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[60] Die »Kultur« der bewaffneten Hand hatte einen langen Atem und hat die ganze Gattung Mensch ergriffen. Die »Kulturen des Sprechens und Unternehmens« – es sind bereits mehrere, die sich deutlich unterscheiden lassen –, diese Kulturen des beginnenden seelischen Gegensatzes zwischen Persönlichkeit und Masse, des herrschsüchtig werdenden »Geistes« und des von ihm vergewaltigten Lebens ergreifen nur noch einen Teil der Menschenwelt und sind heute, nach wenigen Jahrtausenden, längst alle erloschen und zersetzt. Was wir »Naturvölker« und »Primitive« nennen, sind nur die Reste des lebenden Materials, Ruinen einstiger durchseelter Formen, Schlacken, aus denen die Glut des Werdens und Vergehens entschwunden ist.

Aus diesem Boden wachsen seit 3000 v. Chr. hier und dort die hohen Kulturen1 auf, Kulturen im engsten und größten Sinne, jede nur noch einen sehr kleinen Raum der Erdoberfläche erfüllend und von der Dauer kaum eines Jahrtausends. Es ist[60] das Tempo der letzten Katastrophen. Jedes Jahrzehnt bedeutet etwas, jedes einzelne Jahr fast hat »ein Gesicht«. Es ist Weltgeschichte im eigentlichsten, anspruchsvollsten Sinne. Diese Gruppe von leidenschaftlichen Lebensläufen hat als ihr Symbol und ihre »Welt« die Stadt erfunden, gegenüber dem Dorf der vorauf gehenden Stufe, die steinerne Stadt als das Gehäuse des ganz künstlichen, von der mütterlichen Erde getrennten, vollkommen gegennatürlich gewordenen Lebens, die Stadt des wurzellosen Denkens, welche die Ströme des Lebens vom Lande an sich zieht und verbraucht.2

Dort entsteht die »Gesellschaft«3 mit ihrer ständischen Rangordnung- Adlige, Priester, Bürger – gegenüber dem »groben Bauerntum« als die künstliche Stufung des Lebens – die natürliche ist die in Starke und Schwache, Kluge und Dumme – und als Sitz einer vollkommen durchgeistigten Kulturentwicklung. Dort herrschen »Luxus« und »Reichtum«. Das sind Begriffe, die von denen, die nicht dazu gehören, neidisch mißverstanden werden. Aber Luxus ist nichts als Kultur in anspruchsvollster Form. Man denke an das Athen des Perikles, das Bagdad Harun al Raschids und an[61] das Rokoko. Diese Kultur der Städte ist durch und durch Luxus, in allen Schichten und Berufen, um so reicher und reifer, je später die Zeiten werden, durch und durch künstlich, oh es sich nun um Künste der Diplomatie, der Lebensführung, des Schmückens, Schreibens und Denkens oder des Wirtschaftslebens handelt. Ohne wirtschaftlichen Reichtum, der sich in wenigen Händen sammelt, ist auch »Reichtum« an bildenden Künsten, an Geist, an vornehmer Sitte unmöglich, um von dem Luxus an Weltanschauungen, an theoretischem statt praktischem Denken zu schweigen. Wirtschaftliche Verarmung zieht geistige und künstlerische sofort nach sich.

Und in diesem Sinne sind auch die technischen Verfahren, die in der Gruppe dieser Kulturen heranreifen, geistiger Luxus, späte, süße, leichtverletzliche Früchte einer wachsenden Künstlichkeit und Durchgeistigung. Sie beginnen mit dem Bau der Gräberpyramiden Ägyptens und der sumerischen Tempeltürme Babyloniens, die im dritten Jahrtausend v. Chr. tief im Süden entstehen und lediglich den Sieg über schwere Massen bedeuten, und gehen über die Unternehmungen der chinesischen, indischen, antiken, der arabischen und mexikanischen Kultur bis zu denen der faustischen im zweiten[62] Jahrtausend n. Chr. im hohen Norden, welche den Sieg über schwere Probleme reinen technischen Denkens darstellen.

Denn diese Kulturen wachsen unabhängig voneinander und in einer Folge auf, die von Süden nach Norden weist. Die faustische, westeuropäische Kultur ist vielleicht nicht die letzte, sicherlich aber die gewaltigste, leidenschaftlichste, durch ihren inneren Gegensatz zwischen umfassender Durchgeistigung und tiefster seelischer Zerrissenheit die tragischste von allen. Es ist möglich, daß noch ein matter Nachzügler kommt, etwa irgendwo in der Ebene zwischen Weichsel und Amur und im nächsten Jahrtausend, hier aber ist der Kampf zwischen der Natur und dem Menschen, der sich durch sein historisches Dasein gegen sie aufgelehnt hat, praktisch zu Ende geführt worden.

Die nordische Landschaft hat den Menschenschlag in ihr durch die Schwere der Lebensbedingungen, die Kälte, die beständige Lebensnot zu harten Rassen geschmiedet, mit einem bis aufs äußerste geschärften Geist, mit der kalten Glut einer unbändigen Leidenschaft im Kämpfen, Wagen, Vorwärtsdrängen – das, was ich das Pathos der dritten Dimension genannt habe.4 Es sind[63] noch einmal echte Raubtiere, deren Seelenkraft nach der Unmöglichkeit ringt, die Übermacht des Denkens, des organisierten künstlichen Lebens über das Blut zu brechen und in ein Dienen zu verwandeln, das Schicksal der freien Persönlichkeit zum Sinn der Welt zu erheben. Ein Wille zur Macht, der aller Grenzen von Zeit und Raum spottet, der das Grenzenlose, das Unendliche zum eigentlichen Ziel hat, unterwirft sich ganze Erdteile, umfaßt zuletzt den Erdball mit den Formen seines Verkehrs und seines Nachrichtenwesens und verwandelt ihn durch die Gewalt seiner praktischen Energie und die Ungeheuerlichkeit seiner technischen Verfahren.

Am Anfang jeder hohen Kultur bilden sich die beiden Urstände, Adel und Priestertum, als die Anfange der »Gesellschaft« über dem bäuerlichen Leben des flachen Landes.5 Sie verkörpern Ideen, und zwar Ideen, die einander ausschließen. Der Adlige, Krieger, Abenteurer lebt in der Welt der Tatsachen, der Priester, Gelehrte, Philosoph in seiner Welt der Wahrheiten. Der eine erleidet oder ist ein Schicksal, der andere denkt in Kausalitäten. Jener will den Geist in den Dienst eines starken Lebens stellen, dieser sein Leben in[64] den Dienst des Geistes. Nirgends hat der Gegensatz unversöhnlichere Formen angenommen als in der faustischen Kultur, in der das stolze Blut der Raubtiere sich zum letzten Male gegen die Tyrannei des reinen Denkens auflehnt. Von dem Kampf zwischen den Ideen des Kaisertums und Papsttums im 12. und 13. Jahrhundert an bis zum Kampf zwischen den Mächten einer vornehmen Rassetradition – Königtum, Adel, Heer – und den Theorien eines plebejischen Rationalismus, Liberalismus Sozialismus – von der französischen bis zur deutschen Revolution – wurde immer wieder die Entscheidung gesucht.

1

Unterg. d. Abendl. I Kap. II § 6.

2

Unterg. d. Abendl. II Kap. II: Die Seele der Stadt.

3

Unterg. d. Abendl. II Kap. IV § 1 und 4.

4

Unterg. d. Abendl. I Kap. III § 2 f., Kap. V § 3.

5

Unterg. d. Abend. II Kap. IV § 2.

Quelle:
Oswald Spengler: Der Mensch und die Technik. München 1931, S. 60-65.
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