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[18] Aber man täusche sich nicht: die Revolution ist nicht zu Ende. Ob sinnlos oder nicht, ob gescheitert oder verheißungsvoll begonnen, ob der Auftakt einer Weltrevolution oder eine bloße Auflehnung des Mob in einem einzelnen Lande, es ist eine Krise im Gange, die wie alles Organische, wie eine[18] Krankheit, einen mehr oder weniger typischen Verlauf nimmt, der sinnwidrige Eingriffe nicht duldet. Ethische Worte, wie gerechte Sache oder Verrat, sind der Tatsache selbst gegenüber wertlos. Man muß, als Revolutionär wie als Gegenrevolutionär, Menschenkenner sein, eiskalt und überlegen alle Faktoren des Augenblicks berechnen, das psychologische Feingefühl der alten Diplomatie statt auf Diplomaten- und Fürstenseelen auf die viel schwerer zu durchschauende, auf einen Taktfehler viel gereizter antwortende Massenseele anwenden. Volksführer mit geringer Intelligenz pflegen darin eine unfehlbare Sicherheit zu besitzen. Unsere Volksführer verdanken ihren Mangel an Instinkt vielleicht gerade ihrer echt deutschen Gründlichkeit der theoretischen Schulung. Man muß die Dauer, das Tempo, die Schwingung, das Crescendo oder Decrescendo jeder Phase unbedingt kennen. Wer sich einmal vergreift, hat die Entscheidung aus der Hand verloren. Aber man muß auch wissen, was man entscheiden kann und was man laufen lassen und erst im Verlauf aus größeren Gesichtspunkten ausnützen oder unmerklich in eine andre Richtung biegen muß. Revolutionäre großen Stils besaßen immer die Taktik großer Feldherrn. Die Stimmung einer Stunde entscheidet über den Sieg einer Armee. Der Doktrinär wird sich gern mit dem Anfang von Revolutionen beschäftigen, wo die Prinzipien klar und hart aufeinanderstoßen; der Skeptiker studiert ihr Ende. Es ist nicht nur wichtiger, es ist auch psychologisch lehrreicher. Die Verhältnisse lagen nie so kompliziert wie heute. Der Ausbruch der Revolution war gleichzeitig die Auslieferung des Landes an den Feind. Das hat, im Gegensatz zu allen andern Ländern, bei uns die gefühlsmäßige Stellung zum Marxismus von einem mächtigen Faktor ganz andrer Art abhängig gemacht. Vaterland und Revolution waren 1792 identisch, 1919 sind es Gegensätze. Jede neue Phase vollzieht sich unter dem Druck einer feindlichen Kombination. Die englische Revolution spielte sich auf einer Insel ab; die französische behielt dank ihrer Tapferkeit im Felde die Entscheidungen in der Hand. In der deutschen Revolution aber zählen Paris, London und[19] Neuyork mit, nicht mit ihren Arbeiterbewegungen, sondern mit Truppen, die sie marschieren lassen, wenn die deutsche Revolution eine ihnen nicht erwünschte Form annimmt. Die Marxisten haben es so gewollt und müssen nun damit rechnen. Außer den Handgranaten des Spartakusbundes und den Maschinengewehren der Reichswehr ist noch die französische Besatzungsarmee und die englische Flotte da. Das heroische Bolschewistengerede in den Zeitungen und die tägliche Niedermetzelung der westlichen Kapitalisten durch Leitartikel und Lügentelegramme ersetzen eine revolutionäre Front mit schwerer Artillerie noch lange nicht. Je mehr man die Weltrevolution predigt, desto ungefährlicher wird sie. Schon der Ton dieses Geredes verrät mehr Ärger als Zuversicht, und schließlich hatten ja auch die russischen Revolutionäre nicht die Feigheit vor dem äußeren Feind an die Spitze ihres Programms gestellt. Und man vergesse doch auch nicht, daß die Beteiligung am Novemberaufstand bei vielen nicht aus Begeisterung für irgendein Programm, sondern aus Verzweiflung, aus Hunger, aus der nicht länger zu ertragenden Anspannung der Nerven hervorging. Die Versailler Beschlüsse lassen den Kriegszustand fortdauern, aber wie lange wird man seine seelische Wirkung für statt gegen die marxistischen Ziele einstellen dürfen? Die Waffe des Generalstreiks ist abgenutzt. Das verlorene erste Jahr einer jungen Bewegung ist nicht nachzuholen, und auch das Schauspiel der Nationalversammlung kann wohl gegen die Versammlung, aber nicht notwendig für die Sache ihrer kläglichen Schrittmacher einnehmen. Und endlich beachte man den rasch nahenden, jede Revolution innerlich abschließenden Zeitpunkt, wo das eigentliche Volk Ruhe und Ordnung um jeden Preis haben will und auch durch den stärksten Druck der revolutionären Minderheit nicht mehr zu bewegen ist, zu prinzipiellen Fragen Stellung zu nehmen. Diesen Zeitpunkt hinauszuschieben oder aufzuheben steht in niemandes Macht. Man vergleiche die in sozialistischen Schriften gern unterschlagenen Ziffern der Wählerbeteiligung bei den Jakobinerabstimmungen mit denen bei Einsetzung des Konsuls Bonaparte und man begreift:[20] selbst das französische Volk hatte den revolutionären Zustand endlich satt. Die Geduld des deutschen Volkes wird schneller zu Ende sein.

Aber andrerseits: nicht nur die grundsätzlichen Anhänger, auch die grundsätzlichen Gegner jedes Umsturzes sind in Gefahr, sich zu irren. Eine tiefe, aber unbestimmte Enttäuschung ist von dem Entschluß der Verzichtleistung weit entfernt. Das Gefühl einer gescheiterten Erhebung, wie es heute in weiten Schichten besteht, ist wie eine offene Wunde, die keine Berührung ertragt. Was keine Anstrengung der Radikalen mehr vermag, würde der geringste Versuch der Gegengruppe, die Revolution gewaltsam zu beenden, sofort herbeiführen: eine wilde Erbitterung von ansteckender Kraft, die von entschlossenen Führern zu weittragenden Handlungen ausgenutzt werden kann. Der Gang der Ereignisse würde sich damit nicht dem Sinne und der Dauer, aber der Form und Starke nach entscheidend andern. Er konnte sehr blutig werden. Wir befinden uns heute in der Mitte der Bewegung mit jener unergründlichen Haltung der Massenseele, die auch in den andern großen Revolutionen den klügsten Kennern jähe Überraschungen bereitet hat. Verbirgt die gespannte Ruhe einen ungeschwächten Willen oder verrät der gereizte Lärm die Ahnung des endgültigen Mißerfolgs? Ist es für eine Aktion der Anhänger zu spät? Für eine Aktion der Gegner zu früh? Man weiß, daß Dinge, die zu einer gewissen Zeit nicht einmal berührt werden dürfen, zwei Jahre darauf von selbst fallen. Das galt 1918, das wird im umgekehrten Sinne aber auch in naher Zukunft gelten. Die Höflinge von gestern sind die Königsmörder von heute und die Königsmörder von heute die Herzöge von morgen. Niemand kann in solchen Zeiten für die Dauer seiner Überzeugung einstehen.

Aber mit welchen Zeiträumen ist hier zu rechnen? Sind es Monate oder Jahre? Der Kreislauf der deutschen Revolution steht, nachdem und wie sie einmal in Erscheinung getreten ist, in Hinsicht auf Tempo und Dauer fest. Mag niemand sie kennen, diese Faktoren sind trotzdem vorhanden in ihrer schicksalhaften Bestimmtheit. Wer sich in ihnen vergreift,[21] geht zugrunde. Die Girondisten sind so zugrunde gegangen, weil sie den Gipfel der Revolution hinter sich, aber auch Babeuf, weil er ihn vor sich glaubte. Auch das Eingreifen neuer Kriege, auch das Erscheinen einer großen Persönlichkeit würde nichts ändern. Sie würden die welthistorische Erscheinung plötzlich und vollkommen umwandeln können – was für gewöhnliche Betrachter ja allerdings alles bedeutet –, den tiefern Sinn der deutschen Revolution würden sie in seiner Wesenheit nur bestätigen. Ein großer Mann ist derjenige, der den Geist seiner Zeit begreift, in dem dieser Geist lebendige Gestalt geworden ist. Er kommt, nicht um ihn aufzulösen, sondern zu erfüllen.

Woher dieser Geist des deutschen Sozialismus stammt, soll nun entwickelt werden.

Quelle:
Oswald Spengler: Politische Schriften. München 1933, S. 18-22.
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