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[737] Die Schrift ist eine ganz neue Sprachart und bedeutet eine völlige Abänderung der menschlichen Wachseinsbeziehungen, indem sie sie vom Zwange der Gegenwart befreit. Bildersprachen, die Gegenstände bezeichnen, sind viel älter, älter wahrscheinlich als alle Worte; hier aber bezeichnet das Bild nicht mehr unmittelbar ein Sehding, sondern zunächst ein Wort, etwas vom Empfinden bereits Abgezogenes. Es ist das erste und einzige Beispiel einer Sprache, welche ein ausgebildetes Denken als vorhanden fordert und nicht mit sich bringt.

Die Schrift setzt also eine vollentwickelte Grammatik voraus, denn die Tätigkeit des Schreibens und Lesens ist unendlich viel abstrakter als die des Sprechens und Hörens. Lesen heißt ein Schriftbild mit dem Bedeutungsgefühl für die zugehörigen Wortklänge verfolgen. Die Schrift enthält Zeichen nicht für Dinge, sondern für andere Zeichen. Der grammatische Sinn muß durch augenblickliches Verstehen ergänzt werden.

Das Wort gehört zum Menschen überhaupt; die Schrift gehört ausschließlich zum Kulturmenschen. Sie ist im Gegensatz zur Wortsprache von den politischen und religiösen Schicksalen der Weltgeschichte[737] nicht nur teilweise, sondern ganz und gar bedingt. Alle Schriften entstehen in einzelnen Kulturen und zählen zu deren tiefsten Symbolen. Aber es fehlt noch durchaus an einer umfassenden Schriftgeschichte, und zu einer Psychologie der Formen und Formverwandlungen ist nicht einmal der Versuch gemacht worden. Die Schrift ist das große Symbol der Ferne, also nicht nur der Weite, sondern auch und vor allem der Dauer, der Zukunft, des Willens zur Ewigkeit. Sprechen und Hören erfolgt nur in Nähe und Gegenwart; durch die Schrift redet man aber zu Menschen, die man nie gesehen hat oder die noch nicht geboren sind, und die Stimme eines Menschen wird noch Jahrhunderte nach seinem Tode gehört. Sie ist eins der ersten Kennzeichen historischer Begabung. Aber eben deshalb ist nichts für eine Kultur bezeichnender als ihr innerliches Verhältnis zur Schrift. Wenn wir vom Indogermanischen so wenig wissen, so liegt das daran, daß die beiden frühesten Kulturen, deren Menschen sich dieses Systems bedienten, die indische und die antike, infolge ihrer ahistorischen Veranlagung nicht nur keine eigene Schrift geschaffen, sondern selbst die fremden bis in die Spätzeit hinein abgelehnt haben. In der Tat ist die ganze Kunst der antiken Prosa unmittelbar für das Ohr geschaffen. Man las vor, als ob man redete; wir reden im Vergleich dazu alle »wie ein Buch« und sind deshalb, wegen des ewigen Schwankens zwischen Schriftbild und Wortklang, nie zu einem in attischem Sinne ausgebildeten Prosastil gelangt. Dagegen hat in der arabischen Kultur jede Religion ihre eigene Schrift entwickelt und auch bei einem Wechsel der Sprache behalten: die Dauer der heiligen Bücher und Lehren und die Schrift als Sinnbild der Dauer gehören zusammen. Die ältesten Zeugnisse der Buchstabenschrift liegen in südarabischen, zweifellos nach Sekten getrennten minäischen und sabäischen Schriftarten vor, die vielleicht bis ins 10. Jahrhundert v. Chr. hinaufreichen. Die Juden, Mandäer und Manichäer in Babylonien sprachen Ostaramäisch, hatten aber sämtlich eigene Schriften. Seit der Abbassidenzeit wird das Arabische herrschend, aber Christen und Juden schreiben es weiterhin mit eigener Schrift. Der Islam hat die arabische Schrift überall unter seinen Anhängern verbreitet, mochten sie semitische,[738] mongolische, arische oder Negersprachen reden.42 Mit der Gewohnheit des Schreibens entsteht überall der unvermeidliche Unterschied zwischen Schriftsprache und Umgangssprache. Die Schriftsprache bringt die Symbolik der Dauer auf den eigenen grammatischen Zustand in Anwendung, der nur langsam und widerwillig den Wandlungen der Umgangssprache nachgibt, die mithin stets einen jüngeren Zustand darstellt. Es gibt nicht eine hellenische κοινή, sondern zwei,43 und der ungeheure Abstand des geschriebenen vom lebendigen Latein in der Kaiserzeit wird durch den Bau der frühromanischen Sprachen hinreichend bezeugt. Je älter eine Zivilisation, desto schroffer ist der Unterschied bis zu jenem Abstand, der heute zwischen dem Schriftchinesischen und dem Kuanchua, der Sprache der nordchinesischen Gebildeten, besteht. Das sind nicht mehr zwei Dialekte, sondern zwei einander ganz fremde Sprachen.

Darin kommt aber bereits die Tatsache zum Ausdruck, daß die Schrift im höchsten Grade Standessache und zwar uraltes Vorrecht des Priestertums ist. Das Bauerntum ist geschichtslos und also schriftlos. Es besteht aber auch eine ausgesprochene Abneigung der Rasse gegen die Schrift. Dies scheint mir von höchster Bedeutung für die Graphologie zu sein: je mehr Rasse der Schreiber hat, desto souveräner behandelt er den ornamentalen Bau der Schriftzeichen und ersetzt ihn durch ganz persönliche Liniengebilde. Der Tabumensch allein hat beim Schreiben eine gewisse Achtung vor den Eigenformen der Zeichen und sucht sie unwillkürlich immer wieder hervorzubringen. Es ist der Unterschied des tätigen Menschen, der Geschichte macht, und des Gelehrten, der sie nur aufzeichnet, sie »verewigt«. Die Schrift ist in allen Kulturen im Besitz des Priestertums, dem Dichter und Gelehrte zuzurechnen sind. Der Adel verachtet das Schreiben. Er läßt schreiben. Diese Tätigkeit hatte von jeher etwas Geistiges und Geistliches. Zeitlose Wahrheiten werden es ganz nicht durch die Rede, sondern erst durch die Schrift. Es ist wieder der Gegensatz von Burg und Dom: Was soll hier dauern –[739] die Tat oder die Wahrheit? Die Urkunde bewahrt Tatsachen, die heilige Schrift Wahrheiten. Was dort die Chronik und das Archiv, ist hier das Lehrbuch und die Bibliothek. Und deshalb gibt es außer dem Kultbau noch etwas, das nicht mit Ornamenten verziert wird, sondern Ornament ist44das Buch. Die Kunstgeschichte aller Frühzeiten sollte die Schrift, und zwar die kursive eher noch als die monumentale, an die Spitze stellen. Was gotischer und was magischer Stil ist, erkennt man hier am reinsten. Kein Ornament hat die Innerlichkeit einer Buchstabenform oder Schriftseite. Die Arabeske erscheint nirgends vollendeter als in den Koransprüchen an den Wänden einer Moschee. Und dann die große Kunst der Initialen, die Architektur des Seitenbildes, die Plastik der Einbände! Ein Koran in kufischer Schrift wirkt auf jeder Seite wie ein Wandteppich. Ein gotisches Evangeliar ist wie ein kleiner Dom. Es ist bezeichnend für die antike Kunst, daß sie jeden Gegenstand ergreift und verschönert – mit Ausnahme allein der Schrift und der Schriftrolle. Ein Haß gegen die Dauer liegt darin, die Verachtung gegen eine Technik, die trotz allem mehr als Technik ist. Es gibt weder in Hellas noch in Indien eine Kunst der monumentalen Inschrift wie in Ägypten, und daran, daß ein Blatt mit der Handschrift Platos eine Reliquie war, daß man etwa auf der Akropolis ein kostbares Exemplar der Dramen des Sophokles hätte aufbewahren können, scheint niemand gedacht zu haben.

Indem sich über das Land die Stadt erhebt, zu Adel und Priesterschaft das Bürgertum tritt und der städtische Geist die Herrschaft in Anspruch nimmt, wird die Schrift aus einer Verkünderin adeligen Ruhmes und ewiger Wahrheiten zu einem Mittel des geschäftlichen und wissenschaftlichen Verkehrs. Jenes hatte die indische und antike Kultur abgelehnt, dies ließ sie aus der Fremde zu; als verächtliches, alltägliches Werkzeug dringt langsam die Buchstabenschrift ein. Gleichzeitig und gleichbedeutend mit diesem Ereignis ist in China die Einführung der phonetischen Zeichen um 800 v. Chr. und vor allem im Abendlande die Erfindung des Buchdrucks im 15. Jahrhundert: das Symbol der Dauer und Ferne wird durch die große[740] Zahl bis zum äußersten verstärkt. Endlich haben die Zivilisationen den letzten Schritt getan, um die Schrift in eine zweckmäßige Form zu bringen. Wie erwähnt, war die Erfindung der Buchstabenschrift in der ägyptischen Zivilisation um 2000 eine rein technische Neuerung; im gleichen Sinne hat Li-si, der Kanzler des chinesischen Augustus, 227 die chinesische Einheitsschrift eingeführt und endlich ist unter uns, was wenige in seiner wirklichen Bedeutung erkannt haben, eine neue Schriftart entstanden. Daß die ägyptische Buchstabenschrift keineswegs etwas Letztes und Vollendetes ist, beweist die der Erfindung des Alphabets ebenbürtige der Stenographie, die nicht nur Kurzschrift, sondern die Überwindung der Buchstabenschrift durch ein neues, äußerst abstraktes Mitteilungsprinzip ist. Es ist wohl möglich, daß Schriftformen dieser Art in den nächsten Jahrhunderten die Buchstaben völlig verdrängen.

42

Lidzbarski, Sitz. Berl. Akad. (1916), S. 1218. Reiches Material bei M. Mieses, Die Gesetze der Schriftgeschichte (1919).

43

P. Kretschmer in Gercke-Norden, Einl. i.d. Altertumswissenschaft I, S. 551.

44

Vgl. Bd. II, S. 701.

Quelle:
Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. München 1963, S. 737-741.
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