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[52] Das sprachgeleitete Unternehmen ist nun mit einer gewaltigen Einbuße an Freiheit, der alten Freiheit des Raubtieres, verbunden – für die Führer wie die Geführten. Sie werden beide geistig, seelisch, mit Leib und Leben Glieder einer größeren Einheit. Das nennen wir Organisation. Es ist die Zusammenfassung des tätigen Lebens in feste Formen, das In-Form-sein für Unternehmungen irgendwelcher Art. Mit dem Tun zu mehreren erfolgt der entscheidende Schritt vom organischen zum organisierten Dasein,[52] vom Leben in natürlichen zu dem in künstlichen Gruppen, vom Rudel zu Volk, Stamm, Stand und Staat.

Aus Raubtierkämpfen zwischen einzelnen ist der Krieg geworden, ein Unternehmen von Stamm gegen Stamm, mit Führern und Gefolgschaften, mit organisierten Märschen, Überfällen und Gefechten. Aus der Vernichtung des Besiegten wird das Gesetz, das dem Unterliegenden auferlegt wird. Das menschliche Recht ist immer ein Recht des Stärkeren, das der Schwächere zu befolgen hat,13 und dieses Recht zwischen Stämmen als dauernd gedacht ist der »Friede«. Einen solchen Frieden gibt es auch innerhalb des Stammes, um seine Kräfte für Aufgaben nach außen hin verfügbar zu halten: der Staat ist die innere Ordnung eines Volkes für den äußeren Zweck. Der Staat ist als Form, als Möglichkeit, was die Geschichte eines Volkes als Wirklichkeit ist.14 Geschichte aber ist Kriegsgeschichte, damals wie heute. Politik ist nur der vorübergehende Ersatz des Krieges durch den Kampf mit geistigeren Waffen. Und die Mannschaft eines Volkes ist ursprünglich gleichbedeutend[53] mit seinem Heer. Der Charakter des freien Raubtieres ist in wesentlichen Zügen vom einzelnen auf das organisierte Volk übergegangen, das Tier mit einer Seele und vielen Händen.15 Regierungs-, Kriegs- und diplomatische Technik haben dieselbe Wurzel und zu allen Zeiten eine tief innerliche Verwandtschaft.

Es gibt Völker, deren starke Rasse den Raubtiercharakter bewahrt hat, räuberische, erobernde, Herrenvölker, Liebhaber des Kampfes gegen Menschen, welche den wirtschaftlichen Kampf gegen die Natur den andern überlassen, um sie zu plündern und zu unterwerfen. Mit der Schiffahrt zugleich ist der Seeraub, mit dem Nomadenleben der Überfall auf Handelsstraßen, mit dem Bauerntum dessen Knechtung durch einen kriegerischen Adel gegeben.

Denn mit der Organisation zu Unternehmungen trennt sich auch die politische und die wirtschaftliche Seite des Lebens, die Richtung auf Macht oder auf Beute. Es gibt nicht nur eine Gliederung innerhalb der Völker nach Tätigkeiten, Krieger und Handwerker, Häuptlinge und Bauern, sondern auch die Organisation ganzer Stämme für einen einzigen wirtschaftlichen Beruf.[54] Es muß damals schon Jäger-, Viehzüchter-, Bauernstämme gegeben haben, Bergbau-, Töpfer- und Fischerdörfer, politische Organisationen von Seefahrern und Händlern. Und darüber hinaus gibt es Eroberervölker ohne wirtschaftliche Arbeit. Je härter der Kampf um Macht und Beute, desto enger und strenger die Bindungen des einzelnen durch Recht und Gewalt.

In den Stämmen dieser frühen Art bedeutet das einzelne Leben wenig oder gar nichts. Man mache sich nur klar – die isländischen Sagas geben einen Einblick –, daß bei jeder Fahrt über See nur ein Teil der Schiffe ankommt, daß bei jedem großen Bau ein erheblicher Teil der Arbeitenden zugrunde geht, daß ganze Stämme in Zeiten der Trockenheit verhungern – es kommt nur darauf an, daß so viele übrig bleiben, um die Seele des Ganzen zu repräsentieren. Die Zahl wächst rasch wieder nach. Als Vernichtung empfindet man nicht den Untergang einzelner oder vieler, sondern das Erlöschen der Organisation, des »Wir«.

In dieser wachsenden gegenseitigen Abhängigkeit liegt die stille und tiefe Rache der Natur an dem Wesen, das ihr das Vorrecht auf Schöpfertum entriß. Dieser kleine Schöpfer wider die Natur,[55] dieser Revolutionär in der Welt des Lebens ist der Sklave seiner Schöpfung geworden. Die Kultur, der Inbegriff künstlicher, persönlicher, selbstgeschaffener Lebensformen, entwickelt sich zu einem Käfig mit engen Gittern für diese unbändige Seele. Das Raubtier, das andere Wesen zu Haustieren machte, um sie für sich auszubeuten, hat sich selbst gefangen. Das Haus des Menschen ist das große Symbol dafür.

Und seine wachsende Zahl, in welcher der einzelne sich bedeutungslos verliert. Denn das gehört zu den folgenschwersten Wirkungen menschlichen Unternehmergeistes, daß die Bevölkerung sich vervielfacht. Wo einst ein Rudel von wenigen hundert Köpfen schweifte, sitzt jetzt ein Volk von Zehntausenden.16 Es gibt kaum noch menschenleere Räume. Volk grenzt an Volk, und die bloße Tatsache der Grenze, der Grenze eigener Macht, reizt die alten Instinkte zu Haß, Angriff und Vernichtung. Die Grenze jeder Art, auch die geistige, ist der Todfeind des Willens zur Macht.

Es ist nicht wahr, daß menschliche Technik Arbeit erspart. Es gehört zum Wesen der sich verändernden, persönlichen Menschentechnik im Gegensatz zur Gattungstechnik der Tiere, daß jede[56] Erfindung die Möglichkeit und Notwendigkeit neuer Erfindungen enthält, daß jeder erfüllte Wunsch tausend andere weckt, jeder Triumph über die Natur zu noch größeren reizt. Die Seele dieses Raubtiers ist unersättlich, sein Wollen nie zu befriedigen – das ist der Fluch, der auf dieser Art von Leben liegt, aber auch die Größe in ihrem Schicksal. Ruhe, Glück, Genuß sind gerade den höchsten Exemplaren unbekannt. Und kein Erfinder hat je die praktische Wirkung seiner Tat richtig vorausgesehen. Je fruchtbarer die Führerarbeit ist, desto größer wird der Bedarf an ausführenden Händen. Deshalb beginnt man die Gefangenen feindlicher Stämme, statt sie zu töten, hinsichtlich ihrer Körperkraft auszubeuten. Das ist der Beginn der Sklaverei, die genau so alt sein muß wie die Sklaverei der Haustiere.

Diese Völker und Stämme vermehren sich gewissermaßen nach unten. Nicht die Zahl der »Köpfe« wächst, sondern die der Hände. Die Gruppe der Führernaturen bleibt klein. Es ist das Rudel der eigentlichen Raubtiere, das Rudel der Begabten, das über die wachsende Herde der andern in irgendeiner Weise verfügt.

Aber selbst diese Herrschaft der wenigen ist von der alten Freiheit weit entfernt. Das liegt in dem[57] Worte Friedrichs des Großen: »Ich bin der erste Diener meines Staates.« Deshalb der tiefe verzweifelte Drang der Ausnahmemenschen, innerlich frei zu bleiben. Euer und erst hier beginnt der Individualismus als der Widerspruch gegen die Psychologie der »Masse«. Es ist das letzte Aufbäumen der Raubtierseele gegen die Gefangenschaft in der Kultur, der letzte Versuch, sich der seelischen und geistigen Einebnung zu entziehen, die durch die Tatsache der großen Zahl bewirkt und dargestellt wird. Deshalb die Lebenstypen des Eroberers, des Abenteurers, des Einsiedlers, selbst ein gewisser Typus von Verbrechern und Bohemiens. Man will der Wirkung der saugenden Zahl entgehen, indem man sich über sie stellt, vor ihr flieht, sie verachtet. Die Idee der Persönlichkeit, dunkel beginnend, ist ein Protest gegen den Menschen der Masse. Die Spannung zwischen beiden wächst bis zum tragischen Ende.

Der Haß, das eigentliche Rassegefühl der Raubtiere, setzt voraus, daß man den Gegner achtet. Es liegt eine gewisse Anerkennung der Gleichheit des seelischen Ranges darin. Wesen, die tiefer stehen, verachtet man. Wesen, die selbst tief stehen, sind neidisch. Alle frühen Märchen,[58] Göttermythen und Heldensagen sind voll von solchen Motiven. Der Adler haßt nur seinesgleichen. Er beneidet niemand, er verachtet viele, alle. Die Verachtung blickt aus der Höhe herab, der Neid schielt von unten herauf – es sind die welthistorischen Gefühle der zu Staaten und Ständen organisierten Menschheit, deren friedliche Exemplare ohnmächtig an den Stäben des Käfigs rütteln, der sie zusammen einschließt. Von dieser Tatsache und ihren Folgen kann nichts befreien. So war es, so wird es sein – oder es wird gar nichts mehr sein. Es hat einen Sinn, diese Tatsache zu achten oder zu verachten. Sie zu verändern ist unmöglich. Das Schicksal des Menschen ist im Laufe und muß sich vollenden.

13

Untergang d. Abendlandes Bd. II Kap. I § 15; Kap. IV § 6.

14

Ebenda.

15

Und mit einem Kopf, nicht mit vielen.

16

Und drängen sich heute Millionen.

Quelle:
Oswald Spengler: Der Mensch und die Technik. München 1931, S. 52-59.
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