6

[501] Damit offenbart sich nun auch der religiöse Ursprung des physikalischen Begriffs der Notwendigkeit. Es handelt sich um die mechanische Notwendigkeit in dem, was wir als Natur geistig besitzen, und man hat nicht zu vergessen, daß dieser Notwendigkeit eine andre, organische, schicksalhafte im Leben selbst zugrunde liegt. Die letzte gestaltet, die erste schränkt ein; die eine folgt aus einer inneren Gewißheit, die andere aus Beweisen: das ist der Unterschied von tragischer und technischer, historischer und physikalischer Logik.

Innerhalb der von der Naturwissenschaft geforderten und vorausgesetzten Notwendigkeit, derjenigen von Ursache und Wirkung, bestehen nun weitere Unterschiede, die sich bis jetzt jeder Aufmerksamkeit entzogen haben. Es handelt sich hier um sehr schwierige Einsichten von unabsehbarer Bedeutung. Eine Naturerkenntnis ist die Funktion eines Erkennens von bestimmtem Stil, gleichviel wie dieser Zusammenhang von der Philosophie beschrieben wird. Eine Naturnotwendigkeit besitzt demnach den Stil des zugehörigen Geistes, und hier beginnen die historisch-morphologischen Unterschiede. Man kann eine strenge Notwendigkeit in der Natur erblicken, ohne daß sie sich in Naturgesetzen ausdrücken ließe. Das letztere, für uns selbstverständlich, für Menschen andrer Kulturen indessen durchaus nicht, setzt eine ganz besondere und für den faustischen Geist bezeichnende Form des Verstehens überhaupt und mithin auch des Naturerkennens voraus. An sich liegt die Möglichkeit vor, daß die mechanische Notwendigkeit eine Fassung annimmt, in der jeder einzelne Fall morphologisch für sich besteht, keiner sich exakt wiederholt und Erkenntnisse also nicht die Gestalt dauernd gültiger Formeln erhalten können. Es würde da die Natur in einem Bild erscheinen, das sich etwa nach Analogie unendlicher, aber nicht periodischer Dezimalbrüche im Unterschiede von rein periodischen vorstellen ließe. So hat ohne Zweifel die Antike empfunden. Das Gefühl davon liegt deutlich ihren physikalischen Urbegriffen zugrunde. Die Eigenbewegung der Atome bei Demokrit z.B. erscheint[502] so, daß eine Vorausberechnung von Bewegungen ausgeschlossen ist.

Naturgesetze sind Formen des Erkannten, in welchen ein Inbegriff von Einzelfällen sich zu einer Einheit höheren Grades zusammenschließt. Von der lebendigen Zeit wird abgesehen, das heißt: es ist gleichgültig, ob, wann und wie oft der Fall eintritt, und es handelt sich nicht um das chronologische Nacheinander von Ereignissen, sondern um das mathematische Auseinander.23 Aber in dem Bewußtsein, daß keine Macht der Welt diese Berechnung erschüttern kann, liegt unser Wille zur Herrschaft über die Natur. Das ist faustisch. Erst von diesem Aspekt aus erscheint das Wunder als eine Durchbrechung von Naturgesetzen. Der magische Mensch erblickt im Wunder nur den Besitz einer Macht, die nicht jeder hat, ohne daß sie der »Natur« widerspricht. Und der antike Mensch war, nach Protagoras, nur das Maß, nicht der Schöpfer der Dinge. Damit verzichtet er unbewußt auf die Überwältigung der Natur durch Entdeckung und Anwendung von Gesetzen.

Hier zeigt sich, daß das Kausalitätsprinzip in der Form, wie sie für uns selbstverständlich und notwendig ist, wie sie von der Mathematik, Physik und Erkenntniskritik übereinstimmend als Grundwahrheit behandelt wird, eine abendländische, genauer eine Barockerscheinung ist. Sie kann nicht bewiesen werden, denn jeder Beweis in einer abendländischen Sprache und jede Erfahrung eines abendländischen Geistes setzt sie schon voraus. Jede Problemstellung enthält schon die zugehörige Lösung. Die Methode einer Wissenschaft ist die Wissenschaft selbst. Es ist kein Zweifel, daß im Begriff des Naturgesetzes und in der seit Roger Bacon bestehenden Auffassung der Physik als einer scientia experimentalis24 diese besondere Art von Notwendigkeit schon enthalten ist. Die antike Art, die Natur zu sehen – das alter ego der antiken Art zu sein –, enthält sie aber nicht, ohne daß dadurch eine logische Schwäche in den naturwissenschaftlichen Feststellungen zum Vorschein käme. Denkt man die Aussagen des Demokrit, Anaxagoras und Aristoteles, in denen die ganze[503] Summe antiker Naturanschauungen enthalten ist, genau durch, prüft man vor allem den Gehalt von so entscheidenden Begriffen wie ἀλλοίωσις, ἀνάγκη, oder ἐντελέχεια, so sieht man mit Erstaunen in ein völlig anders geartetes, in sich geschlossenes und also für eine bestimmte Art Mensch unbedingt wahres Weltbild, in dem von Kausalität in unserem Sinne nicht die Rede ist.

Der Alchimist und Philosoph der arabischen Kultur setzt ebenso eine tiefe Notwendigkeit innerhalb der Welthöhle voraus, die von dynamischer Kausalität ganz und gar verschieden ist. Es gibt keinen Kausalnexus von gesetzmäßiger Form, sondern nur eine Ursache, Gott, die jeder Wirkung unmittelbar zugrunde liegt. An Naturgesetze glauben, hieße an Gottes Allmacht zweifeln. Wenn der Anschein einer Regel entsteht, so hat es Gott so gefallen; wer aber diese Regel für notwendig hält, den hat der Böse in Versuchung geführt. Genau so haben Karneades, Plotin und die Neupythagoräer empfunden,25 und diese Notwendigkeit liegt den Evangelien wie dem Talmud und Awesta zugrunde. Auf ihr beruht die Technik der Alchymie.

Die Zahl als Funktion steht mit dem dynamischen Prinzip von Ursache und Wirkung in Beziehung. Beide sind Schöpfungen desselben Geistes, Ausdrucksformen desselben Seelentums, bildende Grundlagen derselben objektgewordnen Natur. In der Tat unterscheidet sich die Physik Demokrits von derjenigen Newtons, indem die eine das optisch Gegebene, die andere die aus ihm sich entwickelnden abstrakten Beziehungen zum Ausgangspunkt wählt. Die »Tatsachen« der apollinischen Naturerkenntnis sind Dinge, und liegen an der Oberfläche des Erkannten; die »Tatsachen« der faustischen Naturerkenntnis sind Beziehungen, die dem Auge des Laien überhaupt nicht zugänglich sind, die geistig erst erobert sein wollen und endlich zu ihrer Mitteilung einer Geheimsprache bedürfen, die nur dem Kenner der Naturwissenschaft vollkommen verständlich ist. Die antike statische Notwendigkeit liegt in den wechselnden Erscheinungen unmittelbar zutage; das dynamische Kausalprinzip waltet jenseits[504] der Dinge, indem es ihre sinnliche Tatsächlichkeit abschwächt oder aufhebt. Man frage sich, welche Bedeutung sich unter Voraussetzung der gesamten heutigen Theorie mit dem Ausdruck »ein Magnet« verbindet.

Das Prinzip der Erhaltung der Energie, das man seit seiner Aufstellung durch J.R. Mayer in vollem Ernst als eine bloße Denknotwendigkeit angesehen hat, ist in der Tat eine Umschreibung des dynamischen Kausalprinzips mittelst des physikalischen Begriffes der Kraft. Die Berufung auf »Erfahrung« und der Streit, ob eine Einsicht denknotwendig oder empirisch, ob sie also nach Kants Bezeichnung – der sich über die verschwimmende Grenze zwischen beiden sehr täuschte – a priori oder a posteriori gewiß sei, ist für die Anlage des abendländischen Denkens charakteristisch. Nichts erscheint uns selbstverständlicher und eindeutiger als »die Erfahrung« als Quelle der exakten Wissenschaft. Das Experiment faustischer Art, das auf Arbeitshypothesen beruht und sich messender Methoden bedient, ist nichts als die systematische und erschöpfende Handhabung dieser Erfahrung. Aber man hat nie bemerkt, daß ein solcher Begriff der Erfahrung mit seinem dynamischen und angreifenden Gehalt eine ganze Weltanschauung einschließt, und daß es Erfahrung in diesem prägnanten Sinne für den Menschen fremder Kulturen nicht gibt und nicht geben kann. Wenn wir uns weigern, die wissenschaftlichen Resultate des Anaxagoras oder Demokrit als Ergebnisse echter Erfahrung anzuerkennen, so heißt das nicht, daß diese antiken Menschen sich auf die Interpretation ihrer Anschauungen nicht verstanden, daß sie bloße Phantasien entworfen hätten, sondern daß wir in ihren Verallgemeinerungen dasjenige kausale Element vermissen, das für uns den Sinn des Wortes Erfahrung erst ausmacht. Offenbar hat man nie genügend über die Besonderheit dieses rein faustischen Begriffes nachgedacht. Nicht der an der Oberfläche liegende Gegensatz zum Glauben ist für ihn bezeichnend. Die exakte sinnlich-geistige Erfahrung ist im Gegenteil ihrer Struktur nach dem vollkommen kongruent, was tief religiöse Naturen des Abendlandes, Pascal zum Beispiel, der Mathematiker und Jansenist aus der gleichen inneren Notwendigkeit war, wohl als Erfahrung des Herzens, als[505] Erleuchtung in bedeutenden Momenten ihres Daseins kennen gelernt haben. Erfahrung bezeichnet uns eine Aktivität des Geistes, die sich nicht auf die augenblicklichen und rein gegenwärtigen Eindrücke beschränkt, sie als solche hinnimmt, anerkennt, ordnet, sondern sie aufsucht und hervorruft, um sie in ihrer sinnlichen Gegenwart zu überwinden, sie in eine grenzenlose Einheit zu bringen, durch welche ihre handgreifliche Vereinzelung aufgelöst wird. Was wir Erfahrung nennen, besitzt die Tendenz vom Einzelnen zum Unendlichen. Eben deshalb widerspricht sie dem antiken Naturgefühl. Unser Weg, Erfahrung zu gewinnen, ist für den Griechen der Weg, sie zu verlieren. Deshalb bleibt er der gewaltsamen Methode des Experiments fern. Deshalb besaß er unter dem Namen einer Physik statt eines mächtigen Systems erarbeiteter abstrakter Gesetze und Formeln, das die sinnliche Gegebenheit vergewaltigt und unterwirft – nur dies Wissen ist Macht! –, eine Summe wohlgeordneter, durch Bilder sinnlich verstärkter, nicht etwa aufgelöster Eindrücke, welche die Natur in ihrem in sich vollendeten Dasein unberührt ließ. Unsre exakte Naturwissenschaft ist imperativisch, die antike ist ϑεωρία im buchstäblichen Sinne, das Ergebnis passiver Beschaulichkeit.

23

Vgl. Bd. I, S. 156, 197 f.

24

Vgl. Bd. II, S. 928.

25

J. Goldziher, Die islam. und jüd. Philosophie (Kultur der Gegenwart I, V, 1913), S. 306 f.

Quelle:
Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. München 1963, S. 501-506.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Der Untergang des Abendlandes
Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte
Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte
Der Untergang des Abendlandes
Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte
Der Untergang des Abendlandes, II.

Buchempfehlung

Spitteler, Carl

Conrad der Leutnant

Conrad der Leutnant

Seine naturalistische Darstellung eines Vater-Sohn Konfliktes leitet Spitteler 1898 mit einem Programm zum »Inneren Monolog« ein. Zwei Jahre später erscheint Schnitzlers »Leutnant Gustl" der als Schlüsseltext und Einführung des inneren Monologes in die deutsche Literatur gilt.

110 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon