Grabe – zusammenfällt. Diese Kunst gestattet keine die Spannung der Seele erleichternde Ablenkung.

Ist es nicht dies – in der erhabensten Sprache ausgedrückt, die überhaupt gedacht werden kann –, was in all unsern Raumtheorien sich aussprechen möchte? Es ist eine Metaphysik in Stein, neben der die geschriebene – diejenige Kants – wie ein hilfloses Stammeln wirkt.

Trotzdem gab es eine Kultur, deren Seele bei aller tiefinnerlichen Verschiedenheit zu einem verwandten Ursymbol gelangte: die chinesische mit dem ganz im Sinne der Tiefenrichtung empfundenen Prinzip des Tao.23 Aber während der Ägypter den mit eherner Notwendigkeit vorgezeichneten Weg zu Ende schreitet, wandelt der Chinese durch seine Welt; und deshalb geleiten ihn nicht steinerne Schluchten mit fugenlos geglätteten Wänden der Gottheit oder dem Ahnengrabe zu, sondern die freundliche Natur selbst. Nirgends ist die Landschaft so zum eigentlichen Stoff der Architektur geworden. »Es hat sich hier eine großartige Gesetzhaftigkeit und Einheit aller Bauwerke auf religiöser Grundlage entwickelt, die überall ein gleichartiges Grundschema von Torbau, Seitengebäuden, Höfen und Hallen zugleich mit der streng durchgehaltenen Nord-Süd-Achse aller Anlagen festgehalten hat und die schließlich zu einem so grandiosen Entwerfen von Grundrissen und einem Schalten über Bodenstrecken und Räume geführt hat, daß man füglich von einem Bauen und Rechnen mit der Landschaft selber reden kann.«24 Der Tempel[244] ist kein Einzelbau, sondern eine Anlage, in welcher Hügel und Wasser, Bäume, Blumen und bestimmt geformte und angeordnete Steine ebenso wichtig sind wie Tore, Mauern, Brücken und Häuser. Diese Kultur ist die einzige, in welcher die Gartenkunst eine religiöse Kunst großen Stils ist. Es gibt Gärten, die das Wesen bestimmter buddhistischer Sekten widerspiegeln.25 Aus der Architektur der Landschaft erst erklärt sich die der Bauten, ihr flaches Sich-erstrecken und die Betonung des Daches als des eigentlichen Ausdrucksträgers. Und wie die verschlungenen Wege durch Tore, über Brücken, um Hügel und Mauern doch endlich zum Ziel führen, so leitet die Malerei den Betrachter von einer Einzelheit zur andern, während das ägyptische Relief ihn herrisch in eine strenge Richtung verweist. »Das ganze Bild soll nicht mit einem einzigen Blick umfaßt werden. Die zeitliche Abfolge setzt eine Folge von Raumteilen voraus, durch die der Blick vom einen zum anderen wandern soll.«26 Die ägyptische Architektur überwältigt das Bild der Landschaft, die chinesische schmiegt sich ihm an; in beiden Fällen aber ist es die Tiefenrichtung, die das Erlebnis des Raumwerdens immer gegenwärtig erhält.

20

Hölscher, Grabdenkmal des Königs Chephren; Borchardt, Grabdenkmal des Sahu-rê; Curtius, Die antike Kunst, S. 45.

21

Vgl. Bd. II, S. 900; Borchardt, Reheiligtum des Newoserrê; Ed. Meyer, Gesch. d. Altertums I, § 251.

22

Relief en creux, vgl. H. Schäfer, Von ägyptischer Kunst (1919), I, S. 41.

23

Vgl. Bd. II, S. 910 f.

24

O. Fischer, Chinesische Landschaftsmalerei (1921) S. 24. Die große Schwierigkeit der chinesischen – und ebenso der indischen – Kunst besteht für uns darin, daß alle Werke der Frühzeit, nämlich des Hoanghogebiets zwischen 1300 und 800 v. Chr. und ebenso des vorbuddhistischen Indien, spurlos verschwunden sind. Was wir heute chinesische Kunst nennen, entspricht der ägyptischen etwa seit der 20. Dynastie. Die großen Malerschulen finden in den Bildhauerschulen der Saïten- und Ptolemäerzeit ihre Parallele, auch in dem Auf und Ab von raffinierten und archaischen Geschmacksrichtungen ohne innere Entwicklung. An dem Beispiel Ägyptens kann man ermessen, bis zu welchem Grade Rückschlüsse auf die Kunst der frühen Dschou- und Vedazeit erlaubt sind.

25

C. Glaser, Die Kunst Ostasiens (1920), S. 181. Vgl. M. Gothein, Geschichte der Gartenkunst (1914), II, S. 331 ff.

26

Glaser, S. 43.

Quelle:
Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. München 1963, S. 241-245.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Der Untergang des Abendlandes
Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte
Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte
Der Untergang des Abendlandes
Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte
Der Untergang des Abendlandes, II.

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Therese. Chronik eines Frauenlebens

Therese. Chronik eines Frauenlebens

Therese gibt sich nach dem frühen Verfall ihrer Familie beliebigen Liebschaften hin, bekommt ungewollt einen Sohn, den sie in Pflege gibt. Als der später als junger Mann Geld von ihr fordert, kommt es zur Trgödie in diesem Beziehungsroman aus der versunkenen Welt des Fin de siècle.

226 Seiten, 8.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon