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[22] Sechstausend Jahre höherer Menschengeschichte liegen vor uns. Aus der Masse, die sich über den ganzen Planeten verbreitet hat, sondert sich, Geschichte im tiefern Sinne, das Schauspiel und Schicksal der großen Kulturen ab. Sie liegen vor dem Auge des Betrachters als Formenwelten von gleichartigem Bau, mächtiges Seelentum, das sichtbare Gestalt gewinnt, innerstes Geheimnis, das sich in lebendig fortschreitender Wirklichkeit ausdrückt.

Ein unveränderliches Ethos wirkt in ihnen. Es prägt nicht nur je eine ganz bestimmte Art von Glauben, Denken, Fühlen, Tun, von Staat, Kunst und Lebensordnung, sondern auch einen antiken, indischen, chinesischen, abendländischen Typus »Mensch« von vollkommen eigner Haltung des Leibes und der Seele, einheitlich in Instinkt und Bewußtsein, Rasse in geistigem Sinne, aus.

Jedes dieser Gebilde ist in sich selbst vollendet und unabhängig. Historische Einwirkungen, über deren dichtem Gewebe[22] die landläufige Geschichtsschreibung alles andre vergißt, haften am Äußerlichsten; innerlich bleiben Kulturen, was sie sind. So blühen sie am Nil und Euphrat, Ganges, Hoangho und Ägäischen Meer, in der semitischen Wüste und der nordischen stromreichen Ebene auf, die Menschen ihrer Landschaft zu Völkern heranzüchtend, die nicht Schöpfer, sondern Schöpfungen dieser Kulturen sind,1 untereinander an Geist und Sinn verschieden und sich leidenschaftlich widerstrebend: Dorer und Jonier, Hellenen und Etrusko-Römer – die Völker der altchinesischen Welt – Germanen und Romanen, Deutsche und Engländer; nach außen aber und einer fremden Kultur gegenüber sofort als Einheit wirkend: der antike, der chinesische, der abendländische Mensch.

Eine Idee ruht in der Tiefe jeder Kultur, die sich in bedeutungsschweren Urworten ankündet: das Tao und Li der Chinesen, der Logos und das »Seiende« (τὸ ὄν) der apollinischen Griechen, Wille, Kraft, Raum in den Sprachen des faustischen Menschen, der sich vor allen andern durch seinen unersättlichen Willen nach Unendlichkeit auszeichnet, der mit dem Fernrohr die Dimensionen des Weltraums, mit Schienen und Drähten die der Erdoberfläche besiegt, mit seinen Maschinen die Natur, mit seinem historischen Denken die Vergangenheit, die er seinem eignen Dasein als »Weltgeschichte« einordnet, mit seinen Fernwaffen den ganzen Planeten samt den Resten aller älteren Kulturen unterwirft, denen er heute seine eignen Daseinsformen aufzwingt – wie lange?

Denn zuletzt, nach einer abgemessenen Reihe von Jahrhunderten, verwandelt sich jede Kultur in Zivilisation. Was lebendig war, wird starr und kalt. Innere Weiten, Seelenräume werden ersetzt durch Ausdehnung im körperhaft Wirklichen, das Leben im Sinne des Meisters Eckart wird zum Leben im Sinne der Nationalökonomie, Gewalt der Ideen wird Imperialismus. Letzte, sehr irdische Ideale breiten sich aus, reife Stimmungen mit der vollen Erfahrung des Alters: von Sokrates, Laotse, Rousseau, Buddha an wendet[23] der Weg sich jedesmal abwärts.2 Sie sind alle innerlich verwandt, ohne echte Metaphysik, Wortführer praktischer abschließender Weltanschauung und Lebenshaltung, für die wir umfassende Namen wie Buddhismus, Stoizismus, Sozialismus besitzen.

1

Unt. d. Abdl. II, S. 197.

2

Unt. d. Abdl. I, S. 432 ff. II, S. 369 ff.

Quelle:
Oswald Spengler: Politische Schriften. München 1933, S. 22-24.
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