16

[48] Derselbe Gegensatz beherrscht aber auch die Wirtschaftsgesinnung beider Völker. Es ist ein verhängnisvoller Fehler der Nationalökonomie, daß sie ganz materialistisch und ohne[48] den geringsten Blick für die Vielheit wirtschaftlicher Instinkte und ihre Ausdrucksgewalt von den Wirtschaftsstufen »der« Menschheit, »der« Neuzeit, »der« Gegenwart schlechthin redet. Sie trägt da alle Schwächen ihrer englischen Herkunft an sich, denn sie ist als Wissenschaft ein Produkt des modernen Engländers mit seinem ganzen Selbstgefühl und Mangel an Psychologie, seine einzige »philosophy«, die seinem Sinn für Kampf, Erfolg und Besitz entspricht und mit der er seine rein englische Anschauung der wirtschaftlichen Praxis seit dem 18. Jahrhundert in alle Köpfe des Kontinents gepflanzt hat.

Aus dem Weltgefühl des echten Siedlers der Grenzmark, des kolonisierenden Ordens ergab sich als notwendiges Prinzip die Wirtschaftsautorität des Staates. Der einzelne erhält seine wirtschaftliche Aufgabe vom Schicksal, von Gott, vom Staate, von seinem eigenen Talent – das alles sind Worte für dieselbe Tatsache. Rechte und Pflichten der Gütererzeugung und -nutzung sind gleichmäßig verteilt. Das Ziel ist nicht die Bereicherung von einzelnen oder jedes einzelnen, sondern die Blüte des Ganzen. So haben Friedrich Wilhelm I. und seine Nachfolger in den Sumpfgebieten des Ostens kolonisiert. Sie betrachteten das als eine Mission. Gott hatte ihnen eine Aufgabe erteilt. In diesen Bahnen bewegte sich der Wirklichkeitssinn des deutschen Arbeiters mit voller Entschiedenheit. Lediglich die Theorien von Marx hinderten ihn, die nahe Verwandtschaft zwischen seinem und dem altpreußischen Wollen zu erkennen.

Der Seeräuberinstinkt des Inselvolkes versteht das Wirtschaftsleben ganz anders. Es handelt sich da um Kampf und Beute, und zwar um den Beuteanteil einzelner. Der Normannenstaat mit seiner raffinierten Technik des Geldeintreibens beruhte vollkommen auf dem Beuteprinzip. Das Feudalsystem wurde ihm in einer großartigen Weise als Mittel eingefügt. Die Barone hatten das ihnen zugeteilte Stück Land auszubeuten, der Herzog forderte seinen Anteil von ihnen. Der Endzweck war Reichtum. Gott hatte ihn den Wagemutigen gespendet. Von der Praxis dieser seßhaft gewordenen Piraten geht das moderne Rechnungswesen aus. Aus der Rechnungskammer[49] Roberts des Teufels von der Normandie (gest. 1035) stammen die Worte Scheck, Konto, Kontrolle, Quittung, Rekord und der heutige Name des englischen Schatzamtes (Exchequer).1 Als England 1066 von hier aus erobert wurde, wurden die stammverwandten Sachsen genau so von den normannischen Baronen ausgebeutet. Niemals haben ihre Nachkommen die Welt anders zu betrachten gelernt. Diesen Stil trägt heute noch jede englische Handelskompanie und jeder amerikanische Trust. Erzeugung von Einzelvermögen, von privatem Reichtum, Niederkämpfen der privaten Konkurrenz, Ausbeutung des Publikums durch Reklame, durch Preispolitik, durch Bedürfniserregung, durch Beherrschung des Verhältnisses von Angebot und Nachfrage ist das Ziel, nicht die planmäßige Hebung des Volkswohlstandes als einer Einheit. Wenn ein Engländer von Nationalreichtum spricht, so meint er die Zahl der Millionäre. »Nichts ist dem englischen Empfinden fremder als Solidarität« (Fr. Engels). Selbst in der Erholung sieht der Engländer noch eine Betätigung ganz persönlicher, vor allem körperlicher Überlegenheit. Er treibt Sport um des Rekords willen und hat einen Sinn für den seinen wirtschaftlichen Gewohnheiten verwandten Boxkampf, der deutschen Turnern innerlich ganz fremd ist.

Daraus ergibt sich, daß englisches Wirtschaftsdasein mit Handel tatsächlich identisch ist, Handel insofern er die kultivierte Form des Raubens darstellt. Diesem Instinkt gegenüber wird alles zur Beute, zur Ware, an der man sich bereichert. Die ganze englische Maschinenindustrie ist im Handelsinteresse geschaffen worden. Sie diente der Beschaffung von billiger Ware. Als die englische Landwirtschaft durch ihre Preise den Lohnkürzungen eine Grenze setzte, wurde sie dem Handel geopfert. Der ganze Kampf zwischen Unternehmer und Arbeiter in der englischen Industrie von 1850 geht um die Ware »Arbeit«, die der eine billig erbeuten, der andre teuer verhandeln will. Alles, was Marx mit zorniger Bewunderung von den Leistungen der »kapitalistischen Gesellschaft«[50] sagt, gilt vom englischen und nicht von einem allgemein menschlichen Wirtschaftsinstinkt.

Das souveräne Wort Freihandel gehört in eine Wikingerwirtschaft. Das preußische und also sozialistische Wort wäre staatliche Regelung des Güteraustausches. Damit ist der Handel im Ganzen der Volkswirtschaft aus der herrschenden in eine dienende Rolle verwiesen. Man begreift Adam Smith mit seinem Haß gegen den Staat und die »hinterlistigen Tiere, die man Staatsmänner nennt«. In der Tat, auf den echten Händler müssen sie wirken wie der Polizist auf den Einbrecher oder ein Kreuzer auf ein Korsarenschiff.

Bezeichnend ist aber auch die Überschätzung der Kapitalsmenge für das wirtschaftliche Gedeihen, die sich bei ihm findet. Daß psychologisch und ebendeshalb auch praktisch – denn das praktische Leben ist Ausdruck seelischer Bedingungen – der englische Kapitalsbegriff vom Händlerstandpunkt aus etwas ganz andres ist als der französische Rentner- und der preußische Verwaltungsbegriff, das sieht ein Materialist nicht. Psychologen sind die Engländer nie gewesen. Was sie dachten, hielten sie für Denknotwendigkeiten der »Menschheit«. Die ganze moderne Nationalökonomie beruht auf dem Grundfehler, den Sinn des Wirtschaftslebens überall in der Welt mit dem Händlerinteresse nach englischen Begriffen gleichzusetzen, auch wo man dem Wortlaut nach die Manchesterlehre verwirft; der Marxismus hat sich als reine Verneinung dieser Lehre ihr Schema vollständig zu eigen gemacht. Dies erklärt das ungeheure Fiasko aller Voraussagen für den Ausbruch des Weltkrieges, dem einstimmig der Zusammenbruch der Weltwirtschaft während weniger Monate prophezeit worden war.

Nur der Kapitalismus englischen Stils ist das Gegenstück zum Sozialismus marxistischen Stils. Der preußische Gedanke der Verwaltung des Wirtschaftslebens aus einem überpersönlichen Gesichtspunkt hatte den deutschen Kapitalismus seit der Schutzzollgesetzgebung von 1879 unwillkürlich in sozialistische Formen im Sinne einer Staatsordnung übergeführt. Die großen Syndikate waren wirtschaftliche Staaten im Staatsganzen, »der erste systematische und großzügig[51] durchgeführte und dabei ganz unbewußt entstandene praktische Versuch der kapitalistischen Gesellschaft, hinter die Geheimnisse ihrer eignen Produktion zu kommen und die gesellschaftlichen Gesetze, deren unbekannter naturhafter Gewalt man sich bis dahin blind hatte fügen müssen, zu meistern« (Lensch, Drei Jahre Weltrevolution).

