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[977] Und daraus folgt, daß echte Geschichte nicht »Kulturgeschichte« in dem antipolitischen Sinne ist, wie er unter Philosophen und Doktrinären jeder beginnenden Zivilisation und also gerade heute wieder beliebt wird, sondern ganz im Gegenteil Rassegeschichte, Kriegsgeschichte, diplomatische Geschichte, das Schicksal von Daseinsströmen in Gestalt von Mann und Weib, Geschlecht, Volk, Stand, Staat, die sich im Wellenschlag der großen Tatsachen verteidigen und gegenseitig überwältigen wollen. Politik im höchsten Sinne ist Leben, und Leben ist Politik. Jeder Mensch, er mag wollen oder nicht, ist Glied dieses kämpfenden Geschehens, als Subjekt oder Objekt; etwas drittes gibt es nicht. Das Reich des Geistes ist nicht von dieser Welt, gewiß, aber es setzt sie voraus, wie das Wachsein[977] das Dasein voraussetzt; es ist nur möglich als ein beständiges Neinsagen zur Wirklichkeit, die eben und trotzdem da ist. Die Rasse kann der Sprache entbehren, aber schon das Sprechen der Sprache ist Rasseausdruck,12 und ebenso ist alles, was in der Geistesgeschichte erfolgt – daß es eine solche Geschichte überhaupt gibt, beweist schon die Macht des Blutes über das Empfinden und Verstehen –, alle Religionen, alle Künste, alle Gedanken, weil sie tätiges Wachsein in Form sind, mit allen ihren Entwicklungen, ihrer ganzen Symbolik, ihrer ganzen Leidenschaft Ausdruck auch noch des Blutes, das diese Formen im Wachsein ganzer Geschlechterfolgen durchströmt. Ein Held braucht von dieser zweiten Welt gar nichts zu ahnen; er ist Leben durch und durch, aber ein Heiliger kann nur durch die strengste Askese das Leben in sich niederzwingen, um mit seinem Geist allein zu sein – und die Kraft dazu ist doch wieder das Leben selbst. Der Held verachtet den Tod, und der Heilige verachtet das Leben, aber da dem Heroismus der großen Asketen und Märtyrer gegenüber die Frömmigkeit der meisten von der Art ist, von welcher es in der Bibel heißt: »Weil Du weder kalt noch warm bist, will ich Dich ausspeien aus meinem Munde«, so entdeckt man, daß selbst Größe im Religiösen Rasse voraussetzt, ein starkes Leben, an dem es etwas zu überwinden gibt – der Rest ist bloße Philosophie.

Aber deshalb ist auch Adel im welthistorischen Sinne unendlich viel mehr, als bequeme Spätzeiten gelten lassen, nämlich nicht eine Summe von Titeln, Rechten und Zeremonien, sondern ein innerer Besitz, der schwer zu erwerben und schwer zu halten ist und der, wenn man ihn begreift, schon das Opfer eines ganzen Lebens wert erscheint. Ein altes Geschlecht bedeutet nicht einfach eine Reihe von Vorfahren – Ahnen haben wir alle –, sondern von Vorfahren, die durch ganze Geschlechterfolgen auf den Höhen der Geschichte lebten und Schicksal nicht nur hatten, sondern auch waren, in deren Blut durch jahrhundertelange Erfahrung die Form des Geschehens bis zur Vollendung gezüchtet worden ist. Da Geschichte im großen Sinne mit einer Kultur beginnt, so ist es bloße Spielerei, wenn etwa die Colonna ihr Geschlecht bis in die Römerzeit zurückverfolgen.[978] Aber es hat einen Sinn, wenn es im späten Byzanz für vornehm galt, vom Stamme des großen Konstantin entsprossen zu sein, und heute in den Vereinigten Staaten, seine Familie bis zu einem der 1620 mit der »Mayflower« Eingewanderten zurückzuführen. In Wirklichkeit beginnt der antike Adel mit der trojanischen Zeit, nicht mit Mykene, und der abendländische mit der Gotik und nicht mit den Franken und Goten, in England mit den Normannen und nicht mit den Sachsen. Erst von da an gibt es Geschichte und also kann es erst von da an statt der Edlen und Helden einen Uradel von sinnbildlichem Range geben. Was am Anfang als kosmischer Takt bezeichnet worden war,13 erhält in ihm seine Vollendung. Denn alles, was wir in reifen Zeiten diplomatischen und gesellschaftlichen Takt nennen, und dazu gehören der strategische und der geschäftliche Blick, das Auge des Sammlers kostbarer Dinge und das Feingefühl des Menschenkenners, überhaupt alles was man nicht lernt, sondern hat, was bei den übrigen den ohnmächtigen Neid des Nichtmitkönnens weckt und was als Form den Gang der Ereignisse leitet, ist nichts als ein Einzelfall jener kosmischen und traumhaften Sicherheit, die in den Wendungen eines Vogelschwarms und den beherrschten Bewegungen edler Pferde sichtbar zum Ausdruck gelangt.

Den Priester umgibt die Welt als Natur; er vertieft ihr Bild, indem er es durchdenkt. Der Adel lebt in der Welt als Geschichte und vertieft sie, indem er ihr Bild verändert. Beides entwickelt sich zur großen Tradition, aber die eine ist das Ergebnis von Bildung, die andere das von Zucht. Dies ist ein grundlegender Unterschied zwischen beiden Ständen, weshalb nur der eine wirklicher Stand ist und der andere durch den aufs äußerste getriebenen Gegensatz dazu als Stand erscheint. Zucht, Züchtung erstreckt sich auf das Blut und geht von den Vätern zu den Söhnen weiter. Bildung aber setzt Begabung voraus, und deshalb ist ein echtes und starkes Priestertum stets eine Sammlung von Einzelbegabungen – eine Wachseinsgemeinschaft – ohne Rücksicht auf Herkunft im Rassesinne und auch darin eine Verneinung von Zeit und Geschichte. Geistesverwandt und blutsverwandt – man vertiefe sich in den Unterschied dieser Worte.[979] Erbliches Priestertum ist ein Widerspruch in sich selbst. Im vedischen Indien liegt ihm die Tatsache zugrunde, daß es einen zweiten Adel gibt, der die priesterlichen Rechte den Begabungen aus seiner Mitte vorbehält; das Zölibat macht aber anderswo selbst dieser Grenzüberschreitung ein Ende. Der »Priester im Menschen« – mag dieser Mensch von Adel sein oder nicht – bedeutet einen Mittelpunkt der heiligen Kausalität im Weltraume. Die priesterliche Kraft selbst ist kausaler Natur, von höherer Ursache bewirkt und als Ursache weiterhin wirkend. Der Priester ist der Mittler im zeitlos Ausgedehnten, das zwischen dem Wachsein des Laien und dem letzten Geheimnis ausgespannt ist, und damit ist das Priestertum aller Kulturen seiner Bedeutung nach durch deren Ursymbol bestimmt. Die antike Seele verneint den Raum und bedarf also des Mittlers nicht; deshalb schwand der antike Priesterstand schon in den Anfängen hin. Der faustische Mensch steht dem Unendlichen gegenüber und nichts schützt ihn vor der drückenden Gewalt dieses Aspekts; deshalb hat das gotische Priestertum sich bis zur Idee des Papsttums gesteigert.

Zwei Anschauungen der Welt, zwei Arten, wie das Blut in den Adern fließt und das Denken ins tägliche Sein und Tun verflochten wird – es sind endlich mit jeder hohen Kultur zwei Moralen entstanden, von denen jede auf die andere herabblickt: adlige Sitte und geistliche Askese, die sich wechselseitig als weltlich oder sklavisch verwerfen. Es war gezeigt worden,14 wie die eine aus der Burg, die zweite aus Kloster und Dom hervorgeht, die eine aus dem vollen Dasein mitten im Strom der Geschichte, die andere abseits davon aus einem reinen Wachsein inmitten einer gotterfüllten Natur. Späte Zeiten machen sich keine Vorstellung mehr von der Gewalt dieser ursprünglichen Eindrücke. Das weltliche und geistliche Standesgefühl sind im Aufstieg begriffen und prägen sich ein sittliches Standesideal, das nur dem Zugehörigen und diesem nur durch eine lange und strenge Schule erreichbar ist. Der große Daseinsstrom fühlt sich als Einheit gegenüber dem Rest, in dem das Blut träge und ohne Takt dahinfließt; die große Wachseinsgemeinschaft weiß sich[980] als Einheit gegenüber dem Rest der Nichteingeweihten. Das ist die Heldenschar und die Gemeinschaft der Heiligen.

Es wird immer das große Verdienst Nietzsches bleiben, als erster das Doppelwesen aller Moral erkannt zu haben.15 Er hat mit seinen Begriffen Herren- und Sklavenmoral die Tatsachen nicht richtig gezeichnet und »das Christentum« viel zu eindeutig auf die eine Seite gestellt, aber das liegt klar und stark all seinen Betrachtungen zugrunde: gut und schlecht sind adlige, gut und böse priesterliche Unterscheidungen. Gut und schlecht, die Totembegriffe schon der primitiven Männerbünde und Sippen, bezeichnen nicht Gesinnungen, sondern Menschen und zwar nach der Ganzheit ihres lebendigen Seins. Die Guten sind die Mächtigen, Reichen, Glücklichen. Gut bedeutet stark, tapfer, von edler Rasse, und zwar im Sprachgebrauch aller Frühzeiten. Schlecht, feil, elend, gemein im ursprünglichen Sinne sind die Machtlosen, Besitzlosen, Unglücklichen, Feigen, Geringen, die Söhne Niemands, wie man im alten Ägypten sagte. Gut und böse, die Tabubegriffe, werten den Menschen hinsichtlich seines Empfindens und Verstehens, also seiner wachen Gesinnung und bewußten Handlungen. Gegen die Liebessitte im Rassesinne verstoßen ist gemein; gegen das Kirchengebot der Liebe fehlen ist böse. Die vornehme Sitte ist das ganz unbewußte Ergebnis einer langen und beständigen Zucht. Man lernt sie im Umgang und nicht aus Büchern. Sie ist gefühlter Takt und nicht Begriff. Die andre Moral aber ist Satzung, nach Grund und Folge durchaus gegliedert und also lernbar und Ausdruck einer Überzeugung.

Die eine ist durch und durch geschichtlich und erkennt alle Rangunterschiede und Vorrechte als tatsächlich und gegeben an. Ehre ist immer Standesehre; eine Ehre der ganzen Menschheit gibt es nicht. Der Zweikampf steht dem Unfreien nicht zu. Jeder Mensch hat, sei er Beduine, Samurai oder Korse, Bauer, Arbeiter, Richter oder Räuber, seine eigenen, verpflichtenden Begriffe von Ehre, Treue, Tapferkeit, Rache, die auf keine andre Art von Leben anwendbar sind. Jedes Leben hat Sitte; anders ist es gar nicht zu denken. Schon die Kinder haben sie, wenn sie spielen. Sie wissen sofort und von[981] selbst, was sich schickt. Niemand hat diese Regeln gegeben, aber sie sind da. Sie entstehen ganz unbewußt aus dem »Wir«, das sich durch den einheitlichen Takt des Kreises gebildet hat. Auch im Hinblick darauf ist jedes Dasein »in Form«. Jede Menge, die sich aus irgendeinem Anlaß auf der Straße zusammenballt, hat im Augenblick auch ihre Sitte; wer sie nicht als selbstverständlich in sich trägt – »befolgen« ist schon viel zu verstandesmäßig –, der ist schlecht, gemein, er gehört nicht dazu. Ungebildete und Kinder besitzen eine erstaunliche Feinfühligkeit dafür. Kinder haben aber auch den Katechismus zu lernen. Da erfahren sie von gut und böse, die gesetzt sind und nichts weniger als selbstverständlich. Sitte ist nicht, was wahr ist, sondern was da ist. Sie ist gewachsen, angeboren, erfühlt, von organischer Logik. Moral ist im Gegensatz dazu niemals Wirklichkeit – sonst wäre alle Welt heilig – sondern eine ewige Forderung, die über dem Bewußtsein hängt und zwar der Idee nach über dem aller Menschen, unabhängig von allen Unterschieden des wirklichen Lebens und der Geschichte. Deshalb ist jede Moral verneinend, jede Sitte bejahend. Ehrlos ist hier das Schlimmste, sündlos dort das Höchste.

Der Grundbegriff aller lebendigen Sitte ist die Ehre. Alles andere, Treue, Demut, Tapferkeit, Ritterlichkeit, Selbstbeherrschung, Entschlossenheit liegen darin. Und Ehre ist Sache des Blutes, nicht des Verstandes. Man überlegt nicht – sonst ist man schon ehrlos. Die Ehre verlieren, heißt für das Leben, die Zeit, die Geschichte vernichtet sein. Die Ehre des Standes, der Familie, des Mannes und Weibes, des Volkes und Vaterlandes, die Ehre des Bauern, Soldaten, selbst des Banditen: Ehre bedeutet, daß das Leben in einer Person etwas wert ist, historischen Rang, Abstand, Adel besitzt. Sie gehört zur gerichteten Zeit wie die Sünde zum zeitlosen Räume. Ehre im Leibe haben, heißt beinahe soviel wie Rasse haben. Das Gegenteil sind die Thersitesnaturen, die Kotseelen, der Pöbel: »Tritt mich, aber laß mich leben.« Eine Beleidigung hinnehmen, eine Niederlage vergessen, vor dem Feinde winseln –, das ist alles Zeichen wertlos und überflüssig gewordenen Lebens und also etwas ganz anderes als priesterliche Moral, die sich nicht an das wenn auch noch so verächtlich gewordene[982] Leben klammert, sondern vom Leben und damit der Ehre überhaupt absieht. Es war schon gesagt worden: jede moralische Handlung ist im tiefsten Grunde ein Stück Askese und Abtötung des Daseins. Und eben damit steht sie außerhalb des Lebens und der geschichtlichen Welt.

12

Vgl. Bd. II, S. 704.

13

Vgl. Bd. II, S. 559.

14

Vgl. Bd. II, S. 890.

15

Jenseits von Gut und Böse, § 260.

Quelle:
Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. München 1963, S. 977-983.
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