Der deutsche Liberalismus, das deutsche Engländertum aber huldigt außer der freien Menschenwürde auch noch dem Freihandel. Hier erreicht die Komik seiner Erscheinung den Gipfel. Solange er zugunsten unverstandener Wikingertriebe den autoritativen Staat, das überpersönliche Wollen, die Stellung des Einzel-Ich unter das Gesamt-Ich »unentwegt« ablehnte, war er metaphysisch. Das war die Haltung des deutschen »Gebildeten« ohne praktische Begabung, des Professors, des Denkers und Dichters, aller, die schreiben statt zu handeln. Den andern Liberalismus hätten sie weder verstanden noch als sittlich anerkannt: das Räuberprinzip des freien Handels, zu dem eine Philosophie des Kampfes aller gegen alle gehört. Der Zusammenhang zwischen dem autonomen Ich in ihren abstrakten Systemen und dem in den Kontoren der großen Handelshäuser lag außerhalb ihres Gesichtskreises. Und so hat der deutsche Börsenliberalismus in aller Stille den deutschen Professor vor seinen Wagen gespannt. Er schickt ihn in die Versammlungen zum Reden und Hören, er setzt ihn in die Redaktionen, wo er mit philosophischem Geist die gründlichsten Artikel schreibt, um dem Volk der Leser, das seine unbegrenzte Gläubigkeit von der Bibel längst auf die Zeitung übertragen hat, die geschäftlich wünschenswerten politischen Überzeugungen einzuflößen, er schickt ihn ins Parlament und läßt ihn dort Nein und Ja sagen, um dem wirtschaftlichen Leben allen Theorien und Verfassungen zum Trotz immer neue Möglichkeiten des Schiebertums abzulocken. Er hat die heute überhaupt in Betracht kommende Presse Deutschlands fast ohne Ausnahme, die ganze Masse der Gebildeten, die ganze liberale Partei zu seinen Geschäftsorganen gemacht. Der Professor merkt es nicht. In England ist der Liberale aus einem Guß, ethisch [52] und deshalb geschäftlich frei und sich des Zusammenhanges wohl bewußt. In Deutschland sind es immer zwei, die sittlich liberale und die geschäftlich liberale Persönlichkeit, von denen die eine denkt und die andre lenkt und nur die zweite sich des beiderseitigen Verhältnisses lächelnd bewußt ist.2

So stehen sich heute zwei große Wirtschaftsprinzipien gegenüber. Aus dem Wikinger ist der Freihändler, aus dem Ritter der Verwaltungsbeamte geworden. Eine Versöhnung zwischen beiden gibt es nicht, und da sie beide, als Germanen und faustische Menschen höchsten Ranges, für ihr Wollen keine Grenze anerkennen und sich erst dann am Ziele glauben werden, wenn die ganze Welt ihrer Idee unterworfen ist, so wird es Krieg geben, bis eine von ihnen endgültig gesiegt hat. Soll die Weltwirtschaft eine Weltausbeutung oder eine Weltorganisation sein? Sollen die Cäsaren dieses künftigen Imperiums Milliardäre oder Weltbeamte, soll die Bevölkerung der Erde, solange dieses Imperium der faustischen Zivilisation zusammenhält, Objekt der Politik von Trusts oder von Menschen sein, wie sie am Ende des zweiten Faust angedeutet werden? Denn es handelt sich um das Schicksal der Welt. Die Wirtschaftsgedanken der Franzosen waren ebenso territorial beschränkt wie die des Renaissancemenschen. Darin unterscheiden sich das Merkantilsystem unter Ludwig XIV. und die Physiokratenschule Turgots zur Aufklärungszeit in keiner Weise von den sozialistischen Plänen Fouriers, der die »Gesellschaft« in die kleinen Wirtschaftskörper seiner Phalansterien zerlegen wollte, wie man sie noch in Zolas letzten Romanen wiederfindet. Eine Weltwirtschaft gehört zu den innersten Notwendigkeiten nur der drei echt faustischen Völker. Die ritterlichen Spanier strebten sie an, indem sie die neue Welt ihrem Reiche einverleibten. Sie haben als echte Soldaten über die Theorie ihrer wirtschaftlichen Expansion nicht nachgedacht, aber sie haben durch die geographische und politische Erweiterung des Gesichtskreises auch dem wirtschaftlichen Horizont des abendländischen Menschen[53] die Abmessungen gegeben, die solche Gedanken überhaupt ermöglichten. Die Engländer haben als erste unter dem Namen Nationalökonomie die Theorie ihrer, der ausbeutenden Weltwirtschaft geschrieben. Als Händler waren sie klug genug, um die Macht der Feder über die Menschen der büchergläubigsten aller Kulturen zu kennen. Sie redeten ihnen ein, daß die Interessen ihres Piratenvolkes die der Menschheit seien. Sie wickelten die Idee des Freihandels in die der Freiheit ein. Diese praktische Klugheit fehlte dem dritten und letzten, wieder einem echt soldatischen Volke. Was Preußen in seinem Kreise verwirklichte, wurde durch Vermittlung der weltfremden deutschen Philosophie zum Sozialismus erhoben. Aber die wahren Schöpfer erkannten ihr Geschöpf in dieser Form nicht wieder und es entstand ein erbitterter Kampf zwischen zwei vermeinten Gegnern, von denen der eine die Praxis, der andre die Theorie besaß. Heute endlich ist es Zeit, sich und die gemeinsame Aufgabe zu erkennen. Soll die Welt sozialistisch oder kapitalistisch regiert werden? Diese Frage kann nicht zwischen zwei Völkern entschieden werden. Sie ist heute in das Innere jedes einzelnen Volkes gedrungen. Wenn die Waffen zwischen den Staaten ruhen, wird man sie im Bürgerkrieg erheben. Heute gibt es in jedem Lande eine englische und eine preußische Wirtschaftspartei. Und wenn die Klassen und Schichten des Krieges müde geworden sind, werden einzelne Herrenmenschen ihn im Namen der Idee weiter führen. In den großen Entscheidungen der antiken Welt zwischen der apollinischen und der dionysischen Idee ging der peloponnesische Krieg aus dem Kriege zwischen Sparta und Athen in das Ringen zwischen Oligarchie und Demos aller einzelnen Städte über. Was bei Philippi und Aktium ausgetragen wurde, hat in der Gracchenzeit das Forum von Rom mit Blut überschwemmt. In der chinesischen Welt dauerte der entsprechende Krieg zwischen den Reichen Tsin und Tsu, zwischen den Weltanschauungen des Tao und des Li ein Jahrhundert lang. In der ägyptischen Welt verbergen sich ungeheure Ereignisse derselben Art hinter dem Rätsel der Hyksoszeit, der Herrschaft östlicher[54] Barbaren. Hatte man sie gerufen oder kamen sie, weil die Ägypter sich in innern Kriegen bis zur Ohnmacht erschöpft hatten? Wird das Abendland den Russen die gleiche Rolle übertragen? Mögen unsre trivialen Friedensschwärmer von Völkerversöhnung reden: die Ideen werden sie nicht versöhnen; der Wikingergeist und der Ordensgeist werden ihren Kampf zu Ende führen, mag auch die Welt müde und gebrochen aus den Blutströmen dieses Jahrhunderts hervorgehen.3

1

Unt. d. Abdl. II, S. 459.

2

Unt. d. Abdl. II, S. 496 ff.

3

Unt. d. Abdl. II, S. 518 ff.

Quelle:
Oswald Spengler: Politische Schriften. München 1933, S. 48-55.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Politische Schriften
Politische Schriften

Buchempfehlung

Hoffmann, E. T. A.

Die Serapionsbrüder

Die Serapionsbrüder

Als Hoffmanns Verleger Reimer ihn 1818 zu einem dritten Erzählzyklus - nach den Fantasie- und den Nachtstücken - animiert, entscheidet sich der Autor, die Sammlung in eine Rahmenhandlung zu kleiden, die seiner Lebenswelt entlehnt ist. In den Jahren von 1814 bis 1818 traf sich E.T.A. Hoffmann regelmäßig mit literarischen Freunden, zu denen u.a. Fouqué und Chamisso gehörten, zu sogenannten Seraphinen-Abenden. Daraus entwickelt er die Serapionsbrüder, die sich gegenseitig als vermeintliche Autoren ihre Erzählungen vortragen und dabei dem serapiontischen Prinzip folgen, jede Form von Nachahmungspoetik und jeden sogenannten Realismus zu unterlassen, sondern allein das im Inneren des Künstlers geschaute Bild durch die Kunst der Poesie der Außenwelt zu zeigen. Der Zyklus enthält unter anderen diese Erzählungen: Rat Krespel, Die Fermate, Der Dichter und der Komponist, Ein Fragment aus dem Leben dreier Freunde, Der Artushof, Die Bergwerke zu Falun, Nußknacker und Mausekönig, Der Kampf der Sänger, Die Automate, Doge und Dogaresse, Meister Martin der Küfner und seine Gesellen, Das fremde Kind, Der unheimliche Gast, Das Fräulein von Scuderi, Spieler-Glück, Der Baron von B., Signor Formica

746 Seiten, 24.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon